Karl Roche - Organisierte direkte Aktion (1919)
Die Menschheit hat bisher erst nur erst geträumt von Kultur. Sie hat davon geträumt, wie sie von Seeligkeit nach dem Tode träumt. Kultur ist in ihren Ursachen die Tat jedes einzelnen, direkte Aktion: das unmittelbare Selbsterziehen und das unmittelbare Handeln für alle. In ihren Wirkungen ist Kultur das erreichbare Erdenglück für alle. Was man bisher Kultur nannte, wurde durch erzwungene Arbeit hervorgebracht. Aber die wahre Kultur kann nur aus der freiwilligen Arbeit aus der Arbeitsfreude emporblühen.
Erst das Auftreten des Proletariats als handelnde Klasse gab dem Weg zur Menschheitskultur die Richtung. Die Mauer der Föderierten in Paris, die Torturen an Revolutionären in Spanien, die Galgen in Amerika, die Opfer Noskeschen Sozialistenhasses, die Bergwerke in Sibirien bezeichnen den Marterweg zur sozialistischen Kultur.
Der Weltkrieg zerstörte den Glauben der Arbeitermassen an die Scheinkultur, deren Daseinsprinzip ist, wie Heine es so treffend ausdrückt: „Wenn du aber gar nichts hast, ach, so lasse dich begraben. Denn: ein Recht zum Leben, Lump, haben nur, die was haben.“ Diese Kultur lässt es zu, daß der Schwache dem Starken weichen muß. Wer viel hat, darf mit seinem Reichtum Reichtümer erwerben, und dem das letzte nehmen, der wenig hat. Es ist die Kultur der Räuber über ihre Opfer. Vernunftbegabte, aber gefühllose Tiere sind ihre Vollstrecker. Sie leisten keine werteschaffende Arbeit, aber sie genießen und herrschen. Uebersättigung und inneres Verkommen sind die Folgen bei den Reichen, den Faulen. Die Fleißigen verelenden.
Der Weltkrieg brachte die Wende: Der Phrasennebel, der die Barbarei verdeckt, zerfließt vor den sengenden Strahlen der Revolution. Ein Aufatmen geht durch die Geknechteten und Bedrückten aller Länder. Wir stehen an der Schwelle einer neuen Zeit. Einer besseren Zeit. In das Erdreich menschlicher Arbeit wird ein neuer Baum gepflanzt. Der Baum des Sozialismus. Jede Generation wird ihm einen neuen Ring geben. Aus der schaffenden Arbeit wird er sein Mark ziehen. Er wird blühen und Früchte tragen, wenn die Arbeit von der Vernunft eingerichtet ist, wenn sie vom freudigen Wollen, dem Gemeinwohle zu dienen, belebt wird. Es werden die Früchte restloser menschlicher Solidarität sein. Sie werden nicht von Interessenten gepflückt. Sie fallen reif auf das Erdreich der schaffenden Menschheit zurück und düngen es zu neuer Fruchtbarkeit. Unter seiner weiten Laubkrone wird Leben, Glück, jauchzendes Lachen und zufriedenes Beschauen sein. Was Sonne und Erde unter dem Zauber des Menschengeistes hervorbringen können, wird allen gehören. Dann wird Kultur sein. Aber erst muß der Kapitalismus restlos ausgerottet sein. Die Arbeiterklasse muß den Boden vorbereiten für den Sozialismus. Die Arbeiterklasse selbst muß die Arbeit zur Herrschaft bringen. Die Möglichkeit dazu kann keine politische Demokratie geben. Nur die Diktatur des Proletariats kann dazu führen. In wirtschaftlicher Demokratie hat nur die werteschaffende Arbeit Raum und Rechte.
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„Direkte Aktion“. Das klingt fremd. Nicht alle begreifen den Sinn der beiden Worte. Sie verleiten zu der Annahme, damit sei die Anwendung zwingender, brutaler Gewalt gemeint. Zwingend wohl. Die Arbeiterklasse muß die herrschenden Klassen niederzwingen, überwinden, will sie zum Sozialismus gelangen. Tätliche Gewalt sprechen die beiden Worte nicht aus. Die deutsche Sprache ist zweifellos schön, aber es fehlt ihr an der Prägnanz, an der kurzen, treffsicheren Ausdrucksweise. Sie bedarf der Ergänzung durch „Fremdworte“, die zuerst nicht verstanden werden, sich aber nach und nach mit dem Deutsch zusammenleben. Für bestimmte Begriffe gibt es nur internationale Bezeichnungen. „Direkte Aktion“ ist der internationale Ausdruck für unmittelbares Handeln im proletarischen Klassenkampf, wie „Syndikalismus“ die internationale Bezeichnung für revolutionäre Gewerkschaftsbewegung ist. Und der Syndikalismus ist ohne direkte Aktion nicht denkbar. Denn gerade die Gewerkschaftsbewegung schließt die Anwendung tätlicher Gewalt aus. Wir erziehen die Arbeiter zum inneren Widerstand, zur sittlichen Empörung, zur menschlichen Kampfesweise. Die Entziehung der Arbeitsleistung, dieser Grundstein des syndikalistischen Klassenkampfes, erzeugt ja Ruhe! Es stehen alle Räder still, alle Hände ruhen, alle Hirne denken, alles Handeln hat zum Ziel die restlose Solidarität der Lohnarbeiterschaft: Die Ruhe. Erst wenn die herrschenden Gewalten mit brutaler Macht, mit Militär, Polizei, Gerichte unsere Solidarität stören, dann sind wir moralisch gezwungen, Gleiches mit Gleichem zu begegnen. So sind Syndikalismus, direkte Aktion und Arbeitersolidarität Organisation, Kampfmittel und sittlicher Inhalt der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Also ist die direkte Aktion unmittelbares Handeln! Wir sprechen von einer Arbeiterbewegung. Damit wird ausgedrückt, daß die Arbeiter innerhalb ihrer Klasse eine ideale, zielklare Bewegung organisieren. Das Ideal ist der Sozialismus. Das Ziel ist die Beseitigung der Lohnarbeit, wodurch Ausbeutung und Unterdrückung verschwinden. Die Beseitigung der Klassengegensätze macht die Bahn frei für den Sozialismus. Zu diesem Ideal, nach diesem Ziel soll die Arbeiterbewegung sich bewegen. Goethe drückt solch Bewegen wunderbar aus, wenn er sagt: Und umzuschaffen das Geschaffene, daß es sich nicht zum Starren waffne, wirkt ewiges, lebendiges Tun. Das lebendige Tun, herausgetrieben aus dem inneren revolutionären Wollen jedes einzelnen, vollbracht durch die Gesamtleistung aller, soll die Arbeiterbewegung bewegen. „Im Anfang war die Tat!“ Stellen wir uns das bildlich vor: Die Ackerkrume auf der Erde, der wir unsere Nahrung danken, ist hergerichtet worden für ihren Gebrauch von ungezählten kleinsten Lebewesen, während ungezählter Jahre. Jedes, auch das schwächste dieser Infusionstierchen, schuf lebendig mit an der Zersetzung des unfruchtbaren Gesteins. Und endlich erreichte es die Massenwirkung, daß auf der Erde stolze Wälder, blühende Kornfelder, üppige Weingärten, bunte Wiesen, nährende Weiden stehen konnten. Das ewige, lebendige Tun jedes einzelnen erreichte es. Es würde nicht erreicht worden sein, wenn nicht alle aus innerer Notwendigkeit mit geschafft hätten, wenn die Masse als Ganzes auf Befehle, auf Führung, auf Richtgebung gewartet haben würde. Direkte Aktion, selbstverständliches, unmittelbares Handeln, Wühlen, Zersetzen, Revolutionieren, wird den Acker schaffen, auf welchen eine neue Welt, der Garten des Sozialismus erblüht.
Stellen wir uns aber die Arbeiterbewegung im Massenschritt von Bataillonen vor, die im preußisch-deutschen Stechschritt klappt und dröhnt nach dem Kommando der Führer, nur belebt durch unbedingtes Vertrauen und gezügelt vermittelst eines widerspruchslosen Gehorsams, dann haben wir die Exerziermaschine ohne lebendige Seele, das klappernde Uhrwerk, das den Zeiger rückt, die Zeit anzeigt, aber auf ihre Gestaltung völlig einflußlos ist. Arbeiter, Hand aufs Herz! Sieht die sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht akkurat aus wie solch ein seelenloser Mechanismus? Ist innerhalb dieser Organisation nicht jedes unmittelbare Handeln, jede innere Anteilnahme der Mitglieder am Klassenkampf ausgeschlossen, verpönt und höchstens nach Vorschrift von oben zulässig? „Direkte Aktion!“ Das gilt in der Sozialdemokratie wie in den Zentralverbänden als Verrat, als Eingriff in die unveräußerlichen Weisheitsrechte der Führer.
Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung ist in ihrem Inhalte die Fortsetzung der bürgerlichen Revolution, einer Revolution, die ihr Ziel erreicht hat, nämlich: Die Teilung der Herrschaft mit Fürsten, Junkern und Pfaffen über die Lohnarbeiterschaft. Diese bürgerliche Revolution bedarf der Fortsetzung nicht mehr, denn sie hat nichts mehr zu gewinnen, aber eine ganze Welt an das Proletariat zu verlieren. Die Sozialdemokratie hat sich durch den Parlamentarismus an das Bürgertum gekettet. Mit dem Schlagwort „Demokratie“ unterwirft sie sich den herrschenden Klassen, die keine gesellschaftlichen Ideale haben können, da ihre materiellen Interessen nach Klassenrechte und Klassenherrschaft streben. Das gesamte Bürgertum muß gegenrevolutionär sein, denn was jetzt von unten aus zur sozialen Revolution drängt, das sind die Antipoden der herrschenden Klassen, die von ihnen unterdrückten Lohnsklaven. Von der wirtschaftlichen Demokratie, der Gleichberechtigung der Arbeiter im sozialistischen Sinne, also vom gleichen Anrecht an den vorhandenen Gütern, will auch der rabiateste Demokrat nichts wissen. Dafür greift man einen Ersatz an: „Das freie Spiel der Kräfte.“ Der Kraftvolle darf den Schwachen zuschanden machen. Und weil in der kapitalistischen Wirtschaft die Kraft im Besitz ruht, so sind nur die „Erwerbstüchtigen“, die, welche den sozialen Wucher am besten anzuwenden verstehen, die Diebe, die Starken, die Ehrlichen, die Besitzlosen unterliegen bei diesem famosen Spiele der Kräfte. Sie dürfen mit wählen und haben die Freiheit, zu verhungern. Sie haben „politische Rechte“ und die Freiheit, wirtschaftlich zu verkommen. Sie unterliegen, weil sie keine Rechte, weder an der Produktion noch am Austausch haben. Die politische Demokratie wird zur hohlen Nuß, die im Aussehen zwar die Begierde reizt, aber nimmer den Hunger stillen kann.
Die politische Demokratie ist Vorspiegelung falscher Tatsachen. Das Bürgertum, zur Macht gelangt, schwor Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und beging Sklaverei und Betrug. Das haben die Arbeiterführer nicht erkannt, die den Massen das Parlamentieren mit den herrschenden Klassen empfehlen. Man redete in den verschiedenen Parlamenten fünf Jahrzehnte hindurch. Derweilen mußte die Lohnarbeiterschaft auf jede direkte Aktion verzichten. Sie mußte innerlich ein schlafendes Heer bleiben, sie durfte sich erst bewegen, wenn die Führer es zuließen; und dann rein automatisch, nur als leblose Masse durch die Wucht der Quantität wirken. Das revolutionäre Wollen, aus der Masse emporsteigend, hindert die Parlamentsarbeit. Und gar direktes, unmittelbares Handeln ohne Sanktion der Redemeister muß als Verbrechen gegen den heiligen Geist der Disziplin bewertet werden. Die Arbeiterbewegung blieb bürgerlich. Ihr Sozialismus war Schein, Reklameschild.
Eine sozialistische Arbeiterbewegung darf sich nicht auf die schiefe Ebene der politischen Demokratie begeben. Sie soll die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft ändern, soll die Weltwirtschaft umwälzen. Wie darf sie sich da in Diskussionen mit den politischen Parteien, die nur Sonderinteressen der besitzenden Klassen verteidigen können, einlassen. Die Wirtschaft kann nur aus sich selbst heraus umgestaltet werden und nicht durch Dekrete von außen. Die Arbeitenden selbst sind die berufenen Vollstrecker der Umwälzung zum Sozialismus und nicht die Politiker. Es gibt in der Gesellschaft nichts, das notwendiger wäre, wie die Arbeit. Es gibt in der Gesellschaft keine Klasse, die notwendiger wäre, wie die Arbeiterklasse. Man kann sie als politische Partei entbehren und sogar zurückstellen, nicht aber als werteschaffende Arbeiterschaft. Und diese Macht haben die Arbeiter anzuwenden. Sie haben sie anzuwenden, sowohl im Kampfe um die kleinen Tagesfragen politischer wie wirtschaftlicher Natur, wie auch im Kampfe um das große Endziel; den Sozialismus. In der Entziehung der Arbeitsleistung wurzelt die direkte Aktion. Das ist organisierte direkte Aktion, wenn die Arbeiter die Räder stille stehen lassen. Im Kleinstreik, im Demonstrationsstreik, im Lohnstreik, im Sympathiestreik, im politischen Massenstreik, im Solidaritätsstreik, im Generalstreik, um sozialen Generalstreik, in der passiven Resistenz usw.
Weil die Sozialdemokratie eine parlamentierende Partei und also solche ein Teil der bürgerlich-politischen Demokratie ist, muß sie die Arbeiterklasse von der Anwendung der direkten Aktion, des unmittelbaren Handelns abhalten. „Alles fließt“. Alles ist der Umwandlung unterworfen. Nicht nur in der Natur, nicht nur in der gesellschaftlichen Organisation. Auch in dem Klassenkampfaufmarsch und in der Klassenkampftaktik des Proletariats. Was ein halbes Jahrhundert lang als richtig, als taktische Selbstverständlichkeit schien, Weltkrieg und Revolution haben es als folgenschweren Irrtum erwiesen. Die Sozialdemokratie war unfähig, den Weltkrieg verhindern zu können, die Sozialdemokratie ist unfähig, die politische Revolution zur sozialen zu machen. Der mittelbare Kampfcharakter der Arbeiterklasse, das Verhandeln durch erwählte Vertreter hat in den Abgrund der revolutionären Unfähigkeit geführt. Das sind doch harte, wenn auch bittere Tatsachen. Nichts anderes, keine andere Klassenkampftaktik bleibt dem Proletariat nunmehr anzuwenden, als das unmittelbare Handeln: die direkte Aktion.
In den Anfängen der Arbeiterbewegung hatten Großkapitalismus und Klassenstaat nicht die Bedeutung, wie bei Ausbruch des Weltkrieges. Beide wurden zu unnatürlichen Gebilden, weil sie Menschen ausbeuteten und unterdrückten. Aus diesen, unnatürlichen Gegensätzen mußte der Weltkrieg entstehen. Aber in den Anfängen der Arbeiterbewegung lag die wirtschaftliche Macht der Lohnarbeiterschaft auch noch nicht so offensichtlich zutage. Klarheit und Reinheit des Klassenbewußtseins wurden unendlich schärfer in den Erfahrungen des Klassenkampfes. Jede Legislaturperiode der Parlamente spiegelte die Ohnmacht der Arbeitervertreter deutlicher ab. Die sich immer krasser herausschälenden Klassengegensätze trieben Parlamentarismus und Demokratie immer rücksichtsloser in die Enge. Dem Proletariat wurden sie immer wertloser. Die politischen Parteien verloren den Kredit, das Vertrauen der Arbeitermassen. Aus der Erkenntnis wächst die revolutionäre Gewerkschaft: Der Syndikalismus heraus. Die Parlamentsarbeit wird abgelöst durch das unmittelbare Handeln, durch die direkte Aktion.
Die revolutionäre Gewerkschaft ist die natürliche Klassenkampforganisation der Lohnarbeiterschaft. Hier vereinigen sich ausschließlich die Werteschaffenden, die Ausgebeuteten. Hier gibt es kein politisches Gezänk, keinen Parteienstreit. Hier gibt es kein Vertreten und Vermitteln, hier ist kein Ausgleich verschiedener Interessen vonnöten. Hier unter der unmittelbaren Kontrolle der Mitglieder kann kein persönliches Führerinteresse aufkommen. Hier eint alle das eine, gewaltige Ziel, die Beseitigung des Kapitalismus: Die Herbeiführung des Sozialismus. Auch hier gibt es eine Demokratie. Aber das ist eine rein proletarische, unvermischt mit bürgerlichen Profit- und Herrschaftsinteressen. In der revolutionären Gewerkschaft geschieht das unvermittelt, direkt. Sie brennt den Arbeitern das Solidaritätsbewußtsein in die Seele ein. Keine diplomatischen und staatsmännischen Kunstübungen lenken die Arbeiter von ihren Zielen ab. Die direkte Aktion, das unmittelbare Handeln, scheidet die Spreu von dem Weizen. Wer zur Lohnarbeiterschaft hält, bleibt hier, wem es zu den Ausbeutern hinzieht, geht dort hin. Keine Organisation kann den Arbeitern ihr Klasseninteresse so deutlich demonstrieren, als die revolutionäre Gewerkschaft es tut. Kein Klassenkampf ist ein wirklicher Kampf, der nicht geführt wird mit den Mitteln der direkten Aktion. Kein Vorteil ist der Handlung beschieden, die sich auf das immerwährende Unterhandeln einläßt. Die revolutionäre Gewerkschaft ist Waffenschmiede, Massenaufmarsch, sozialistische Schulung, lebendiges Tun, Einheitswille. Alle proletarische Macht, alle sittliche Empörung, alle revolutionäre Energie konzentriert sich zum Schlage.
Das unmittelbare Handeln, die direkte Aktion erfordert eine andere als die bisher übliche Streiktaktik. Die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung klebt nicht an veralteten Organisationsformen und richtet ihre Streiktaktik ein nach den veränderten Klassenkampfhandlungen. Die Zeiten sind längst in den Schoß des Unwiederbringlichen versunken, wo die Unternehmer mit Kleinstreiks erschreckt werden konnten. Und auch jener Zustand ist überwunden, als noch die proletarische Geldsolidarität den Streik zum erfolgreichen Ziele führen konnte. Die Unternehmer sind solidarisch. Sie sind es nicht nur in ihren Organisationen, sondern auch aus ihrem ursprünglichen Klasseninstinkt heraus. Ihnen stehen Millionenkredite zur Verfügung. Persönliche Not kennen sie bei Streiks und Aussperrungen nicht. Die Arbeiter haben nur Spargroschen. Es mögen einige Hunderttausend sein. Sie sind Tropfen in den glühenden Vulkan des Klassenkampfes. Gegen die Geldsolidarität der Ausbeuter ist die Geldsolidarität der Ausgebeuteten machtlos. Aber es ist auf unserer Seite eine bessere Waffe. Das ist die Brudersolidarität, das Herausbrechen der proletarischen Kampfesglut. Der Kleinstreik muß mit Hilfe des Solidaritätsstreiks gewonnen werden. Das alte Streikverhalten mußte darauf bedacht sein, den Kreis der Streikenden möglichst zu begrenzen, denn das liebe Geld drohte jedesmal mit verebben. Das alte Streiksystem war unverträglich mit der Kampfessolidarität; immer mußte es nach Verhandeln trachten, wenn wenigstens der Schein des Erfolges gerettet werden sollte. An Stelle des Verhandelns setzen die revolutionären Gewerkschaften ihre Solidarität in direkte Aktion um. Der Kleinstreik wird vom Massen-, vom Generalstreik abgelöst. Nicht Monate darf der Kampf dauern. Ist er nicht zu gewinnen, so wird er abgebrochen. Ist der Kleinstreik ein Massenaufgebot nicht wert, so tritt erst recht die direkte Aktion in Wirksamkeit. Die beteiligten Arbeiter üben passive Resistenz im Betriebe, vorsichtig eingeleitet, mit Ueberlegung durchgeführt, bringt sie den Unternehmer zur Verzweiflung, zwingt ihn zum Nachgeben.
Natürlich müssen auch die revolutionären Gewerkschaften ihren Streikfonds haben. Aber wir müssen ihn vernünftiger verwenden, als es von der alten Gewerkschaftsstrategie gehandhabt worden ist. Im Streikkampfe sind das Entscheidende: Aufrufe zur Solidarität, Aufklärung. Minderwichtig sind Geldunterstützungen, Streikküchen. Die Kampfessolidarität erfordert persönliche Opfer. Scheut das Proletariat persönliche Opfer, dann ist es kampfunfähig. Nicht jene allein sind Streikbrecher, die offenen Verrat üben und in den bestreikten Betrieb gehen; auch jene sind Streikbrecher, welche die Arbeitsniederlegung zum Zwecke der Solidaritätsbezeugung verweigern. Es sind auch solche Arbeiter Streikbrecher, denen das direkte Eingreifen persönliche Last wird und die damit die Streikenden dem Verhandeln oder Unterliegen ausliefern.
So treibt jede Lohnbewegung zum Generalstreik, zur direkten Aktion, zur prinzipiellen Auseinandersetzung mit Ausbeutertum und Staat.
Der Generalstreik soll Generalunsinn sein. So haben es die sozialdemokratischen und Zentralverbandsführer den Arbeitern gelehrt. Und die Arbeiter sind darauf hereingefallen. Sie sind hineingefallen, bis die Woge der höchstgesteigerten Reaktion im Weltkriege über sie zusammenbrach. Die internationale Arbeiterklasse hat den Wahn, der Generalstreik sei Generalunsinn, mit einigen Millionen ihrer Klassengenossen gebüßt, die auf den Schlachtfeldern der halben Welt und in den Weltmeeren nun modern. Die Novemberrevolution in Deutschland konnte nicht zum Ziele führen, weil die deutsche Arbeiterklasse den Gebrauch der Generalstreikwaffe nicht verstand.
Die Revolution hat nunmehr nach sechsmonatiger Dauer zwei klar umrissene Kampffronten geschaffen: Jenseits der Barrikade stehen die besitzenden Klassen mit dem ganzen Troß ihrer Zuhälter der Bürokratie, den sogenannten Gelehrten, dem Groß- und Kleinhandel, den ultrareaktionären Kleingewerbetreibenden, mit all jenen, die nicht selbst Werte schaffen, aber auf Kosten der Lohnarbeiterschaft leben und trotz der Lebensmittelknappheit immer noch nicht schlecht leben. Mit ihnen haben sich die Sozialdemokraten vereint. Vor dieser heiligen Allianz der Gegenrevolution stehen die Prätorianergarden bereit, alles niederzukartätschen, was zur sozialen Revolution drängt. Der neue Militarismus ist Schirm und Schild, ist Klassenkampf der alten Reaktion, die sozialdemokratische Grimassen schneidet. Ihm werden genügend Nahrungsmittel geliefert, den Arbeitern werden sie entzogen. Hier, diesseits sind die Lohnfroner. Sie haben leere Mägen, haben keine ordentliche Wäsche mehr auf dem Leibe, keine gehörigen Betten mehr zu Hause. Sie wärmen sich an den Gluten der Revolution, drücken den Hunger zurück mit der ideellen Begeisterung, zwingen den entkräfteten Körper mit ungeheurer Willenskraft zum Widerstand. Der physischen Gewalt müssen sie unterliegen. Gegen die Brutalität der kapitalistischen Wehr unter republikanischer Flagge sind sie machtlos. Zuviele der Besten haben in dem ungleichen Kampfe schon ihr Leben lassen müssen. Aber sie sind die Besitzer einer andern, einer stärkeren Macht und das ist die Notwendigkeit als Arbeiter. Wenn sie es verstehen, die Arbeitsverweigerung richtig zu organisieren, dann sind sie unüberwindlich. Direkte Aktion! Generalstreik Ohne sie kommt die soziale Revolution nicht voran! Und wo der Generalstreik nicht anwendbar ist, da hat die passive Resistenz an seine Stelle zu treten. „Passive Resistenz“. Wieder zwei Fremdworte! „Passivität“ heißt: leidendes Verhalten. „Resistenz“ heißt: Widerstand, Gegenwehr. Also ist passive Resistenz untätiger Widerstand, leidender Gegenwehr. Und – ins Klassenkampf-deutsch zu übertragen – passive Resistenz bedeutet, daß die Lohnarbeiter tun, als ob sie viel täten, aber in Wirklichkeit tun sie nichts. Sie arbeiten und leisten keine Arbeit, sie bewegen sich im Betriebe, ohne das Werk zu fördern. Als ich kürzlich in Hamburg in einer großen Arbeiterversammlung dieses Mittel der direkten Aktion erläuterte, brach die ganze Zuhörerschaft in helles Lachen aus! War es Freude an der Selbstverständlichkeit einer proletarischen Kampfeswaffe, war es Verständnislosigkeit? Es war wohl das letztere. Leider hat die Sozialdemokratie, haben die zentralen Gewerkschaften die deutsche Arbeiterschaft derart verbildet, daß man ihr nun in der tiefernsten Zeit der Revolution noch erst das ABC des Klassenkampfes lehren muß. Auch das schwächste und unvernünftige Wesen wendet zum Zwecke seiner Selbsterhaltung den leidenden Widerstand an. Der deutsche Arbeiter – dieser vielgepriesene Champion der internationalen Sozialdemokratie – muß erst mit der Nase darauf gestoßen werden! In Hamburg hatte die sozialdemokratische Regierung den Belagerungszustand verhängt. Angeblich, weil die „Plünderer“ überholt werden sollten, tatsächlich, um die revolutionäre Arbeiterschaft vor die Maschinengewehre zu locken. Die Arbeiter einer großen Werft forderten die Aufhebung des Belagerungszustandes. Es wurde die Parole ausgegeben, im Betriebe passive Resistenz zu üben, bis die Unterhändler fertig wären. Und wie sah diese „passive Resistenz“ aus? Die Maschinen wurden abgestellt. Die Arbeiter standen in Gruppen, spielten Karten, hielten Versammlungen ab. Das sollte passive Resistenz sein! So betrügen sich die Arbeiter selbst um ihre besten Klassenkampfwaffen.
Wird passive Resistenz angewendet, dann ist die vornehmste Bedingung, daß der Betrieb im vollen Gange bleibt und die Arbeitszeit bezahlt wird. Die Maschinen zittern, die Räder surren, die Hämmer tönen. Es muß sich anhören, als wäre auf einmal der verbissene Zorn des Arbeitsfanatikers in die Proleten gefahren. Die Betriebsunkosten müssen steigen, aber am Arbeitsprodukt darf nichts befördert werden.
Zu solcher Kampfesführung gehören allerdings Persönlichkeiten, Stimmzettelmenschen und Händeaufheber sind dafür nicht geeignet. Dem kontrollierenden Ingenieur soll der passive Wehrmann mit Gelassenheit und proletarischem Trotz frei und frank vorhantieren, wie gearbeitet wird, ohne Arbeit zu leisten. Der Meister muß an der Nase geführt werden. Etwaige dickblütige Kollegen müssen sachlich angeleitet werden. Dazu gehört Ruhe, Ueberlegung, eiserne Selbstdisziplin. Wochen hindurch muß auf diese Weise „gearbeitet“ werden. Dann wird der Ausbeuter niedergezwungen. Gegen die passive Resistenz ist kein Scharfmacherkräuterlein gewachsen.
Und nun, im weiteren Verlaufe der Revolution, muß die passive Resistenz als Massenhandlung wirken.Sie wird den Kapitalismus überwinden. Sie wird den Gernegroßen und Machthungrigen die Regierungszügel aus den blutbesudelten Händen reißen. Arbeiter, werdet faul, werdet so faul, daß es den Gegenrevolutionären in die Nase steigt. Werdet faul! Je weniger ihr für das schmierige Papiergeld leistet, desto eher werden die kapitalistischen Ruinen in Schutt und Asche zerfallen, um so viel eher wird das Alte stürzen. Dann werden wir arbeiten. Mit Freude und Lust werden wir dann die Bausteine zum Fundament einer neuen Kultur aufeinanderfügen.
Jedes unmittelbare Handeln im Klassenkampf hat nicht nur wirtschaftliche Folgen. Wirtschaft und Politik sind ineinander verschlungen. Gesetzgebung, Verwaltung und Staatsgewalt hängen in der Luft, sind aufgeblasene Harlekine, wenn ihnen die ökonomischen Grundlagen fehlen. Alle Macht der Herrschenden ist abhängig von dem ungestörten Gange der Wirtschaft. Jede direkte Aktion, jeder Streik, jede Arbeitsverminderung schwächt die Stellung der Politiker. Wirtschaftliche Massenaktionen bringen die Politik in Verwirrung. Erfolgreiches unmittelbares Handeln erzwingt den Arbeitern wirtschaftliche Vorteile und politische Rechte zugleich. Je größer die wirtschaftliche Macht der Arbeiterklasse ist, um so leichter überwinden sie die Anmaßung der Politiker. Die revolutionäre Gewerkschaft ist daher wirtschaftliche und politische Organisation.
Die in revolutionären Gewerkschaften organisierte Arbeiterschaft bedarf nicht einer zweiten Organisation, die sich mit Politik befaßt. Die Partei ist nur ein Teil. Die Lohnarbeiterschaft bedarf der revolutionären Einheitsorganisation. Die Partei, möge sie sich kommunistisch oder sozialdemokratisch nennen, zersplittert die Arbeiterbewegung, macht die Arbeiterklasse uneinig. Nach sechs Monaten Revolution ruft die gesamte Arbeitswelt nach Einigkeit. Also einigen wir uns! Wer hindert uns daran? Es sind die Parteien! Jagen wir die Parteien zum Teufel! Stellen wir uns beieinander auf den gleichen Boden, den uns der Kapitalismus lassen muß. Auf den Boden der Lohnarbeiter. Bilden wir Lohnarbeitervereine, die Lohnarbeit zu beseitigen. Das sind revolutionäre Gewerkschaften. Sind wir den Parteien glücklich entronnen, dann hört das Parlamentieren und Abstimmen auf. Dann sind wir alle auf den Sozialismus abgestimmt und es bleibt uns die Tat. Eine gute Tat wirkt entscheidender als tausend schöne Reden. Direkte Aktion, unmittelbares Handeln ist revolutionäres Tun.
Editorische Notiz: Der Text erschien als Broschüre im Mai oder Juni 1919 im Verlag Der Syndikalist, Berlin.
Originaltext: http://archivkarlroche.wordpress.com/archiv-karl-roche/broschuren/organisierte-direkte-aktion-1919/