Geschichte des Anarchismus in der Türkei

Nachdem das Osmanische Reich während des 1. Weltkriegs zusammenbrach, wurde 1923 die heutige Türkische Republik durch Mustafa Kemal Atatürk gegründet. Dies brachte grundlegende Veränderungen mit sich; so ist die Türkei beispielsweise der einzige islamische Staat, in welcher der Laizismus (die Trennung von Staat und Religion) gesetzlich verankert ist.

1920 hatte sich bereits die Türkische Kommunistische Partei gegründet. Der Kommunismus war in der Türkei aufgrund der geographischen Nähe zu Russland sehr populär, insbesondere nach der Oktoberrevolution. Die TKP war Mitglied der Komintern, und deshalb bedeutete der Kommunismus eine ernstzunehmende Gefahr für den Kemalismus von Atatürk. Die TKP wurde daher 1923 verboten und die Führer der Partei mussten fortan im ausländischen Exil leben.

Seit der Gründung der Republik stellt das Militär in der Türkei einen Staat im Staat dar. Es ist das höchste Organ des türkischen Staates und absolut unantastbar. Das Militär zu kritisieren, schlecht über es zu reden oder es gar zu verweigern, ist eine schwere Straftat. Das Militär hat eine Aufseherfunktion: es hat sich in Krisenzeiten des Staates immer wieder gegen die Bevölkerung gestellt und es mit Gewalt zum Stillschweigen gebracht. Somit verhilft es der türkischen Republik immer wieder von Neuem zu Macht und Selbstvertrauen.

Als Folge des 2. Weltkriegs (2. Imperialistenkrieg) wandelte sich die türkische Regierung erstmals von einem kemalistischen Einparteiensystem zu einem Vielparteiensystem. Die Regierungspartei war schliesslich nicht Atatürks CHP, sondern die USA-freundliche DP (Demokratische Partei) mit Ministerpräsident Adnan Menderes an der Spitze. Als dieser 1960 ein Gesetz proklamierte, um die politische Opposition auszuschalten, griff das Militär ein und machte kurzen Prozess, indem es sowohl Menderes, als auch zwei seiner Minister, erhängte.

Dann folgte die Zeit um 1968, die weltweit eine Epoche von Erneuerungsbewegungen war (z.B. Friedensbewegungen, Ökologie, Musik, , Feminismus, Hippies, Freie Liebe, Revolutionäre Politik). Von all diesen verschiedenen Bewegungen gelangte nur eine einzige in die Türkei: nämlich die politisch revolutionäre Bewegung. Die politische Bewegung in der Türkei war vor in erster Linie eine Jugendbewegung. Junge Menschen im ganzen Land wurden beeinflusst durch den Vietnamkrieg, durch die Volksaufstände in Kuba, China, Kambodscha, Laos und den lateinamerikanischen Ländern. Sie wurde ergriffen von einer Welle revolutionärer Romantik und der Marxismus-Leninismus wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt.

Die 1920 gegründete TKP (Türkische Kommunistische Partei) verlor seine Wirkung auf die Jugend; stattdessen zog die 1960 erstarkte TIP (Türkische Arbeiter Partei) die Massen zu sich. Zu jener Zeit konnte die Jugend sich noch nicht von der kemalistischen Ideologie losreissen und war deshalb auch nicht gegen das Militär, das ja ein Hüter des Kemalismus war (und ist). Erst zwischen 1969 und 1971 begannen Teile der jungen Bevölkerung, diese Ideologie in Frage zu stellen, zu kritisieren und sich gar davon zu entfernen.

Die Revolutionäre wurden nun vom Staat „Anarchisten“ genannt in dem Sinn, da sie Widerstand gegen das bestehende System leistete. Der Begriff „Anarchist“ war also damals gleichbedeutend mit „Terrorist“, ganz egal, um welche Ideologie es sich dabei handelte. Die gesamte revolutionäre Bewegung wurde von Staat und Gesellschaft als anarchistische Bewegung bezeichnet.

Als sich schließlich Staatskräfte und vom Staat bewusst geförderte zivile faschistische Organisationen verbündeten und begannen, Jugendaufstände mit Waffengewalt niederzuschlagen, waren  die Revolutionäre gezwungen, mit derselben Sprache zu antworten. Beweggrund von Staat und Faschisten war die Liebe zum Vaterland; Beweggrund der revolutionären Bewegung hingegen einerseits Notwehr, andererseits Themen wie Anti-Imperialismus, Sozialismus, Akademische Probleme an Universitäten und Gymnasien, der gewerkschaftliche Widerstand der Arbeiterinnen und Arbeiter, sowie die Durchsetzung der den Bauern versprochenen Landreform. Auch die Medien stellten sich gegen die revolutionäre Bewegung und praktizierten Antipropaganda.

1971 griff wieder das Militär ein und zerschlug die Bewegung. Drei wichtige revolutionäre Führer und etliche weitere Kämpfer wurden hingerichtet. Die Türkei geriet als Folge darauf in einen Zustand der Angst und des Stillschweigens.

Global gesehen folgte eine Zeit, in der die Kommunistischen Parteien verschiedener Länder untereinander Schwierigkeiten durchlebten. Es begannen Befreiungskämpfe von Minderheitsvölkern, sozialistische Staaten entwickelten diktatorische Herrschaften und die Vernetzung zwischen den kapitalistischen Staaten nahm zu.

All diese Umstände führten 1974 zu einem erneuten Aufkommen der revolutionären Bewegung in der Türkei. Revolutionäre Literatur wurde von einer Vielzahl von Menschen gelesen. Es gelangten aber nebst klassischer deutscher Philosophie ausschliesslich Schriften und Bücher der Komintern ins Land, so z.B. Literatur zu Themen wie Sowjetische Geschichte, Marxismus-Leninismus, Warschauer Pakt, Stalinismus, Manifeste von Kommunistischen Parteien diverser Länder und Anti-Trotzkismus. Bücher über Bakunismus, Anarchosyndikalismus, Narodniki, Linkskommunismus oder Trotzkismus gelangten gar nicht erst in die Türkei. Die Jugendbewegung war marxistisch-leninistisch und durchlebte schliesslich Fraktionsteilungen in sich selber. Ein Teil wurde durch die Sowjets beeinflusst, ein anderer durch Mao und wieder ein anderer durch Enver Hoxha. Manche wiederum verfolgten einen mittleren Weg. Die Zahl der Revolutionäre erreichte mehrere Millionen. Gleichermassen wuchsen zivile faschistische Organisationen und fuhren damit fort, bewaffnete Angriffe auf die Linke zu verüben. Bewaffnete Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung und die Lage war einem Bürgerkrieg nahe: pro Tag starben durchschnittlich 26 Personen. Auch die kurdische Bevölkerung der Türkei kämpfte aktiv gegen ihre Unterdrückung und begann Guerilla-Kämpfe in den Bergen. Die Türkei war ein brodelnder Kessel. Ein weiteres Mal griff das Militär ein.

1980 putschte sich das Militär an die Macht. 650‘000 Personen wurden festgenommen, 1.7 Millionen fichiert. Für 7000 Personen wurde die Todesstrafe beantragt, 50 Personen wurden erhängt. 570 Personen wurden zum Tod verurteilt.  299 Personen starben in den Gefängnissen durch Folter, 585 durch andere Art und Weise, 144 starben durch ungeklärte Weise,  30‘000 Personen beantragten als politische Flüchtlinge im Ausland Asyl. 23‘700 Büros von Revolutionären Organisationen wurden geschlossen, für 400 Journalisten wurde insgesamt eine Gefängnisstrafe von 4000 Jahren beantragt, für eine Zeit von 300 Tagen nach dem Putsch wurden sämtliche Zeitungen stillgelegt und publizierten nicht mehr. In allen Ecken des Landes machten die Staatskräfte Jagd auf  -wie sie es nannten-  Anarchisten und Terroristen. An allen Wänden hingen Listen mit den Namen und Fotos der sogenannten „gesuchten Anarchisten“.

Der Putsch brachte eine neue Epoche mit sich. Er stieß die Massen in ein apolitisches und asoziales Umfeld, in eine Totenstille.

Erst 1985 begann im Osten der Türkei eine neue, kurdische Bewegung in Form der PKK sowie kurdischen Marxistisch-Leninistischen Organisationen.

In Istanbul erschien die Zeitschrift „Kara“ (=Schwarz) und machte erstmals den Anarchismus publik. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei wurden nicht mehr alle revolutionären Bewegungen mit dem Etikett „anarchistisch“ versehen, sondern der Anarchismus als eine eigenständige Ideologie und Philosophie wahrgenommen. Die Zeitschrift kritisierte den Staat und die Rolle der Frau im Islam und Kapitalismus. Erstmals wurde das Thema von Frauenrechten konkret aufgegriffen. Die traditionelle hierarchische Struktur und Machtverhältnisse, auch in marxistischen Kreisen, wurde kritisiert. Die Schreiber der „Kara“ übten Selbstkritik und realisierten, dass sie sich als revolutionäre Organisationen gleich wie der Staat und wie staatliche Institutionen verhalten hatten und dass sie sich falsche Ziele gesetzt hatten. Manche Menschen aus marxistischen Kreisen, denen der Anarchismus bis dahin unbekannt war, fühlten sich durch den Inhalt dieser handgeschriebenen Zeitschrift angezogen: für sie beinhaltete die „Kara“ einen grossen Funken Wahrheit. Hier waren Gedanken geschrieben, die sie selber jahrelang gehegt hatten, aber sich selber und ihrem Umfeld gegenüber nicht auszusprechen gewagt hatten. Weil aber immer noch die Marxistische Tradition stark in der Gesellschaft verankert war, konnte die Zeitschrift nach der 6. Ausgabe nicht mehr erscheinen.

Erst in den 90-ern begann die jüngere Generation, freier zu denken. Sie war einerseits nahe genug an der linken Bewegung, um durch den revolutionären Grundgedanken beeinflusst zu werden; andererseits hatte sie den nötigen Abstand, um sie objektiv zu beurteilen. Sie übte Kritik aus an der Unterdrückung, Macht und Hierarchie, die in Marxistischen Organisationen stattgefunden hatte und ebnete so den Weg für eine Bewegung gegen Herrschaft, Autorität und Macht: der Anarchismus war geboren. Nun gelangte auch anarchistische Literatur in die Türkei. Die anarchistische Bewegung wuchs, zog die Menschen zu sich und zeigte ihnen eine neue Alternative. Viele ehemalige marxistische AktivistInnen gesellten sich zu dieser neuen Ideologie des Anarchismus, so dass in der Türkei der Altersdurchschnitt der anarchistischen Bewegung relativ hoch ist.

Heute befindet sich die Anarchistische Bewegung in allen Ecken des Alltags, sei es in Form von Organisationen, Autonomen, Initiativen oder Einzelpersonen. Die Anarchisten sind in Universitäten, Fabriken, Quartieren, Schulen und Arbeitsplätzen und greifen die Probleme der Bevölkerung auf. Auch an Orte, die der Marxismus nicht erreicht hatte, erstreckt sich der Anarchismus hinaus. Themen wie Ökologie, Vegetarismus/Veganismus, Feminismus, Transgender oder Flüchtlingspolitik, denen die Marxistische Bewegung ferngeblieben war, finden nun ihren Platz im Anarchismus. Dies beinhaltet beispielsweise gemeinsame Aktionen oder Demos mit den Betroffenen.

Beispielsweise wurde vergangenes Jahr der nigerianische Flüchtling Festus Okey auf der Polizeiwache von Istanbul-Beyoglu ermordet. Darauf starteten Anarchistische Gruppen (darunter auch wir) eine Antirassismus-Kampagne und besuchten in diesem Rahmen das Flüchtlingslager, in dem Festus Okey lebte. Dort protestierten sie gemeinsam mit den Flüchtlingen gegen den Rassismus und die brutale Gewalt des türkischen Staates.

Im März 2008 wurde die italienische Friedensbotschafterin Pippa Bacca ermordet. Sie war per Anhalter von Italien nach Israel und Palästina unterwegs. Grund ihrer Reise war es, in Krisengebieten zu Frieden und Freiheit aufzurufen. Ein Lastwagenfahrer vergewaltigte und tötete die Frau in der Nähe von Istanbul. Dies führte zu gewaltigen Protestaktionen. Anarchistische Organisationen, darunter die Karakök Autonome, organisierten mehrere Demonstrationen unter dem Motto „Wir sind keine Männer“. Es sollte signalisiert werden, dass man das türkische Männerbild ablehnte und gegen die Unterdrückung der Frauen von Staat und Gesellschaft protestierte.

Eine explizit feministische Bewegung begann -wie gesagt- erst nach 1980. Die Frauen begannen, sich unabhängig zu organisieren und Publikationen zu veröffentlichen. Während früher der 8. März von marxistischen Organisationen gefeiert wurde, wird er nun von Frauenorganisationen selber gefeiert. Es gibt heute eine Vielzahl von Frauenhäusern, in denen unterdrückte oder unter häuslicher Gewalt leidende Frauen Zuflucht finden können. Diese Frauenhäuser wurden nicht etwa vom Staat gegründet (dem Staat ist die Situation der Frauen schnurzegal), sondern von feministischen Organisationen.

Auch die Arbeiterbewegung hat einen wichtigen Platz in der heutigen Anarchistischen Bewegung und so sind Streiks, an denen Arbeiter und Anarchisten Seite an Seite streiken oder demonstrieren, an der Tagesordnung.

Um einige Beispiele zu nennen:

In einer Jeansfabrik in Istanbul, wo fertige Hosen mittels dem stone-wash Verfahren aufgehellt werden, erkranken immer mehr Arbeiter an Silikose, einer Lungenerkrankung aufgrund Inhalation von mineralischem Staub. In der Fabrik werden gemeinsam Protestaktionen mit den Fabrikarbeitern durchgefüht.

Auch in Istanbul sind am Hafen von Tuzla die Fabrik- und Hafenarbeiter elenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt. Auf ihre Gesundheit wird keinerlei Wert gelegt und immer wieder sterben Arbeiter durch Arbeitsunfälle. Aktuell sind 103 Menschen gestorben. In einer Fabrik wurden zum Beispiel als Gewicht Arbeiter anstatt Sandsäcke benutzt. Zwei Arbeiter fielen herunter und starben, zwölf weitere wurden verletzt. Der Staat sorgt nicht für eine Verbesserung der Bedingungen, im Gegenteil: protestierende und streikende Arbeiter werden immer wieder von Polizei und von zivilen Faschisten angegriffen. Die Anarchisten unterstützen die Arbeiter sowohl an Streiks, als auch durch Protestaktionen in der Innenstadt, wo die breite Masse erreicht wird.

In Düzce unterstützen Anarchistische Organisationen den Streik von 41 Fabrikarbeiterinnen und –arbeiter der DESA-Lederfabrik. In Istanbul wurde in einer Filiale derselben Fabrik die Arbeiterin Emine Arslan entlassen, weil sie gewerkschaftlich organisiert war. Aus Protest hat sie die Fabrik nicht verlassen, sondern führt seit rund zweieinhalb Monaten im Alleingang einen Sitzstreik durch. Sie protestiert nicht nur gegen die Kündigung, sondern auch gegen die Arbeitsbedingungen in der Fabrik: die Arbeiterinnen und Arbeiter beginnen täglich um 08.30, doch abends ist der Arbeitszeit keine Grenze gesetzt. Sie kann gut bis 22 Uhr andauern. Etliche Organisationen, darunter Anarchisten, Marxisten, Feministinnen und Menschenrechtler, solidarisieren sich mit Emine Arslan und leisten ihr Beistand. Die Polizei wiederum beobachtet die Aktion rund um die Uhr und fotografiert Besucher und Mitstreiker. Von vielen Menschen werden nun die Produkte der DESA Fabrik boykottiert.

Dann gibt es die Situation der IBM-Arbeiter. Diese haben am 24. Oktober 2008 eine Pressemitteilung herausgegeben, wo sie eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen sowie für das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung fordern. Sie protestieren gegen zu lange Arbeitszeiten, Lohnkürzungen, Konkurrenz- und Verkaufsstress. Um die Rechte auch der Arbeiterinnen und Arbeiter in dieser Branche zu verteidigen, wurde eine Solidaritäts-Plattform, bestehend aus verschiedenen Organisationen, gegründet.

Erstmals in der Geschichte der Türkei entstand aus der Anarchistischen Bewegung heraus auch eine radikale Bewegung gegen das unantastbare, heilige Militär. Früher waren viele Junge sogar stolz darauf, Militärdienst für das Vaterland zu leisten. Es galt das Motto: „Ein Mann ist erst ein Mann, nachdem er den Militärdienst geleistet hat“. Heute verweigern ihn immer mehr aus anti-militaristischen Gründen. Sie lehnen es ab, vom Militär für seine Ausbeutung benutzt zu werden, sich am schmutzigen und brutalen Krieg gegen die Kurden zu beteiligen und sie lehnen das Militär an und für sich ab, mit all seinen autoritären und hierarchischen Eigenschaften.

Die Verweigerung läuft für gewöhnlich so ab, dass der Verweigerer einen Anwalt, die Medien und den eigenen Freundeskreis benachrichtigt und in einem gemeinsamen Treffen seine Verweigerung bekannt gibt. Er lehnt dabei nicht nur den Militärdienst, sondern den Staat an und für sich ab. Er verkündet, nichts vom Staat zu fordern und ihm umgekehrt zu nichts schuldig zu sein. Meistens wird anschliessend der Ausweis verbrannt oder an die Behörde zurückgeschickt.

Als Folge versucht das Militär jeweils, ein psychiatrisches Gutachten einzuholen, welches die Verweigerer aber ablehnen. Durch die Medienpräsenz ist die Aktion dann in aller Munde, entsprechend wird der Dienstverweigerer nicht gleich verhaftet, sondern der Staat wartet, bis die Angelegenheit nicht mehr aktuell ist und verhaftet ihn erst dann. Dies ist ungefähr nach 1 Jahr der Fall.

Die Strafe der Verweigerung beinhaltet sowohl die Anschuldigung, das Volk dem Militär gegenüber kaltzustellen als auch, das Militär öffentlich erniedrigt zu haben. Die Gefängsnisstrafe beträgt mehrere Jahre und wird im Militärgefängnis abgegessen, wo die Verweigerer schwer gefoltert werden.

Die Anti-Militär-Bewegung ist erstmalig und einzigartig in der türkischen Geschichte. Mit der Idee einer Dienstverweigerung hat die Anarchistische Bewegung eine neue Idee in der Gesellschaft verankert und den Menschen Mut gegeben. Das Aufgreifen dieses Themas hat dazu geführt, dass weite Teile der Bevölkerung den Anarchismus nunmehr als ernstzunehmende und eigenständige Bewegung sehen und auch andere Organisationen von der Verweigerung beeinflusst wurden: so gibt es z.B. heute auch Dienstverweigerer aus Kreisen kurdischer Befreiungsbewegungen.

Die jüngste Verweigerung fand am 27. September um 19 Uhr statt. Der Anarchist Inan Mayis Aru hat sich mit rund 30 Personen am Grab von Scheich Bedreddin in Istanbul versammelt.

Zur Info: Scheich Bedreddin war ein Gelehrter und Philosoph, der um 1400 im damaligen Osmanischen Reich lebte. Mit seinen revolutionären Ideen gilt er als Frühkommunist und war Anführer mehrerer Volksaufstände. 1420 wurde er deswegen von islamischen Geistlichen als Ketzer verurteilt und erhängt.

Dort hat er seine Verweigerungserklärung vorgelesen, in welcher er verkündete, unter keinen Umständen in die Armee einzurücken. Eine Kopie der Erklärung legte er mit einem Blumenstrauss aufs Grab. Die Medien hat er bewusst nicht benachrichtigt, da er sie als einen Teil des Militarismus und der Lügen versteht, die er ablehnt. Stattdessen gab er an: „Ich glaube an die Kraft unserer eigenen Medien, unserer Informationsnetzwerke, Untergrundmagazine und –radios.“

Auch in der osttürkischen Stadt Van wurde eine anarchistische „Anti-Militär Initiative“ gegründet. Am 21. Juli verlas sie eine Pressemitteilung. In dieser rief sie die Bevölkerung auf, den Militärdienst zu verweigern. Als Folge darauf eröffnete der Staat einen Prozess gegen die Initiative.

Die Menschen in den Gefängnissen sind nach wie vor schwerer Folter ausgesetzt, sogar mehr denn je. Besonders politische Gefangene wie Dienstverweigerer oder kurdische Aktivisten leider unter Folter und fehlenden Menschenrechten, da sie als Landesverräter gelten. Im Gebze-Gefängnis ereignete sich jüngst ein Vorfall, wo inhaftierte kurdische Frauen von männlichen Inhaftierten mündlich sexuell belästigt wurden. Nach einer Weile wurde daraus eine körperliche Belästigung. Die Männer gelangten bis zu den Zellen der Frauen, zerschlugen die Fenster und stürmten hinein. 9 Frauen wurden verletzt. Weder Gefängniswärter, noch Soldaten schritten ein. Darauf angesprochen, meinten sie, die nationalen Gefühle der Männer seien ausgebrochen und man hätte dagegen nichts ausrichten können. Und das, obwohl wir erfahrungsgemäss sehr wohl wissen, wie hart und gewalttätig Soldaten und Wärter eingreifen, wenn sie wollen.

Erst vor kurzem wurde wieder ein Inhaftierter während der Folter getötet. Er war wegen des Verbreitens einer legalen Zeitschrift verhaftet worden.

Schwerwiegend ist auch die nicht-körperliche Folter, die angewandt wird, z.B. disziplinare Strafen, psychische Folter oder Isolationhaft. Auch PKK-Führer Abdullah Öcalan befindet sich seit 9 Jahren in Isolationshaft. Von seinen Anwälten wurde neulich bekanntgegeben, dass schwere körperliche Angriffe an ihm verübt werden.

Während die Marxistischen Organisationen die Anarchisten zuvor als kontrarevolutionär begriffen, haben sie mittlerweile erkannt, dass die anarchistischen Kämpfe als revolutionäre Kämpfen gegen die Staatsmacht und gegen die Faschisten stattfinden. Gemeinsam geht man in die Fabriken oder leistet Widerstand gegen zivile Faschisten, die z.B. die Schulen stürmen. Auch am 1. Mai reihen sich die Anarchisten zahlreich in die Reihen der Demonstrierenden. Gemeinsam mit allen revolutionären Organisationen werden Aktionsbündnisse gegründet. Die Parole „Es lebe die revolutionäre Vereinigung“ wurde zu einem wichtigen Schlagwort an allen Demos.

Eine Verbündung ist immer wichtiger, um der Macht des Staates eine Kraft entgegenzusetzen. Daher befinden wir uns in enger Zusammenarbeit mit den Anarchistischen Bewegungen anderer Länder. Die Grenzen des anarchistischen Kampfes wurden geöffnet und beschränken sich heute nicht nur auf die Türkei. Innerhalb der Türkei sind wir dabei, ein Bündnis aus allen türkischen anarchistischen Organisationen zu gründen: bis jetzt sind wir drei Organisationen, die eng zusammenarbeiten: Karakök Autonome, Otonom A und die AKA (Anarchistisches Kollektiv Ankara). Weitere Gruppen diskutieren aktuell eine Beteiligung an einer gesamttürkischen Föderation. Auch ausserhalb des Landes ist die Gründung von Föderationen in Bearbeitung, z.B. im Balkan oder in Griechenland. Immer wieder kommen Aktivisten anderer Länder in die Türkei oder umgekehrt. Letztes Jahr kam beispielsweise die PGA (People’s Global Action), der Wegbereiter der ersten Anti-Globalisierungswelle in Seattle, als Karakök-Gast in die Türkei.

Erstmals nahmen dieses Jahr auch türkische Anarchisten an einem IFA-Kongress teil (IFA = Internationale der Anarchistischen Föderationen). Der diesjährige Kongress der IFA fand vom 4. bis 6. Juli im italienischen Carrara statt, wo die IFA vor 40 Jahren gegründet wurde. Anarchistinnen und Anarchisten aus 32 verschiedenen Ländern berichteten über den Widerstand und die Ausrichtung im jeweils eigenen Land. Da Carrara eine bedeutende Stadt in der Geschichte der Anarchistischen Kämpfe ist, sind wir von der Bevölkerung mit offenen Armen empfangen worden und haben uns wie zuhause gefühlt: überall in der Stadt flatterten anarchistische und anarchosyndikalistische Flaggen im Wind. Am Kongress nahmen 4 Delegierte der Karakök Autonome aus der Türkei und der Schweiz teil. Wir informierten über die Geschichte des Anarchismus in der Türkei sowie über die aktuelle Situation der anarchistischen Kämpfe. Für das kommende Jahr haben wir alle anwesenden Organisationen zu einem Treffen in Istanbul eingeladen.

Originaltext: http://karakok.wordpress.com/unsere-texte/geschichte-des-anarchismus-in-der-turkei/


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