"Es gab anarchistische Strukturen beim Aufstand im Warschauer Ghetto"
Ein Interview zum Anarchismus in Polen der 1930er und 1940er Jahre
Seit einigen Jahren berichten in der englischsprachigen Zeitschrift „Abolishing the boarders from below“ (ABB) Anarchisten aus Osteuropa von ihren Diskussionen, Kämpfen und Ansätzen. In der ABB vom Mai 2007 stand das folgende Interview zu einem neu erschienenen Buch über Anarchisten im Polen der 1930er und 1940er Jahre (leider gibt es das Buch nur auf Polnisch). Der Interviewpartner Michal Przybowski ist Anarchist und Historiker, er arbeitet hauptsächlich zur Geschichte der Anarchisten in Osteuropa.
ABB.: Wie bist du erstmals auf die Spuren von Anarchisten und Syndikalisten während des Warschauer Aufstandes gestoßen?
M.P.: Es gab sehr wenige Spuren. Da polnische Anarchisten sich bisher hauptsächlich mit der Geschichte des Anarchismus in Spanien, Rußland oder der Ukraine beschäftigten, wurde eher weniger zu der Geschichte des Anarchismus im Rest von Ost-Europa geforscht, dass hat mich schon immer gewundert. Bei uns gibt es auch keine anarchistische Tradition wie in den vorhin genannten Regionen, wobei klar war, dass es auch bei uns immer Anarchisten gegeben hat. Ich konnte jedoch keine Materialien zum Anarchismus in Tschechien, Jugoslawien oder Polen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg finden. Dies war der Hauptgrund, weshalb ich anfing, auf diesem Gebiet zu forschen. Außerdem gab es für mich persönlich den Grund, dass ich in den letzten Jahren aus zeitlichen Gründen kaum aktiv an der Bewegung teilnehmen konnte. Trotzdem wollte ich den Kontakt zu der anarchistischen Bewegung nicht verlieren, also entschied ich mich dazu, meine Arbeit den geschichtlichen Aspekten des Anarchismus zu widmen. Dabei hab ich mich besonders mit dem Anarchismus in Polen zwischen 1918 und 1945 beschäftigt.
Es war einfach sehr schwierig an Informationen zu kommen. Bisher gab es noch kein Buch, welches sich mit der Untergrundarbeit der Anarchisten und Syndikalisten in Polen während des zweiten Weltkriegs auseinander gesetzt hat. Und das wenige, was es an Informationen gab, war zum Großteil fehlerhaft. Vor zwei bis drei Jahren fing meine Forschung an. Ich hab alle Archive und Büchereien besucht, in denen es irgendwelche Informationen gab. Aber die wichtigsten Informationen und Dokumente hab ich von Familien von Menschen bekommen, die damals aktiv waren.
ABB.: Wie kam es letztendlich zu der Veröffentlichung des Buches "Am Rande des Lebens – Erinnerungen eines Anarchisten 1933- 44"?
M.P.: Den Text bekam ich von Michal Marek, Sohn von Lew Marek. Während meiner Nachforschungen stieß ich auf ihn, es war von Anfang an eine freundliche Begegnung. Während unseres ersten Treffens gab er mir eine Kopie der Memoiren seines Vaters. Zuerst gab es nicht die Idee, daraus ein Buch zu machen. Jedoch stellte ich fest, als ich diese Memoiren das erste mal las, dass es sehr wichtig ist, vielen Menschen diesen Text zugänglich zu machen, damit sie den Anarchismus jener Zeit kennen lernen können.
Pawel Lew Marek war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der anarchistischen Bewegung in Polen. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er mehrere Jahre lang Sekretär der Anarchistischen Föderation Polens (AFP), er war Redakteur der Zeitung "Klassenkampf" und während des Warschauer Aufstandes 1944 einer der Gründer der Syndikalistischen Aufstandsplattform und der Hauptherausgeber der Zeitung "Syndikalist". Diese Memoiren sind deshalb so wichtig, weil sie von jemanden geschrieben wurden, der an so vielen Aktivitäten von Anfang an teilgenommen hat. Als ich beschlossen hatte, ein Buch aus dem Ganzen zu machen fing ich an, Dokumente, Bilder und andere Bedeutende wichtige Dokumente zu sammeln. Es dauerte 2 Jahre. Hier bekam ich sehr viel Unterstützung von zwei Freunden aus Krakau, Rafal und Luckasz, die sehr viel Arbeit in dieses Buch investiert haben.
ABB.: Jetzt genauer zum Inhalt des Buches. Welches Bild entsteht über die Anarchistische Bewegung in den 30ern und 40ern? Welche Konzepte gab es in dieser Bewegung, welche Strukturen und Ziele gab es, wieviele Mitglieder und welche gesellschaftliche Bedeutung hatte die anarchistische Bewegung?
M.P.: Zwischen den Jahren 1926 und 1939 war die Anarchistische Föderation Polens aktiv, sie brachte mehrere Publikationen heraus. Zu dieser Zeit war es aufgrund heftiger Repressionen schwer, für diese Organisation zu arbeiten. Sie war deshalb sehr konspirativ. Wahrscheinlich half diese Erfahrung vielen Anarchisten, ihre Arbeit an die Bedingungen faschistischer Besatzung anzupassen. Die AFP hatte 300 Mitglieder und vertrat die Idee des Anarchosyndikalismus, die Gruppe war in der IWA-AIT, Internationale Arbeiterorganisation (anarchosyndikalistisch), organisiert. Sie waren in vielen polnischen Städten aktiv. Die größten Gruppen gab es in Warschau und Lodz. Die gesellschaftliche Relevanz war unterschiedlich, ich kann noch nichts Genaueres hierzu sagen. Die Anarchisten hatten nicht so große Strukturen wie die Sozialisten oder die Kommunistische Partei, und der Anarchismus war bei den Leuten auch nicht so beliebt wie der Kommunismus oder Sozialismus. Aber Anarchisten waren beispielsweise in der Lage, aus Solidarität mit Sacco und Vazetti eine Versammlung mit 10000 Teilnehmern zu organisieren. Außerdem organisierten sie große Wahlboykott-Kampagnen und organisierten Streiks in den Fabriken. Während des Krieges gab es zwei Organisationen: Das Komitee der Polnischen Syndikate, die die größere von beiden Gruppen war und viele militante Aktionen durchführte, sowie die Syndikalistische Organisation "Freiheit", die aus Anarchosyndikalisten bestand. Sie hatten eine illegale Druckerei und militante Gruppen. Um uns die Bedeutung der Aktionen der beiden Gruppen vor Augen zu halten, ist es wichtig zu beachten, dass in den Kriegsjahren 20 verschiedene Untergrundzeitungen veröffentlicht wurden.
ABB.: Anarchisten waren ja auch im Warschauer Ghetto und während des Aufstandes aktiv.
M.P: Von den Anarchisten aus dem Warschauer Ghetto ist sehr wenig bekannt. Dass es da Aktivitäten gab, schreibt Marek in seinen Memoiren, sonst gibt es nur wenig Informationen dazu. Ich habe es geschafft, eine alte Kopie einer anarchistischen Zeitung zu finden, die auf hebräisch im Ghetto im Jahr 1942 erschienen war. Zudem konnte ich noch Kontakt zu jemanden herstellen, der im Ghetto war und dort in Verbindung mit den Anarchisten stand. Diese Person konnte vor der "Auflösung" des Ghettos und dem Transport seiner "Bewohner" ins KZ Treblinka aus dem Ghetto fliehen. In Treblinka starben hunderttausende Menschen jüdischer Herkunft, von denen einige bestimmt Anarchisten waren. Es ist schwierig einzuschätzen, wie aktiv Anarchisten im Ghetto waren.
ABB.: Wie zahlreich waren Anarchisten und Syndikalisten im Warschauer Aufstand? Mit welchen Kräften arbeiteten sie hier zusammen? Welche Rolle spielten sie im Aufstand?
M.P.: Es ist schwer zu sagen wie groß der Anteil der Anarchisten am Warschauer Aufstand war. Aufgrund dessen, dass der Aufstand plötzlich ausbrach, waren viele Syndikalisten gezwungen, in Strukturen zu kämpfen, die nichts mit dem Syndikalismus zu tun hatten. Gleichzeitig sind Leute zufällig in syndikalistische Strukturen gekommen. Ein Beispiel hierfür ist Karoline Marek, Frau Pawel Lew Mareks, die am Anfang des Aufstandes keine andere Möglichkeit hatte, als sich den Narodowe Sily Zbrojne anzuschließen, einer nationalistischen Formation. Später traf sie syndikalistische Genossen auf der Straße und schloß sich diesen an.
Es gab jedenfalls anarchistische und syndikalistische Strukturen während des Aufstandes. Zu nennen sind hier beispielsweise die "104. syndikalistische Kompanie" und die "Syndikalistische Brigade". Besonders die "104. Kompanie" wird von den Historikern als eine der tapfersten und am besten organisierten Formationen des Aufstandes gehalten. Die beste Auskunft über die Zahl der toten Anarchisten gibt uns das Register über die während des Krieges gestorbenen Anarchisten. Dieses Register wurde nach dem Krieg angelegt und nach dem Ende des Stalinismus genutzt, um Informationen über die Toten des Krieges zu sammeln. Hieraus stammen auch 300 Namen, die wir den anarchistischen und syndikalistischen Formationen zuordnen können. Wir wissen jedoch nicht genau, wer wo starb.
ABB.: Pawel Lew Marek befand sich in einer hoffnungslosen Situation: als Pole von den faschistischen Besatzern verfolgt, als Anarchist Feindseligkeiten von nationalistischer und bolschewistischer Seite ausgesetzt, und schließlich als Jude von der Denunziation durch jeden bedroht. Gleichzeitig versuchte er, eine zukünftige Strategie für die Anarchistische Bewegung der Nachkriegszeit zu entwickeln. Was waren die Vorstellungen die in seinen damaligen Schriften rüberkamen?
M.P.: Um diese Frage eingehend zu beantworten, müsste ich das ganze Buch wiedergeben, was in einem Interview schwierig ist. Aber es ist tatsächlich so, dass Pawel Lew Marek trotz seiner trostlosen Situation an neuen Konzepten für Anarchisten in der Nachkriegszeit arbeite. Er arbeite ein ganzes Programm aus, welches auch in dem Buch enthalten ist. Die Gesellschaft sollte durch Graswurzelstrukturen von syndikalistischen Gewerkschaften organisiert sein. Nach dem Krieg, hoffte er, würde es keine Ausbeutung oder Teilung in die herrschende und die beherrschte Klasse mehr geben. Seine Schriften zeigen, dass Anarchisten ernsthaft über die Zukunft nach dem Krieg nachdachten. Letztlich entwickelte sich alles anders, und die Kommunisten erstickten jede Aktion der Anarchisten im Keime.
ABB.: Glaubst du, dass diese kürzlich entdeckten Fakten über die anarchistische Bewegung der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts in Polen das Bewußtsein der polnischen Historiker und damit der Gesellschaft verändern wird?
M.P.: Ich hoffe, dass die Memoiren von Pawel Lew Marek Einfluss haben werden. Vor kurzem erschien eine Rezension meines Buches in einer angesehenen Geschichtszeitschrift, dort hieß es, das Buch würde "die weißen Stellen der Geschichte aufdecken", da heute niemand etwas über die Geschichte der Anarchisten und erst recht nicht über polnische Anarchisten während der Besatzung weiß. Ich hoffe, dass demnächst mehr zu dem Thema geforscht wird und dadurch ein breiteres Publikum für dieses Thema interessiert wird. Es gibt sogar die ersten Reaktionen. Ein angesehener Historiker setzte sich mit mir nach der Veröffentlichung der Rezension in Kontakt und ließ mir für mich bis dahin unbekannte Dokumente zur Repression gegen polnische Anarchisten zukommen.
ABB.: Welche Bedeutung haben diese Entdeckungen der vergessenen Geschichte für die junge, gerade 20 Jahre alte anarchistische Bewegung in Polen?
M.P.: Es ist für uns auf jeden Fall wichtig. Es unterstützt die Identität der Bewegung, es hilft die Traditionen aus jener Zeit wieder hervorzurufen. In den Jahren der kommunistischen Diktatur in Polen ging jede Verbindung zur alten anarchistischen Bewegung kaputt und wir müssen alle Erfahrungen neu machen. Ich hoffe, dass das Buch uns davor bewahrt, die gleichen Fehler noch mal zu machen. Obwohl wir ähnliche Ideen haben, war die anarchistische Bewegung früher anders. 1920 oder 1930 konntest du alleine, weil du Anarchist warst, für fünf Jahre in den Knast kommen. Heute ist die Repression vielleicht nicht mehr so groß, aber für die Autoritäten bleiben Anarchisten eine Gefahr und wir müssen mit den verschiedensten Arten von Repressionen rechnen.
Wenn jemand Interesse an dem Thema hat, kann er mich über die Abolishing the Boarders from Below Redaktion kontaktieren.
Aus: Stattzeitung für Südbaden Ausgabe 70, 2007-11
Originaltext: http://www.stattweb.de/baseportal/ArchivDetail&db=Archiv&Id=844