Eine syndikalistische Achterbahnfahrt. Syndikalismus in Schweden
Stell dir vor, du nimmst eine der europäischen Millionenstädte, wie London, Istanbul, Moskau oder Berlin, hebst sie wie einen großen Teller mit einem Raumschiff hoch und lässt sie irgendwo aus dem Weltall wieder auf die Erde fallen, wo sie in tausend Einzelteile zerbricht und sich großflächig verteilt: Das ist Schweden. Neben den neuneinhalb Millionen EinwohnerInnen, findet man hier alles und ein bisschen mehr, was die großen Städte auch zu bieten haben, allerdings mit endlosen dunklen Wäldern dazwischen. So gesehen ist die syndikalistische Bewegung in Schweden, bestehend aus der Gewerkschaft SAC (Sveriges Arbetares Centralorganisation) und der anarchosyndikalistischen Jugendföderation SUF (Syndikalistiska ungdomsförbundet), relativ erfolgreich. Die ungefähr 5000 Studierenden und ArbeiterInnen, die sich hier organisieren, bilden zusammen eine größere Zahl, als beispielsweise alle organisierten SyndikalisInnen in Paris.
So schön der Vergleich vom Anfang ist, in der Geschichte Schwedens spielen Raumschiffe und fliegende Teller keine große Rolle. Folglich ist es also die Geschichte selbst, die wir uns anschauen müssen, um zu verstehen warum die syndikalistische Bewegung Schwedens heute so ist wie sie ist.
Kontinuität und Entwicklung der SAC
Die Idee des Syndikalismus kam in Schweden schon früh auf, aber der endgültige Schritt eine Gewerkschaft zu gründen, wurde erst 1910 unternommen. Kurz gesagt war die SAC ein Resultat des missglückten Generalstreiks im Jahr zuvor: Sie entstand durch jene ArbeiterInnen, die mit der sozialdemokratischen Gewerkschaft LO (Landsorganisationen i Sverige) brachen, indem sie den Streik fortführen und ihn für eine Revolution nutzen wollten. 14 Jahre später sollte die SAC mit rund 40.000 ArbeiterInnen ihren höchsten Mitgliedsstand erreichen. Zu dieser Zeit erhöhte sich ihre Bedeutung noch dadurch, dass sie in wichtigen Regionen des Landes, wie dem nordwestlichen „Timerland“, bei Weitem die dominanteste Gewerkschaft war. Anders als viele ihrer Geschwisterorganisationen besteht die SAC durchgehend seit ihrer Gründung. Schweden wurde weder von den Nazis, noch von der Sowjetunion besetzt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Gewerkschaften konnte sie somit einem Verbot entgehen. Dieser Umstand lässt es zu, Entwicklungslinien ausgehend von ihrer Gründung bis heute zu ziehen: So ist es ein Kontinuum der syndikalistischen Bewegung, dass sie immer unter den prekären ArbeiterInnen den stärksten Zulauf fand. Heutzutage sind beispielsweise primär Putzkräfte, PflegerInnen und KellnerInnen organisiert. Außerdem machen mittlerweile Frauen, Jugendliche und ImmigrantInnen einen großen Anteil der Mitglieder aus. Ein Zustand, der von einem radikalen Wandel in der Mitgliederstruktur zeugt, denn noch vor einem Jahrhundert, zu Entstehungszeiten der SAC, war sie von männlichen Mitgliedern dominiert, die meist als Waldarbeiter, Hilfsarbeiter oder Bau- und Mienenarbeiter beschäftigt waren.
Der Niedergang der SAC
Mit der Zeit begannen allerdings genau diese „traditionell“ von SyndikalistInnen organisierten Berufsgruppen zu schrumpfen, bis schließlich schwere körperliche Arbeit weitestgehend durch maschinelle ersetzt war. Die SyndikalistInnen versäumten es während dieser Zeit sich mehr in den Berufsfeldern der modernen Industrie zu engagieren. Zügig wurden sie hier von der Hegemonie der LO, einem sozialdemokratischen Dachverband von Einzelgewerkschaften (vergleichbar mit dem DGB), verschluckt. Dies ist vielleicht der Hauptgrund warum die SAC während ihrer über hundertjährigen Existenz vor allem mit einer fallenden Mitgliederzahl zu kämpfen hat. Hinzu kamen allerdings noch zunehmende Repression der herrschenden Klasse und offene Anfeindungen der dominierenden sozialdemokratischen Bewegung.
Syndikalismus in den 70ern und 80ern
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zerbrach die syndikalistische Bewegung in fast ganz Europa. Syndikalistische und anarchistische Positionen sahen sich vor allem während der sogenannten „roten 70er Jahre“ durch das Getöse übertönt, welches einige sozialistische Gruppen und Parteien um die marxistisch-leninistischen Diktatoren ihres Herzens machten. 1980 war die SAC zu einer AktivistInnen-Organisation zusammengeschrumpft, in der nicht mehr der Arbeitskampf zentrales Praxisfeld war, sondern feministische oder umweltpolitische Themen.
Reorganisierung und die anarchistische Wiederentdeckung
Die neunziger Jahre stellten in vielerlei Hinsicht eine Zeit der Veränderung dar, genaugenommen war es der Zeitraum von 1989 bis 2001. Zwar war auf der einen Seite das sowjetische Imperium samt seiner Freunde verschwunden, doch auf der anderen Seite bekamen faschistische Gruppierungen neuen Zulauf. Das Platzen der sogenannten Dotcom-Blase, einer Spekulationsblase des Finanzmarktes, hatte eine Wirtschaftskrise auch in Schweden ausgelöst. Die darauf folgende Wut und Frustration in der Bevölkerung hatten rassistische und faschistische Gruppen für sich nutzen können. Doch die Präsenz faschistischer Elemente mobilisierte auch die militante Antifabewegung, nach dem Beispiel der deutschen AFA, sowie eine breite Massenbewegung gegen Rassismus. Als Folge der Ermordung des Syndikalisten Björn Söderberg durch schwedische Nazis, arbeiteten die LO und die SAC schließlich sogar kurzzeitig zusammen – ein historischer Ausnahmefall. Mit der Wirtschaftskrise Schwedens offenbarte sich allerdings auch das Scheitern des sozialdemokratischen Projekts. Ein Umstand, durch den anarchistische und libertärsozialistische Gruppen neue Energie schöpften und wieder zu einer ernsthaften politischen Kraft werden konnten.
Und wenn ihr kommt, dann schießen wir
Die 1990er Jahre endeten für Schweden und die schwedischen revolutionäre Linke mit schweren Ausschreitungen in Göteburg im Jahr 2001. Zwar hatten sich Antiglobalisierungs- und Gipfelkrawalle von AnarchistInnen schon zuvor zu einer Kontinuität entwickelt, doch als bekannt wurde, dass die Köpfe der EU einen Kongress in Göteburg abhalten würden und dass dieser auch noch von George W. Bush besucht werden würde, begann eine intensive Planungs- und Vorbereitungszeit – auf beiden Seiten. Allerdings hätte niemand gedacht, dass die schwedische Polizei dann so brutal vorgehen würde, wie sie es an diesen chaotischen Tagen in Göteburg tat. Das erste Mal seit 70 Jahren wurde scharfe Munition gegen Demonstrierende eingesetzt – das Land und die Bewegung wurden in einen Schockzustand versetzt. Der schwedische Staat zeigte sich schließlich als genauso brutal wie jeder anderer Staat auch: Es war offensichtlich, dass er all seine Macht benutzen würde, um sich und den Kapitalismus zu verteidigen. Den AktivistInnen wurde schlagartig bewusst, dass sie den Staat nicht nur mit Steinen und Molotowcocktails schlagen konnten.
Die Hinwendung zum Alltagsleben
Die Entwicklung, die daraufhin folgte, nennen wir „die Hinwendung zum Alltagsleben“. Natürlich war dies keine vollständige Wende: Nicht jede/r gab die Ideale der 90er – Umwelt, Antifaschismus und Tierbefreiung – zu Gunsten des „neuen“ eher materialistischen Konzepts des antikapitalistischen Kampfes auf. Die Diskussionen und die Selbstkritik, die nach Göteburg 2001 einsetzten, führten dazu, dass sich die autonome Linke spaltete. Die syndikalistische Bewegung wurde nun reizvoll für diejenigen, die der neuen Strategie folgen wollten. Aber, welche bessere Möglichkeit als die des Syndikalismus kann es auch geben, sich im Alltagsleben zu organisieren und damit den Klassenkampf wieder an den Arbeitsplatz zu bringen? Eine Frage, die viele nun für sich zu beantworten wussten.
Originaltext: Dieser Artikel ist in der dreizehnten Ausgabe (März/April 2013) des Schwarzen Kleeblatts erschienen. Er ist hier zu finden: http://schwarzeskleeblatt.blogsport.eu/2013/02/17/eine-syndikalistische-achterbahnfahrt/