Saint Imier und seine Bedeutung in der Geschichte des Anarchismus

Die Frankophone Föderation (FA) hat nun bei der IFA (Internationale der Anarchistischen Föderationen) einen Vorschlag eingebracht, den nächsten IFA-Kongress in Saint Imier in der Schweiz stattfinden zu lassen. Warum gerade dort?

Ein kurzer Blick in die Geschichte der anarchistischen Bewegung gibt die Antwort: Am 15. und 16. September 1872 kam es dort zur Gründung der Internationale der antiautoritären (sprich anarchistischen) Föderationen. Somit jährt sich 2012 dieses Ereignis zum 140. Mal.

Saint Imier, mit rund 4700 Einwohnerinnen, ist die zweitgrösste Gemeinde des Berner Jura und erstreckt sich in einem Tal, dem Vallon de Saint Imier. Die Bevölkerung ist zum überwiegenden Teil französichsprachig; nur ein geringer Prozentsatz spricht entweder deutsch oder italienisch. Wirtschaftlich waren Saint Imier und seine Umgebung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hauptsächlich landwirtschaftlich geprägt. Danach entwickelte sich im Ort das Uhrmacherhandwerk, das zuerst weitgehend in Heimarbeit und kleinen Manufakturen betrieben wurde, später dann in großem Stil in Fabriken.

Mit der Entwicklung der Uhrenindustrie ging auch ein rasanter wirtschaftlicher Aufschwung einher und ein sprunghaftes Anwachsen der Bevölkerung (1888 zählte die Gemeinde bereits 7557 Einwohnerinnen). Saint Imier wurde ein Zentrum der Uhrenherstellung und hatte nach 1880 seine Blütezeit. Die ab 1970 einsetzende und viele Jahre anhaltende wirtschaftliche Krise in der Uhrenindustrie führte zum Verlust von hunderten Arbeitsplätze und zur massiven Abwanderung großer Teile der Bevölkerung. Heute werden in Saint Imier vornehmlich Produkte aus der Mikromechanik und Präzisionsgeräte sowie Uhrengehäuse hergestellt.

In der Geschichte des Anarchismus nimmt Saint Imier einen hohen Stellenwert ein, was eben auch mit der Uhrenproduktion zusammenhängt; denn gerade die jurassischen Uhrmacher und Graveure waren beseelt von einem hohen Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit. Viele von ihnen waren zudem hochgebildet. Diese Tatsache ist im Laufe der Zeit, als sich in der anarchistischen Bewegung zugunsten eines geschichts-und theorielosen Spontaneismus ein Hang zur Vernachlässigung der eigenen Geschichte bemerkbar machte, in fast völlige Vergessenheit geraten. Die Vorgeschichte, die die jurassische Uhrmacherstadt mit dem Anarchismus eng verbunden hat, liegt in dem bekannten Zwist zwischen Marxianern und Bakunisten innerhalb der am 28. September 1864 in London gegründeten "Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA)", auch als "Erste Internationale" bekannt. Diese internationale Organisation der Arbeiterbewegung vereinte eine große Zahl sozialistischer Gruppen und Organisationen, die allerdings recht verschiedene Sozialismustheorien bzw. -Interpretationen vertraten. Auf dem Genfer Kongress von 1866 waren die Proudhonisten diejenigen, die die Diskussionen mit ihrer Anschauung prägten. Bald schälten sich zwei Hauptrichtungen innerhalb der Internationale heraus, die sich bitter bekämpfen sollten. Es waren dies die Anhänger der Richtung Marx/ Engels auf der einen und derjenigen Bakunins (der erst 1868 der LAA beigetreten war) und Guillaumes auf der anderen Seite. Es wird häufig davon geredet, dass der Konflikt zwischen dem autoritären Sozialisten Karl Marx und dem Anarchisten Michail Bakunin rein persönlicher Natur gewesen sei. Doch wird dabei vernachlässigt, dass diese beiden Personen verschiedene Konzeptionen des Sozialismus und dorthin führende Wege vertraten, die von verschiedenen Gruppen innerhalb der Internationale jeweils mitgetragen wurden.

Während Marx und Engels die Schaffung zentralistisch geführter Arbeiterparteien in den einzelnen Ländern und die Eroberung staatlicher Macht propagierten, lehnten die Anarchisten um Bakunin prinzipiell jede Art zentralistischer Führung durch Parteien oder Klassen ab, da sie entschiedene Feinde jeder Herrschaftsform (somit auch der Parteien und Staaten) waren. Statt einer von Marx/Engels angestrebten autoritär strukturierten IAA wollten die Anarchisten einen föderalistischen Aufbau derselben, die auf eine radikale soziale Revolution hinarbeiten sollte. Die Anarchisten, besonders Bakunin, verurteilten die Ideen von Marx als autoritär und völlig inakzeptabel, weil eine als "Avantgarde" wie auch immer an die Macht gelangte "Partei der Arbeiterklasse" (für die zu bilden auf dem Londoner IAA-Kongreess von 1871 eine entsprechende Resolution von Marx/Engels & Co. durchgesetzt werden konnte) mindestens genauso verfahren würde wie die Klasse der Kapitalisten, gegen deren Herrschaft sie (Marx und Bakunin) gemeinsam gekämpft hatten.

Diese Auseinandersetzungen der beiden in der IAA sich herausgebildeten Flügel leiteten letztlich die Spaltung der IAA ein, die auf dem Den Haager Kongress, der vom 2. bis zum 7. September 1872 stattfand, besiegelt wurde: Marxens Ziel war es, die gegen seinen Zentralismus gerichtete Opposition aus der Internationalehinauszudrängen und auszuschalten. Um dies zu erreichen, wandte er alle möglichen Intrigen und zweifelhafte Tricks an. Zunächst berief der von Marx angeführte Zentralrat der IAA für die Zeit vom 17. bis 23. September 1871 eine geheime Konferenz ein, der 13 Mitglieder des Generalrats sowie 23 Delegierte ausgewählter Sektionen aus Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Irland, Italien, Spanien, Schweiz und USA angehörten (in den einzelnen Ländern gab es verschiedene lokale Sektionen). Die Bakunisten wurden überhaupt nicht eingeladen, so dass es der marxschen Position ein leichtes war, sich auf jener Konferenz durchzusetzen. Auf dem bereits erwähnten Kongress von Den Haag 1872 gelang es ihm, einen Haufen ihm treu ergebener Delegierter ("Mönchshaufen" würde man heute dazu sagen einzuschleusen, die zum Teil Sektionen vertraten, die es - wie nachgewiesen werden konnte - überhaupt nicht gab).

Diese Paladine waren Marx, den Errico Malatesta als diktatorisch caharakterisierte, dem es nur um die Eroberung politischer Macht zu tun gewesen sei, dermaßen untertänig, dass sie ihn sogar in einer Art religiöser Anbetung ihren "teuren Meister" nannten. Konnte Marx mit einer zuvor breit angelegten Verleumdungskampagne, um Bakunin und seine Anhänger mundtot zu machen und zu isolieren (unter anderem behauptete er unter bewusster Verdrehung der Tatsachen, Bakunins in der berüchtigten St. Petersburger Peter-und-Pauls-Festung niedergeschriebene und an den Zaren adressierte "Beichte" mit der Bakuniun aus der Haft entlassen zu werden hoffte sei ein einziger Verrat an zahlreichen russischen Revolutionären gewesen, oder: Bakunin habe gefälschte Wertpapiere in Umlauf gebracht, oder: Bakunin habe sich nach dem Tod seines Freundes Alexander Herzen dessen beträchtliches Vermögen erschlichen, oder: Bakunin habe auf dem Baseler Kongress falsche Vollmachten von Sektionen vorgelegt, um den Kongress majorisieren zu können, oder: er habe alle möglichen Verleumdungen gegen den Generalrat ausgestreut, obwohl Marx die Einstellung Bakunins, lieber tausendmal verleumdet als selber ein Verleumder zu werden, bestens kannte, usw. usf.) nichts ausrichten, so griffen er und sein Anhang zu bürokratischen Mitteln, um einen Ausschluss der Antiautoritären aus der Internationale zu erwirken: Es wurde eine inquisitorische "Commission d`enquete" (Untersuchungskommission) unter deutschem Vorsitz eingerichtet, dessen alleinige Aufgabe es war, "nachzuweisen", dass die Statuten der von Bakunin 1868 gegründeten geheimen "Internationalen Allianz der sozialen Demokratie" denjenigen der IAA zuwiderlaufen und die Allianz die Zerschlagung der LAA anstreben würde. Die "Untersuchungskommission" kam zu dem gewünschten Schluss, dass all dies und noch mehr Verabscheuungswürdiges zuträfe und beantragte den Ausschluss der Antiautoritären, vor allem Bakunins und der Schweizer Jura-Delegierten.

Das gelang Marx schließlich, gestützt auf die künstlich geschaffene Mehrheit (von der viele, die ihr angehörten, überhaupt nicht genau wussten, worum es eigentlich ging; sie sollten ja auch nur als Stimmvieh fungieren). Marx war es zwar nicht gelungen, die anarchistischen Ideen in der Ersten Internationale zu eliminieren, jedoch verhinderte er mit der Einberufung des Kongresses der Internationale nach Den Haag im Jahre 1872, dass Bakunin an diesem teilnehmen konnte: Jedermann, auch Marx, wusste, dass ihm eine Anreise aus der Schweiz aufgrund schwerer Erkrankung nicht möglich war. Zudem wurde er in Frankreich und auch in Deutschland steckbrieflich gesucht. Auch das wußte Marx. Die Beschlüsse für den Ausschluss der Antiautoritären wurden allerdings nach dem Haager Kongress von allen Landesföderationen auf ihren jeweiligen Kongressen für null und nichtig erklärt, weil die Mehrheit der Kongressteilnehmer keine Sektionen repräsentierte und somit die Entscheidungen nicht dem Willen der Mehrheit der Mitglieder der IAA entsprachen. Einzelne Föderationen, darunter die spanische, italienische und russische, legten - erfolglosen - scharfen Protest gegen den Ausschluss ein. Als Konsequenz kam es dann am 15. und 16. September 1872, also zwei Wochen nach dem Haager Kongress, in Saint Imier zu einem Kongress der Jura-Föderation, der nochmals die Ausschlüsse in aller Schärfe verurteilte und sich mit den Ausgeschlossenen solidarisch erklärte. Marx und Engels, die auf diesem Kongress laut Bakunins Kampfgefährten James Guillaume (der eine kleine, schlechtgehende Druckerei betrieb) ebenfalls anwesend waren, um ihre Verleumdungen weiter zu betreiben, drangen nicht durch.

Tagungsort war ein Hotel, das später in Hotel Central umbenannt wurde (vor ein paar Jahren wurde das arg ramponierte Gebäude saniert). Dort kam es zur Gründung der "Antiautoritären Internationale", der sich die Landesföderationen von Belgien, England, Holland, Italien, Holland, Spanien und den USA anschlossen. Damit kam es zur von der Marx/Engels-Fraktion verursachten Spaltung der Ersten Internationalen, die sich 1876 formell auflöste, nachdem sie uind ihr Generalrat keinerlei Bedeutung mehr besaßen. Die Antiautoritäre Internationale sollte alle Sektionen und Mitglieder vereinen, die sich für eine verstärkte föderale Organisation der Internationale einsetzten und die Zerstörung aller Herrschaftsstrukturen (wozu auch der Generalrat zu zählen war) und damit die Aufrichtung der anarchistischen Gesellschaft zum Ziel hatten, die zu erreichen der revolutionäre Streik als Mittel dienen soll. Der erste deutsche Delegierte der Antiautoritären Internationale war 1874 übrigens der Anarchist und spätere Niederwald-Atttentäter August Reinsdorf. Inhaltlich orientierte sich die Antiautoritäre Internationale vor allem an den im Jahr 1871 formulierten Prinzipien der Jura-Föderation, denen zufolge die Internationale der "Embryo der künftigen menschlichen Gesellschaft" und "schon heute das Abbild unserer Prinzipien von Freiheit und Vereinigung sein" müsse, weshalb jedes nach Autorität und Diktatur strebende Prinzip und Handeln - auch organisationsintem - unnachgiebig bekämpft werden müsse.

Die auf dem Kongreß von Saint-Imier gefassten Beschlüsse sind für die anarchistische und anarcho-syndikalistische Bewegung auch heute noch von Bedeutung. So gilt seitdem immer noch, keiner Partei, auch einer sich sozialistisch oder kommunistisch nennenden, beizutreten, weil diese die freie Entfaltung, die spontane und freie Organisation verunmöglichen. Nur eine absolut freie, ökonomische Föderation und Organisation, die auf der Arbeit und der Gleichheit aller beruhe, garantiere - so einer der Beschlüsse - die vollständige Unabhängigkeit von jedweder politischen Herrschaft. Es könne kein anderes Ziel geben als die Gründung einer auf der Basis solidarischen Handelns ausgerichteten Föderation der Produzenten (etwa der Arbeiterinnen und der Bauern/Bäuerinnen) und der autonomen Kommunen. Denn jede politische Organisation sei "die Herrschaftsorganisation zu Gunsten einzelner Klassen und zum Nachteil der Massen". Folgerichtig wurde denn auch die marxsche These von der durch das Proletariat zu erobernden politischen Macht aussdrücklich verworfen, weil dadurch das Proletariat gleichfalls zur herrschenden Klasse würde (Stichwort: Diktatur des Proletariats). Deshalb erklärte der Kongress die Abschaffung jeder politischen Macht zu einem der vorrangigsten Ziele, das durch die soziale Revolution der Proletarier aller Länder erreicht werden müsse. Nur dadurch sei die Errichtung einer herrschaftsfreien, klassenlosen Gesllschaft möglich.

Der Kongress von 1872 in Saint Imier war gewissermaßen die Geburtsstunde einer organisierten internationalen anarchistischen Bewegung, indem sie sich durch eine eigene Internationale von den Vertretern des autoritären und reformistischen Sozialismus deutlich abgrenzte. Insgesamt gab es fünf Kongresse der Antiautoritären Internationale. Auf dem Berner Kongress von 1876 wurde sogar eine neue Strategie des Kampfes beschlossen: die "Propaganda der Tat", mit welcher die unterdrückten Völker aus ihrer Lethargie herausgerissen und zur revolutionären Betätigung angestachelt werden sollten.

An dem letzten Kongress, der 1877 in Verviers stattfand, nahmen Delegierte der Föderationen von Italien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ägypten, des Schweizer Jura und des französischsprachigen Teils Belgiens teil. Nach dem Kongress von Verviers hörte die Antiautoritäre Internationale faktisch zu existieren auf; denn schon zum nächsten, für 1878 geplanten, Kongress in Belgien kam es nicht mehr. Das Ende bedingte vor allem der Niedergang der Jura-Bewegung (der letzte Kongress der Jura-Föderation fand 1880 statt). Das aber war beileibe keinesfalls auch das Verschwinden der anarchistischen Ideen. Die weltweite anarchistische Bewegung hatte - und hat weiterhin - ihre Höhepunkte, sie musste - und muss das auch heute noch - Niederlagen und Verfolgungen durchleiden. Aber sie stand und steht immer wieder auf!

Nicht von ungefähr beruft sich die auf dem internationalen anarchistischen Kongress vom 31. August bis 5. September 1968 in der italienischen Marmorstadt und anarchistischen "Hochburg" Carrara gegründete "Internationale der Anarchistischen Föderationen (IAF bzw. IFA) in der Präambel ihrer Prinzipienerklärung auf die 1872 in Saint Imier aufgestellten Prinzipien. Demzufolge kämpft die IAF/IFA für die Abschaffung aller wirtschaftlicher, politischer, sozialer, religiöser, kultureller oder sexueller Unterdrückung und für die Schaffung einer "freien Gesellschaft ohne Klassen, Staaten oder Grenzen, auf Grundlage des anarchistischen Föderalismus und der gegenseitigen Hilfe". Und was geschieht heute in Saint Imier selbst?

Da steht an der Hauptstrasse das große Gebäude des 1984 als Kooperative gegründeten libertären Kulturzentrums "Espace Noir", wo sich beispielsweise 1988 die von einer Massenarbeitslosigkeit betroffenen und rebellischen Uhrenarbeiter versammelten und über direkte Aktionen gegen die Firmenbosse ratschlagten. Das "Espace Noir" ist eine auf anarchistischen Ideen beruhende selbstverwaltete Kooperative, die einer wirtschaftlich bedingten Abwanderung eine Bewegung für das soziale und kulturelle Überleben der Region entgegenzustellen versucht. Das Zentrum beherbergt einen Buchladen, eine Kneipe (in der Schweiz "Beiz" genannt), einen großen Versammlungsraum, eine Galerie, ein Theater, einen Konzertsaal, Wohnräume und ein kleines Kino.

"Espace Noir" sieht sich in einer mehr als hundertjährigen lokalen anarchistischen Tradition: Bakunin hielt in Saint Imier Vorträge bei den Uhrenarbeitern, dort entstanden die "Federation Jurassienne" und die "Antiautoritäre Internationale". Kropotkin wurde durch die jurassischen Uhrenarbeiter zum Anarchisten. 1978 wurde die "Federation libertaire des Montagnes" gegründet, die sich auf die erste anarchistische Arbeiterorganisation der Geschichte beruft und antiautoritäre Selbstverwaltung, Klassenkampf und "Bildung von Gegenmacht" propagiert, um Menschen zu ermutigen, ihren Alltag selbst zu gestalten. "Espace Noir" versteht sich als ein Ort der Solidarität und des sozialen Handelns und bietet den verschiedenen anarchistischen Richtungen ein Forum. Allein schon deswegen wäre es zu begrüßen, wenn die IAF/IFA ihren nächsten Kongress in St. Imier abhielte.

Johannes K. F. Schmidt

Originaltext: Gai Dao Nr. 3, Zeitung der anarchistischen Föderation FdA- IFA (2011). Die Gai Dao ist im Downloadbereich oder auf der Homepage des Projekts jeweils als PDF downloadbar.


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