Karl Roche - Einheitslohn und Arbeitersolidarität (1919)

Die deutsche Arbeiterklasse war für die Novemberrevolution nicht geistig vorbereitet. Die sozial­demokratische Arbeiterbewegung hatte die Aufgabe, die Arbeiterklasse für die soziale Revolution reif zu machen. Sowohl die Partei wie auch die zentralen Gewerkschaften haben für diesen Zweck versagt. Sie parlamentierten mit den herrschenden Klassen, sie schufen mit ihnen gemeinsam Gesetze für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ausbeutung. Die Gewerkschaften schlossen Lohnverträge mit dem Unternehmertum ab und erkannten damit die Rechtmäßigkeit der Lohnarbeit an. Damit führten sie die Arbeiter zum bürgerlichen Denken, anstatt sie zum revolutionären, sozialistischen Denken zu erziehen.

Der Kapitalismus entwickelte sich zum Imperialismus. Der Zusammenprall der nationalen kapitalistischen Interessen wurde unvermeidlich. Der Weltkrieg kam. Er fand in allen krieg­führenden Länder die Lohnsklaven auf der Seite ihrer wirklichen Feinde: der Ausbeuter. Die Arbeiterführer schlossen „Burgfrieden“ mit den Todfeinden des Sozialismus. Der Ausbruch der größten Unordnung, welche die Welt je gesehen, fand die Arbeiter ordnungsliebend im Sinne des Massenmordes. Sie ließen das furchtbarste Unglück über sich ergehen, mordeten einander, zerstörten die Kulturen.

In diesem furchtbaren kapitalistischen Ringen um die Herrschaft auf der Erde mußte das kapitalistische Wirtschaftssystem ins Wanken geraten. In den unterliegenden Staaten mußte die Wirtschaft zusammenbrechen. Das geschah in Rußland, Deutschland, Österreich-Ungarn und den Balkanstaaten. Hier brach als Folge der militärischen Niederlage die festeste Stütze des Kapitalismus: der Militarismus selbst zusammen. Der Kadavergehorsam schlug um in Haß gegen die Peiniger: die Offiziere. Die Soldaten begannen die Revolution.

Der historische Moment zur sozialen Revolution war für die Lohnarbeiter gekommen. Und die Arbeiterklasse versagte: sie mußte versagen, weil ihr Denken nicht dafür vorbereitet war.

Nur in Rußland hatte die Revolution sofortigen sozialen Erfolg. Hier hatte sozialdemokratische Parteidoktrin die Arbeiterhirne nur wenig verwirren können. Dort siegte die Arbeit. Der Räte­gedanke wurde zur Tat, die Räterepublik konnte geschaffen werden.

Sie wird sich durchsetzen, denn es ist eine natürliche Notwendigkeit, daß die Arbeit in der Gesellschaft herrscht und nicht die Faulheit.

Auch Deutschland muß eine Räterepublik werden. Solange wird der Bürgerkrieg toben. Die soziale Revolution muß gegen das Bürgertum, gegen die sozialdemokratische Führung und gegen den bürgerlich denkenden Teil der Arbeiter geführt werden. Was die Sozialdemokratie versäumte, was die Arbeiterklasse in der Novemberrevolution mit leichteren Mitteln nicht erreichen konnte, das muß nun mit den Kampfmitteln der direkten Aktion durchgesetzt werden. Daß Arbeiter gegen Arbeiter um den Sozialismus kämpfen müssen, ist fürchterlich. Aber es ist unabänderlich, wenn es nicht gelingt, das Zauberwort Solidarität in die Mehrheit der Arbeiterhirne hineinzuhämmern.

Müssen wir uns noch einmal – noch für eine Übergangszeit – mit der Lohnarbeit abfinden, so haben wir an das Unternehmertum, an den Staat wirtschaftliche Forderungen zu stellen, die auf dem Wege zum Sozialismus liegen. Und eine Forderung von eminent sozialistischer Bedeutung ist der Einheitslohn.

Der Einheitslohn ist ein Stück Sozialismus: er ist sowohl geeignet, die Hindernisse, welche der Arbeitersolidarität im Wege stehen, wegzuräumen, wie auch die werktätige Menschheit für die sozialistische Gleichheit vorzubereiten. Der Einheitslohn ist auch zugleich ein Prüfstein des sozialistischen Denkens. Die Propaganda dieses Gedankens ist Erziehungsarbeit für den Sozialismus. Eingewurzelten Kastengeist und Klassendünkel beseitigt diese Propaganda.

Die neuere Wirtschaftsgeschichte kennt keine freie und freiwillige produktive Arbeitsleistung. Im Altertum waren die Arbeitenden persönliches Eigentum der Grundbesitzer oder Pächter. Oft waren auch die Pächter selbst Sklaven. Im Mittelalter waren die Hörigen sachliches Eigentum; sie wechselten ihre Herren mit der Scholle, die sie bebauten. Sklaverei, Leibeigenschaft und Hörigkeit wurden mit dem Naturallohn abgefunden.

Der moderne Kapitalismus muß unbeschränkte Bewegungsfreiheit haben, die Arbeiter abstoßen und heranziehen können, wie gerade das Profitinteresse es erfordert. Darum ist der Proletarier persönlich frei. Auch in dem Sinne frei, daß der Unternehmer gar keine Verpflichtungen mehr gegen ihn hat, wenn er nur den Grundlohn zahlt.

Die Form der Entlohnung hat sich geändert; die Sklaverei ist geblieben. Immer waren die Produktionsmittel (Acker, Fabriken, Maschinen, Rohstoffe, Lebensmittel) das Privateigentum einiger Weniger. Immer waren die Massen bei Strafe des Verhungerns gezwungen, für die Drohnen zu fronden.

Naive Seelen mögen das Wort Lohn von Belohnung ableiten, daraus schließen, daß dem Arbeiter für seine der Gesellschaft geleistete Wohltat Anerkennung und Dankbarkeit gezollt wird. Das wäre ein recht gefährlicher Irrtum. Der Unternehmer zahlt nicht mehr, wie er muß. Er mag persönlich ein ganz vortrefflicher Mensch sein, jedoch sentimentaler Arbeiterfreund darf er nicht sein. Er läßt arbeiten, um neues Kapital anzuhäufen. Und er hält sich für den rechtmäßigen Besitzer des ganzen von „seinen“ Arbeitern erzeugten Gutes. Es ist ein feststehender Rechtsgrundsatz der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, daß der Arbeiter für seine Arbeitsleistung nur entschädigt zu werden braucht. Nur der Schaden, den er durch die Anwendung von Hirn- und Knochenmark erleidet, soll ihm ersetzt werden. Der Lohn soll nicht höher sein, als daß er die Ausgaben für den Lebensunterhalt bestreiten kann. Auch die Arbeitskraft ist ja nur Ware. Der Lohn darf nie eine Höhe erreichen, daß die Arbeiterklasse des Zwanges ledig würde, gegen Lohn arbeiten zu müssen.

Der Hunger ist die Peitsche, die das Kapital auf den Arbeiter sausen läßt, damit er bis zum Zusammenbrechen weiterarbeite, die Uneinigkeit der Arbeiterschaft mit sich selbst ist der Skorpion, mit dem sie gepeinigt wird, damit sie sich nicht empöre. Die Geißel Uneinigkeit muß der Unternehmer trachten, möglichst zähe und einschneidend zu erhalten, denn sie ist ihm ein wichtiges wichtiges Mittel, sich vor der Empörung der Arbeiter zu sichern, sein Herrentum über die Arbeiterschaft zu behaupten. Und dazu dient ihm die Abstufung der Löhne. Der Klassenlohn läßt die Solidarität der Arbeiter nicht hochkommen.

Und doch ist die Klassensolidarität das Haupterfordernis für ihren Tageskampf um bessere Lohn- und Arbeitsverhältnisse, wie für die Beseitigung der Lohnsklaverei überhaupt durch Abschaffung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und Errichtung des sozialistischen Kommunismus. Wie der einzelne Unternehmer oder der Betrieb, so ist auch der Arbeiter oder die Arbeiterschaft eines Betriebes an dem kapitalistischem Ganzen gebunden, das im Staat seine Machtmittel über die Arbeiterklasse zusammenfaßt. Die direkt wirkenden Machtmittel des Staates über die Arbeiter sind: Militär, Bürokratie, Gerichte, Polizei, Gefängnisse; die indirekt wirkenden sind: Kirche, Schule, Erziehung.

Der sich seiner Menschenwürde bewußt werdende Arbeiter erkennt im Spiegel der Kultur, die er mit geschaffen, sich als Sklaven und sucht das Joch abzuschütteln. Er will als Arbeiter nicht nur persönlich frei, sondern auch sozial gleich und vollwertig sein. Er kommt zu der weiteren Erkenntnis, daß die Ursachen seiner Unterdrückung und Ausbeutung in der widernatürlichen Bewertung der Arbeit liegen. Er erfährt, daß es die Gesellschaftsordnung ist, die ihn zur Sklaverei verdammt, die eine himmelschreiende Unordnung darstellt dadurch, daß die Faulheit und die nicht Werte schaffende Arbeit über den Fleiß und die Produktivität nicht nur gebieten und herrschen, sondern auch Lebensgenüsse haben, an die der Arbeiter gar nicht denken darf. So wird der Arbeiter Sozialist. Er will einen Gesellschaftszustand der natürlichen Ordnung herbeiführen. Die werteschaffende Arbeit soll der Souverän und der höchste Adel sein. Der Begriff Arbeiter soll verschwinden; es soll jeder dazu Fähige arbeiten und jeder Arbeitende soll gleichwertiger Mensch sein. Es gilt eine ganze Welt von Unrecht und Gewalt zu beseitigen, es gilt, die Mehrheit der Arbeiter zum sozialistischen Denken zu führen, es gilt ein einigendes Band des Wollens und Handelns um die ganze Menschheit zu schlingen. Und dieses Band heißt Solidarität.

Staat und Unternehmertum bieten alle ihre Machtmittel auf, die Arbeitersolidarität zu verhindern. Darum teilen sie die Arbeiter in Klassen, zahlen ihnen unterschiedliche Löhne, behandeln sie nach verschiedenen Grundsätzen. Künstlich teilen sie die Lohnsklaven in Hand- und Kopfarbeiter, in Festbesoldete und Diätare, in Tüchtige und Mindertüchtige, in Gelernte, Angelernte und Ungelernte. In der praktischen Kalkulation der Gesamtarbeitsleistung eines Betriebes aber kommen diese Unterschiede gar nicht in Frage. Die Lohnkosten müssen auf eine Durchschnittslinie gebracht werden, soll die Berechnung den Tatsachen entsprechen. Und die niedrigeren Löhne dienen dazu, diese Durchschnittslinie herunterzudrücken.

Zwischen Kopf- und Handarbeit machen Staat und Unternehmertum eine Trennungslinie. Wenn möglich eine Kluft, welche die Arbeitersolidarität nicht überbrücken kann. Bisher geschah das leider mit gutem Erfolge für die Ausbeuter. Schon die Schule stellt sich in deren Dienst.

Ohnehin entstammen die Kopfarbeiter Volksschichten, die der Arbeiterbewegung feindlich gegenüberstehen. Es sind die halbproletarisierten Mittelschichten, denen der Kapitalismus die wirtschaftliche Selbständigkeit genommen, denen der Glaube an eine Wiedererweckung früherer Zustände immer noch nicht geschwunden ist. Politisch sind sie konservativ und liberal zugleich. Je nach den Versprechungen, die ihnen gemacht werden, kehren sie einmal den Erzreaktionär und ein anderes Mal womöglich den Revolutionär heraus. Mit Reförmchen muß der Staat sie bei der Regierungsstange halten, denn sie sind bei Wahlen seine Prätorianergarde gegen die Arbeiter.

Aus solchem Milieu geht die staatliche Bürokratie, geht die Werkbürokratie (technische und kaufmännische Angestellte) hervor.

Die Schule gibt ihnen den ersten Drill. Unteroffiziersgesinnung, Ueberhebung, Servilität nach oben, Brutalität nach unten, Leutnantallüren bestimmen ihren Charakter. Nur Wenige ringen sich zur inneren Freiheit durch, nur Wenige verstehen es, mit den Arbeitern freimütig zu verkehren, nur Wenige sind dem Solidaritätsgefühl mit den Arbeitern zugänglich. Es sind Halbgebildete, deren Charakterbildung auf Kosten der Berufsbildung vernachlässigt wurde. Sie sind für den Ausbeuter, für den Staat wie ein „gefundenes Fressen“. Ihre Gesinnung kaufen, kostet nicht gar so viel.

Der Lohnunterschied mit den Arbeitern ist jetzt vielfach zuungunsten der „Beamten“ ausgeschlagen. Sie werden durch mehr psychologisch wirkende Mittel von den Arbeitern abge­sondert. Man räumt ihnen ein nachgemachtes Herrenrecht ein. Das Gesetz zieht eine Scheidelinie. Sie haben ein besonderes Beamten- und Angestelltenrecht. Sie werden als staatliche Bürokraten auf Lebenszeit mit der Aussicht auf gute Pensionen angestellt. Die Werkbürokratie darf erst nach vorhergegangener Kündigung entlassenen werden. Bei Krankheit haben sie nebst Krankengeld während sechs Wochen Gehalt zu beanspruchen. Feiertage erhalten sie bezahlt. Ferien, Weihnachts­gratifikationen sind besondere Vergünstigungen.

Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß das Beamtentum der Gegenwart nicht für Solidarität mit den Arbeitern zu haben ist. Sie wollen auf sich das Wort Arbeiter nur bildlich angewendet wissen. Sie sind im innersten Mark gegenrevolutionär und stellen sich jeder Herrschaftsgewalt über die Arbeiter zur Verfügung.

Damit muß die Arbeiterklasse rechnen. Es ist nicht fortzudisputieren, daß dieser sogenannte neue Mittelstand ein gefährliches gegenrevolutionäres Element ist.

Aber die Arbeiter haben die Macht, die vom Gesetz im Interesse des Kapitals künstlich errichteten Schranken niederzureißen. Sie müssen als Lohnarbeiter dieselben wirtschaftlichen Vergünstigungen fordern und durchführen, die den Angestellten und Beamten gewährt werden. Gleiche Arbeitszeit, gleiche Ferien, gleiche Entlohnung bei Krankheit, gleiches Ruheeinkommen im Alter! Und gleiche Entlohnung mit den vermeintlich Hohen und Höchsten!

Ich sehe manchen Arbeiter beim Lesen der letzten Forderung den Kopf schütteln.

Der Direktor, der Professor, der Minister sollen nicht besser bezahlt werden als der Straßenkehrer! Nein, das sollen sie nicht! Und zumal nicht in der Jetztzeit, wo nur soviel Lebens- und Unterhalts­mittel vorhanden sind, daß jeder auch nicht den notwendigsten Anteil abbekommen kann. Die sozialdemokratischen und bürgerlichen Regierungsstrategen wollen uns doch aufreden, wir sind nun ein Volk, vereint in Not und Tod. Wenn es allen Regierenden ernst wäre mit dem „Durchhalten“, das sie immer noch den Arbeitern vorpredigen, dann müßten sie ehrlicherweise auf jede höhere Entlohnung verzichten. Gerade die gegenwärtige Lebensmittelknappheit, die in Deutschland noch Jahre andauern wird, schreit nach dem Einheitslohn. Das wäre der erste Schritt zu einer wirklich sozialen Gerechtigkeit, einer Sozialisierung, für die das zusammengebrochene Wirtschaftssystem ganz zweifellos reif ist.

Wenn es leider noch Arbeiter gibt, die über solche „vermessene“ Forderung staunen, dann liegt das nicht an der Forderung, sondern an den Arbeitern. Die tausendjährige Sklavenarbeit hat in den Arbeiterhirnen eine Unterwürfigkeit und Selbstentsagung vererbt, mit der die Revolution aufräumen muß. Wir haben uns als gleichberechtigt mit jedermann zu betrachten. Jedem frei in die Augen sehen, niemanden gewolltes Unrecht zufügen, aber auch jedes uns zugefügte Unrecht abwehren, nichts für sich beanspruchen, was die der Gesellschaft geleistete Arbeit nicht hergeben kann, aber auch auf nichts verzichten, was sie geben kann. Das ist das Alfa und Omega aller sozialen Gleich­berechtigung. Und für die Herbeiführung dieser Gleichberechtigung ist der „Einheitslohn“ eine unabweisbare Notwendigkeit.

Die Revolution wirft Probleme auf, an die vorher nur Wenige gedacht haben und verlangt gebieterisch deren Lösung. Manchen Arbeitern ist der Einheitslohn noch gar nicht einmal ein ange­nehmes Problem, denn sie fürchten, dabei könnten sie für sich zu kurz kommen. Vielleicht sind sie „gelernte“ Arbeiter, vielleicht fühlen sie sich fähig, tüchtig, geschickt und stark. Das sind selbstsüchtige Phrasen, mit denen der Kapitalismus die Arbeiter­solidarität jahrhundertelang zerrissen hat! Der Unternehmer bezahlt gar nicht den Tüchtigen und Geschickteren besser! Er bezahlt ihm nicht den Wert seiner Mehrleistung! Er gibt ihm nur einige Groschen mehr, um den Neid der anderen scharf zu halten und den Bevorzugten zur Ueberhebung zu verleiten. Welcher Arbeiter sich dadurch ködern läßt, der denkt und handelt unsozialistisch. Sozialismus bedeutet die Arbeitsleistung des einen für alle und die aller für einen. Eine besondere Bevorzugung des einen vor dem anderen schließt der Sozialismus aus. Sozialismus gebietet jedem die Pflicht, nach bestem Können für die Allgemeinheit zu wirken und zu streben und gewährt jedem die gleichen Rechte – auch am Lebensunterhalt, auch an den Kultur­genüssen. Sollte der Geschickte und der Fähigere Sonderrechte erhalten, dann wäre der Sozialismus unmöglich.

Aber noch haben wir den Sozialismus nicht. Wir wollen erst „sozialisieren“. Das heißt: die Produktionsmittel aus dem Privatbesitz in den Besitz der Allgemeinheit überführen und sie den Arbeitern nur zur treuen Verwaltung und Verwertung für die Allgemeinheit übergeben. Wir müssen erst Ausbeutung und Unterdrückung beseitigen, um eine natürliche Weltordnung aufbauen zu können. Und das Wichtigste, um alles dieses Große und Weltbewegende in die Wege leiten zu können, ist, daß wir die antisozialistischen Arbeiterschädel sozialisieren. Welches Mittel wäre dafür handgreiflicher, aufdringlicher, als der Einheitslohn!

Ein Teil der Arbeiterschaft hält die Klassenlöhne für selbstverständlich, für unabänderlich. Vor allem soll der zunftgemäß gelernte Arbeiter einen größeren Anspruch auf Entlohnung haben, als der „Ungelernte“. Solche Unterscheidung ist der Arbeiterschaft von den Kapitalisten und deren Nutznießern und Zuhältern aufsuggeriert worden. Die gelernten Arbeiter sollten hypnotisiert werden mit der fixen Idee, sie seien etwas Besseres, seien vollwertiger und würden dementsprechend auch besser entlohnt. Das ist eine blanke Unwahrheit, denn der Kapitalismus bezahlt die Arbeitskraft immer so billig wie möglich und pfeift auf Zunft und Lehrberuf. Im Gegenteil: Die Lehrzeit ist für den jugendlichen Arbeiter die zeit seiner schlimmsten Sklavenschmach. Wenn die Bürgersöhne noch spielen, tollen und sich austoben, in der Zeit vom 14. bis 18. Lebensjahre, dann ist der jugendliche Arbeiter in die Fesseln des Lehrvertrages gelegt. Schamlos wird seine noch in der Entwicklung befindliche Kraft für Privatzwecke ausgebeutet, und oft muß er dabei hungern und wird geschlagen. Daß er im Berufe ein tüchtiger Mensch wird, darum kümmert sich ja niemand. Dem Unternehmer ist er Ausbeutungsobjekt, dem erwachsenen Mitarbeiter ist er ein heranwachsender Konkurrent. Die eigentliche Lehrzeit beginnt auch für ihn erst dann, wenn er seine Arbeitskraft als Ware auf den Markt bringt und selbständig den Kampf ums Dasein aufnehmen muß. Und in den verhältnismäßig seltenen Fällen, wo der Ausgelernte tüchtig in seinem Berufe wurde, da hat er kein Anrecht auf besondere Bevorzugung. Denn, dass er in die Lehre kam, war nicht sein persönliches Verdienst: er dankt es seinen Eltern oder Erziehern. Da höre ich den tausendfachen Einwurf: „Ja, dann wird niemand mehr seine Kinder lernen lassen, dann bleiben alle Fähigkeiten unentwickelt, dann geht die Ergiebigkeit der Arbeit zurück und damit wäre der Sozialismus abgetan.“ Gemach! Die Ergiebigkeit der kapitalistischen Arbeit ist verhältnismäßig beschränkt, weil nicht der allgemeine Nutzen, sondern das Profitinteresse des Besitzenden entscheidet. Und der Kapitalismus hat auch nur ein beschränktes Interesse an der Entfaltung aller produktiven Fähigkeiten der Jugend. Der Staat hat deren Fortentwicklung mehr gehindert denn gefördert. Was der Sozialismus leisten wird, wenn alle Kräfte des Menschen natürlich entwickelt und alle Menschen produktiv tätig sein werden, davon können wir heute nur erst träumen.

Die Heranbildung der Jugend zum Nutzen der Allgemeinheit ist nicht Sache der Familie, sondern des Gemeinwesens: der Kommune. Das Erziehungsziel der Schule muß sein, die harmonische Entfaltung aller physischen und geistigen Kräfte, denn in der sozialistischen Kommune muß jedermann möglichst Kopf- und Handarbeiter zugleich sein. Fachschulen für besondere Befähigung, Arbeitsschulen für geistig Zurückgebliebene, kommunalisierte Betriebe für Berufsausbildung schließen sich der Einheitsschule an. Wer durch die Mittel der Allgemeinheit befähigt ist, besondere Funktionen ausüben zu können, darf darum keine besondere Entlohnung fordern. Welchen Schritt wir auch in den Sozialismus hineinwagen, der Einheitslohn verläßt uns nicht. Der Einheitslohn ist Sozialisierung und Sozialismus zugleich.

Die Unterscheidung zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern ist auch in der kapitalistischen Produktionsweise eine rein willkürliche. In unserer Zeit der Maschine, des mechanischen Werkzeuges gibt es kaum noch ungelernte Arbeiter. Im allgemeinen hat die technische Entwicklung dem „gelernten“ Arbeiter seine Vorrechte genommen und hat den „ungelernten“ auf gleiches Wertmaß gebracht. Der junge Arbeiter, der mit 14 Jahren sich selbst überlassen und auf den Arbeits­markt geworfen wird, muß nicht auch er lernen! Er kommt aus einem Beruf in den anderen und lernt sogar mehr wie während einer formellen Lehrzeit. Wir erleben es ja, dass sich die Arbeiter großer Berufe dieser „Eindringlinge“ durch Klassenlöhne zu erwehren suchen. Ein unsolidarisches, unsozialistisches Beginnen!

Betrachten wir die notwendige und natürliche Arbeitsleistung: Die Landarbeit. Der moderne Pflug, die Drillmaschine, die Mähmaschine, die Dreschmaschine machen nicht nur die Arbeitsleistung produktiver, sie heben auch die Fertigkeiten des Landarbeiters zum Teil auf. Heute gibt es auf dem Lande nicht mehr viele Arbeiter, die mit der Hand säen und mit dem Flegel dreschen können. Man kann aber darum noch nicht jeden Unerfahrenen an die landwirtschaftlichen Maschinen zur Arbeit stellen. Die Bedienung jeder Maschine erfordert eine gewisse Verstandes­bildung und eine Summe persönlicher Erfahrung. Es will eben alles gelernt sein. Und vollends die Ackerkrume! Sie ist wie ein lebendiger Organismus; sie will gehegt und gewartet werden wie ein heranwachsendes Kind, soll sie gute Früchte tragen. Dasselbe gilt für die Pflege der Haustiere. Sonach hat der gewerbliche und Industriearbeiter keine Bevorrechtigung vor dem Landarbeiter. Der Einheitslohn macht nicht halt vor bunten Wiesen und fruchtbaren Feldern.

In den gewerblichen und Industriebetrieben sind die Klassenlöhne vollends widersinnig und den Unternehmern nur ein allerdings wirksames Mittel, den Neid der Arbeiter gegeneinander immer wieder zu beleben, sie gegeneinander zu hetzen. Die Solidarität zu untergraben, die Organisationen zu schädigen. Hier ist jeder Arbeiter „gelernt“, denn Leute ohne Erfahrung und Kenntnisse der betreffenden Branche werden höchst ungern und nur in Zeiten großer Arbeiterknappheit eingestellt. Und diese Knappheit ist fast nie vorhanden. Gerade die in den Industrien angewendete hochent­wickelte Technik hat ja Millionen Arbeitern ihre erlernte Handfertigkeit nutzlos gemacht, hat sie für immer der Möglichkeit beraubt, eine selbständige Wirtschaftsexistenz begründen zu können. Die Arbeiter eines Berufs, eines Betriebes haben alle dieselben Lebensgewohnheiten, dieselben Bedürfnisse. Also müssen sie auch den Einheitslohn erhalten. Natürlich einen Einheitslohn, wie ihn sich die Herren Unternehmer und Bürokraten wünschen würden, müßten sie produktive Arbeit verrichten. Der Einheitslohn macht alle gleich „arm“. Gut, die Wirkung soll er auch haben, denn „reich“ und „arm“ sind ja die materiellen Resultate der Ausbeutung und Unterdrückung. Wir Armen haben doch kein Interesse daran, dass die Reichen auf unsere Kosten immer reicher werden. Der Einheitslohn soll so bemessen werden, dass alle nützlich Tätigen, Kranken und Arbeitslosen den gleichen Anteil an den vorhandenen Gebrauchsgütern haben können. Das wird dann wirtschaftliche Gleichheit sein.

Die Gesellschaft begeht ein barbarisches Verbrechen an den erkrankten und unfähig gewordenen Arbeitern, wenn sie ihnen nur einige Mark Krankengeld, Invaliden- oder Altersrente gewährt. Kranke Menschen brauchen doch sogar mehr, denn Gesunde. Alte und Invaliden haben sich für den allgemeinen Wohlstand geopfert – der Staat mit der sozialen Krone zahlt ihnen auch heute noch nicht durchschnittlich eine Mark den Tag!

Arbeitslosigkeit ist immer eine Folgeerscheinung verkehrter sozialer Organisation. Der einzelne ist dafür nicht verantwortlich zu machen. Darum: Den Einheitslohn für alle!

Doch da steigt noch ein sehr wichtig scheinender Einwand gegen den Einheitslohn auf: Man sagt, bei gleichem Lohne werden alle Arbeiter gleich faul sein. Wieder wird das Sinken der Produktivität, die Unmöglichkeit der Sozialisierung als Folge herangeholt.

Wir beobachten dabei, daß die große Mehrheit der Widersacher gegen den Einheitslohn, die mit der drohenden Faulheit anderer heranrücken, aus Leuten besteht, denen es nie in den Sinn gekommen ist, die gesellschaftlichen Funktionen und Nöte des werktätigen Arbeiters zu über­nehmen. Es sind die Kapitalisten und Unternehmer selbst, es sind deren Zuhälter: Die Bürokratie, die Politiker, die Presse, die Pfaffen, die Kaufleute und Händler. Kurz: es sind alle diejenigen, die an der Arbeitsleistung des Proleten herumschmarotzen. Ihnen wird allerdings die Faulheit der Arbeiterschaft zum Verhängnis werden. Der Einheitslohn ist ja eine sozialistische Maßregel, die sozialisierend wirkt. Und darum das Geschrei der gegenrevolutionären Unken. Faulheit! Was ist denn Faulheit? Faulheit ist eine Krankheit. Der an Leib und Seele Gesunde, der richtig Ernährte ist nicht faul. Arbeit ist ja nicht nur eine natürliche Notwendigkeit, sondern als solche auch ein inneres Bedürfnis beim Menschen. Aber was ist das für eine Arbeit, die vorwärtsgepeitscht werden muß durch Klassenlöhne, durch Akkordtreiberei, durch Taylorquälerei, durch Meister und Werkführer als Antreiber? Nun, das ist Sklavenarbeit. Und dazu soll die Arbeiterschaft nun endlich einmal und für immer faul sein.

Im gegenwärtigen Stadium der Revolution (Ostern 1919) ist die Faulheit der Arbeiterschaft passive Resistenz, direkte Aktion, unmittelbare Klassenkampfhandlung. Sie wird die Söldner­truppen Noskes überwinden, sie wird die Phrasenmühle in Weimar zum Stillstehen bringen, sie wird die widerstrebenden Arbeiterführer „reif“ machen, daß sie mit der Sozialisierung beginnen. Ich sage den Drückebergern des Sozialismus: schafft freie Arbeit und menschen­würdige Arbeitsmethoden und niemand wird mehr faul zur Arbeit sein!

Und nun zum Schluß: Die Arbeiter hatten und haben Klassenorganisationen, die ihnen nichts nützen und die der sozialen Revolution zum stärksten Hindernis geworden sind. Das ist die Sozial­demokratie, das sind die zentralen Gewerkschaften. Die Arbeiter dürfen nur eine Organisation haben. Das muß die Gewerkschaft sein. Und die Gewerk­schaft muß revolutionär sein. Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung, deren internationale Bezeichnung Syndikalismus lautet, ist die natürliche Klassenorganisation der Lohnarbeiterschaft. Diese Organisationen dürfen nicht von zentralen Gewalthabern geleitet werden, sondern müssen lose, nur für den Zweck der Solidaritätsbezeugung föderiert sein. Der Wille der Arbeitermassen muß in ihnen herrschen. Diese Organisationen werden die Reste des Kapitalismus und seinen Staat wegfegen. Nur sie können den Einheitslohn und den Sozialismus erkämpfen.

Editorische Notiz: Roches Vortrag, gehalten am 20. April 1919 (Ostern) in Hamburg, erschien im gleichen Jahr als Broschüre im Verlag „Der Syndikalist“, Berlin. Der Text ist eine wörtliche Abschrift dieser Broschüre. Offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert

Originaltext: http://archivkarlroche.wordpress.com/archiv-karl-roche/broschuren/einheitslohn-und-arbeitersolidaritat/


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