Bulgarien - Ein neues Spanien. Der kommunistische Terror in Bulgarien (1948)

Trotz der extrem heroisierenden Darstellung des Autors und problematischen Argumentationsmustern veröffentlichen wir den folgenden Text. Er gibt einen Überblick über die Geschichte des Anarchismus in Bulgarien und weist auf die Verfolgung von AnarchistInnen im totalitären System des bulgarischen Stalinismus hin. Der Autor operiert allerdings mit Begriffen wie "bulgarisches Volk", das er als besonders tüchtig, freiheitsliebend etc. dargestellt. Ähnlich problematische Heroisierungen und Zuweisungen - in diesem Fall positiver Eigenschaften - an ganze "Völker" finden sich auch immer wieder in anarchistischen Texten zum spanischen Bürgerkrieg. Die  Zuschreibungen kollektiver Eigenschaften an "Völker" (Wer gehört zum bulgarischen "Volk", wer nicht?) - auch von positiven - ist vor dem Hintergrund der völkischen Argumentation der extremen Rechten und der Ideologie des Rassismus kritisch zu hinterfragen.

Vorwort

Soweit uns bekannt, ist dies die erste Wiederveröffentlichung von "Bulgarien - ein neues Spanien", seitdem das Original vor 35 Jahren durch den Alexander - Berkman-Hilfsfond herausgegeben wurde. Der Titel der Broschüre ist völlig zutreffend, denn so, wie die Stalinisten die spanische Revolution von 1936 in ihrem Blut ertränkten, so ertränkten sie auch die Bulgarische Revolution von 1944 in Blut, in dem Blut tausender Arbeiter und Bauern, die sich von der jahrelangen faschistischen Tyrannei in ihrem Land befreit hatten.

Genau wie in Spanien gab es auch in Bulgarien eine mächtige libertäre Bewegung. Diese Bewegung war das Haupthindernis für die Stalinisten, die versuchten, eine bürokratische Diktatur nach sowjetischem Modell aufzubauen. Obwohl Kronstadt, die Ukraine, Spanien, Bulgarien, Ungarn, die Tschechoslowakei und kürzlich Polen das Gegenteil beweisen, gibt es immer noch Leute, die glauben, daß die Arbeiter dieser Länder ihre Befreiung erreicht haben. Diese Leute glauben immer noch, daß die Stalinisten, die die Arbeiter mit ihrer eisernen Ferse niedergedrückt haben, Sozialisten sind. Wen wundert es dann, wenn Millionen gewöhnlicher Menschen, die die schwülstigen Reden Scargills, Ron Browns (Member of Parliament) und all der Anderen gehört haben, Sozialisten jeder Couleur als krankhafte Feinde der Freiheit betrachten!?

Das heutige Bulgarien unter Shivkov ist einer der Staaten, die dem Stalinismus am loyalsten gegenüberstehen. Die bulgarische Armee war dabei, als dem Experiment "demokratischer Sozialismus" in der Tschechoslowakei 1968 ein plötzliches Ende gemacht wurde. Aber wie in Polen, konnte auch in Bulgarien der libertäre Widerstand nicht zerstört werden. Dort wird weitergekämpft.

Schon 1950 widersetzten sich die Bauern der Zwangskollektivierung, die nichts anderes bedeutete, als die Großgrundbesitzer durch den Staat zu ersetzen. Als sich 1956 bulgarische Anarchisten mit den ungarischen Arbeitern solidarisierten, wurden viele von ihnen eingekerkert, darunter Manol Vassev, Deltscho Vassiljev, Stefan Kotakov und Christo Kolev. Vassev starb 1958. Zwei Tage vor dem Ende seiner Haftzeit wurde er im Gefängnis vergiftet.

Im Jahre 1969 wurde eine Gruppe junger Leute wegen angeblicher "Mitgliedschaft in einer illegalen Vereinigung und Verbreitung verleumderischer Behauptungen gegen den Staat und die soziale Ordnung der VR Bulgarien" angeklagt. Sie hatten Abschriften einer Broschüre angefertigt, die von einem anarchistischen Standpunkt aus die kommunistische Diktatur, die Partei und das Bildungssystem kritisierte. Die Broschüre verteilten sie unter Studenten, Arbeitern, Parteimitgliedern und Universitätsangestellten. Während der Untersuchung protestierten sie gegen schlechte Behandlung und Folter durch die Behörden. Sie bekamen Urteile zwischen einem und fünf Jahren Gefängnis. Ihre Inhaftierung löste an der Sofioter Universität eine Revolte aus. Wütende Studenten marschierten zu einer Polizeistation. Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen wurde Christo Kolev verhaftet und 28 Tage lang verhört und gefoltert. Er wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Im Zuge der polnischen Massenstreiks von 1970 kam es auch in Bulgarien zu Streiks, die sich gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und die hohen Gehälter und Renten für alte Funktionäre richteten. Der Dichter Valeri Petrov und der Schriftsteller Christo Ganev wurden aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, weil sie sich geweigert hatten, eine Resolution zu unterschreiben, in der gegen die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Solschenizin (1970) protestiert wurde. Christo Kolev wurde erneut verhaftet, weil er auf der Beerdigungsfeier seines Freundes Penko Theofilov eine Rede gegen die Staatsbürokraten gehalten hatte. Er wurde in ein entlegenes Dorf verbannt.

Im Jahre 1974 wurde Kolev noch einmal in dasselbe Dorf verbannt, weil er bei der Errichtung eines Denkmals für den anarchistischen Partisanenkämpfer Vassil Ikonomov mitgeholfen hatte. Seine alte, in Sofia wohnende Mutter durfte Kolev nur noch selten besuchen. Im gleichen Jahr wurden die Anarchisten Alexander Nakov, Atanas Kussujev und Ljubomir Djermanov zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Gantscho Damjanov und Atanas Artukov wurden ebenfalls inhaftiert.

Dafür, daß sie französische Übersetzungen von Dokumenten der tschechoslowakischen Charta 77 verteilt hatten, wurden 1978 mehrere Dissidenten verhaftet. Wegen Verbreitung eines regimekritischen Flugblattes kam im selben Jahr Ljuben Sobadtschev für viereinhalb Jahre hinter Gitter. Nur wenig zuvor wurden drei Angehörige der pomackisch-muslimischen Minderheit (1) zu insgesamt 20 Jahren Haft verurteilt, weil sie gegen die Zwangsassimilation (im Zusammenhang damit wurden die Pomacken gezwungen, ihre muslimischen Namen in bulgarische umzuändern) der Pomacken protestiert hatten.

Sotir Ilijev, ein Architekt aus Plovdiv, bat 1980 in Österreich um politisches Asyl. In Wien wurde er gekidnappt, nach Bulgarien zurückgebracht und dort zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.

Politische Gefangene, die im Gebäude der Staatssicherheit in Sofia verhört wurden, berichteten, daß man ihnen drohte, sie schlug und ihnen den Schlaf entzog. In zwei Fällen kamen Gefangene in eine psychiatrische Anstalt, wo ihnen zwangsweise Medikamente (Drogen) verabreicht wurden. Viele Gefangene kommen in das große Staatsgefängnis nach Stara Zagora, wo sie unter extrem unmenschlichen Bedingungen leben müssen. In diesem Gefängnis gibt es mindestens 250 politische Häftlinge; viele von ihnen verbüßen langjährige Strafen. Petar Paskov, Mitglied der Bauern-Partei, verbrachte mehr als 28 Jahre in diesem Gefängnis, sein Freund Georgi Zarkin mehr als 12 Jahre. Vassil Ussunov und Georgi Kasabov, zwei Anarchisten, verbüßen ihre Strafe ebenfalls in Stara Zagora. Ussunov ist seit 26 Jahren dort, Kasabov sitzt eine 20jährige Haftstrafe ab.

Auch auf die Jugendkultur hat es das Regime abgesehen. Die Punkband "Tip Top" hat Auftrittsverbot; ihre Lieder dürfen nicht im Radio gespielt werden. Die "Crickets" erhielten Auftrittsverbot, weil sie Lieder der Beatles gespielt hatten. Trotzdem das Verbot später aufgehoben wurde, mußten sie das Eingreifen der Polizei auf einem ihrer Konzerte in der Sofioter Universität dulden. Eine andere Gruppe, "Signal", erhielt Auftrittsverbot wegen "Übermäßiger Aufreizung und Erregung" des Publikums auf einem Konzert in Burgas.

Aus den obengenannten Beispielen kann man ersehen, mit welchen Mitteln der bulgarische Stalinismus jede tatsächliche und potentielle Form von abweichendem Verhalten unterdrückt. Die Methoden unterscheiden sich in nichts von den sowjetischen. Dies ist nicht Sozialismus, sondern das Gegenteil davon: die Diktatur einer neuen Klasse, die genauso repressiv und tyrannisch ist, wie die der bulgarischen Zaren und Faschisten.

Leider gab es in Großbritannien nur wenige Solidaritätserklärungen zum Freiheitskampf in Bulgarien. Wir wissen nur von zwei: Mitte der 70er Jahre eine Mahnwache vor der bulgarischen Botschaft und dem bulgarischen Reisebüro anläßlich des Jahrestages der Revolution von 1944 und erst kürzlich eine Flugblattaktion während des Fußballspiels Bulgarien - Wales in Wrexham. Mit dieser Aktion sollte auf die Lage von Kolev, Ussunov und Kasabov aufmerksam gemacht werden. Wir hoffen, daß diese Broschüre nicht nur aus historischem Interesse gelesen wird (das hier Beschriebene geschieht heute immer noch), sondern auch aus dem Wunsch heraus, mehr über den Kampf der Arbeiter im Ostblock zu erfahren und etwas zu erfahren, um dann auch zu handeln. Die Worte Bakunins: "Freiheit ohne Sozialismus ist Privileg und Ungerechtigkeit; Sozialismus ohne Freiheit ist Sklaverei und Gewaltherrschaft" sind heute aktueller denn je. Die Geschehnisse in Bulgarien seit der Machtergreifung der Stalinisten beweisen diese Worte. Es sind Worte, die nicht oft genug wiederholt werden können!

Terry Liddle, London - Bulgaria Freedom Day, 1983

Scheinbare Befreiung

Die menschliche Sensibilität, die einst die Massen dazu bewegte, gegen empörende Ungerechtigkeiten zu protestieren, scheinen durch den letzten Krieg abgetötet zu sein. Davor war es häufig der Fall, daß Regierungen, die in verbrecherische Unternehmungen verwickelt waren, durch spontane und ehrliche Gefühlsausbrüche der Massen gezwungen wurden, nachzugeben. Oft verloren sie völlig ihre Glaubwürdigkeit. Durch die Dreyfus-Affäre in Frankreich, den hinterhältigen Mord an Ferrer in Spanien und die Exekution von Sacco und Vanzetti in den USA entstanden Protestbewegungen, die der Hoffnung auf ein menschliches Gewissen neuen Auftrieb gaben. Aber der wissenschaftlich-technische Fortschritt, der den Krieg so furchtbar blutig gemacht hat, hat es, dank des Radios, auch ermöglicht, Neuigkeiten in kürzester Zeit von einem zum anderen Ende des Planeten zu übertragen. Gewöhnt an die Beschreibungen und das Gesicht des Krieges, lernen wir, die Leiden anderer mit Selbstgefälligkeit zu betrachten. Die Herzen haben sich verhärtet; offen gezeigte Gefühle werden als kindliche Sentimentalität abgetan.

Während des Spanischen Bürgerkrieges unterstützten "demokratische" Regierungen die Faschisten, aber die internationale Arbeiterklasse blieb zersplittert und passiv, und sicherte somit (jedenfalls zeitweise) die blutige Niederlage der spanischen Arbeiter. Es gab keine größere internationale Bewegung, die etwas wirksames tat. Wenn man von den manchmal übermenschlichen Anstrengungen einiger Gruppen und Einzelner absieht, blieb die "Solidarität unter freien Völkern" ein vergeblicher Aufruf.

In vielen Staaten werden heute oppositionelle Bewegungen vollständig ausgerottet. Viele Völker werden mit grausamsten Unterdrückungsmethoden erniedrigt und geknechtet. Das bulgarische ist eins dieser Völker. Für das bulgarische Volk, das der Freiheit von Alters her zugetan war, ist die Unterdrückung besonders qualvoll. Das diktatorische, stalinistische Regime tritt die elementarsten Freiheiten mit Füßen, angefangen bei der Meinungsfreiheit. Gegen Anarchisten oder solche, die als Anarchisten betrachtet werden, wird in ungewöhnlich grausamer Weise vorgegangen, denn die anarchistische Bewegung ist bäuerlichen Ursprungs und tief mit dem Volk verwurzelt. Sie ist der Auslöser für den Freiheitskampf des bulgarischen Volkes. Und deshalb wird nicht gegen eine Gruppe von Kämpfern vorgegangen, sondern gegen den Willen eines ganzen Volkes.

Aber in den Augen großer, schlecht informierter Teile der Arbeiterschaft in der ganzen Welt bedeutet das stalinistische, sogenannt "kommunistische" Regime immer noch einen Fortschritt in Richtung des wahren Sozialismus. Über die Widerrechtlichkeit und Grausamkeit des Franco-Regimes sind sich alle Arbeiter, alle fortschrittlichen Kräfte einig, denn niemand leugnet die Existenz des Faschismus auf der iberischen Halbinsel, auch die nicht, die ihn aufgebaut haben.

Aber über die Opfer des stalinistischen Terrors in Bulgarien - die meisten von ihnen sind Anarchisten - besteht nicht dieselbe Einigkeit. Jene, die die kommunistische Propaganda für sich gewonnen hat, glauben, dort herrsche ein freiheitliches Regime. Wie kann man diese Menschen dazu bringen, daß sie endlich erkennen, daß dort ein ganzes Volk geopfert wird? Statt dessen betrachten sie die bulgarischen Anarchisten, die sich weigern, das anzuerkennen, was "kommunistische" Dialektik eine "Revolution" nennt, als Reaktionäre. Wie die Anarchisten und revolutionären Sozialisten in Rußland nach dem Staatsstreich der Bolschewiki im Oktober 1917, sehen auch die bulgarischen, in der revolutionären Tradition stehenden Arbeiter und Intellektuellen, wie Teile der internationalen Arbeiterschaft ihre Leiden ignorieren. Statt ihnen zur Hilfe zu kommen, hassen sie die bulgarischen Anarchisten.

Das ist die dunkelste Seite des bulgarischen Dramas. Die Tagespresse entfacht ein Geschrei wegen der Exekution von Petkov (2), dem Führer einer großbürgerlichen Partei, aber über das Schicksal der Anarchisten, die der Ursprung jeder progressiven Tendenz in Bulgarien sind, schweigt sie.

Dieses Pamphlet ist keine Propaganda. Es will für keine politische Organisation werben. Diese Broschüre ist für all jene veröffentlicht worden, die am Menschen noch nicht völlig verzweifelt sind. Sie ist ein alarmierender Schrei, und wir wissen, daß nur Menschen, die ein Herz besitzen, ihn hören werden. Aber es wäre Zeit, daß die Gleichgültigkeit der Entrüstung weicht.

Ihr, Menschen, die nicht vom Virus der Diktatur gequält worden sind - egal, ob weißer, grüner oder roter Faschismus - ihr, die ihr euch erhoben habt gegen so viele Angriffe auf das freie Leben und die freie Entfaltung, ihr werdet unseren Aufruf hören! Ihr werdet uns unterstützen! Die Öffentlichkeit muß informiert werden, und dadurch, daß ihr das tut, helft ihr uns. Ein Akt der Solidarität ist gefordert, denn das Schicksal der Bulgarischen Menschen ist morgen vielleicht unseres. Laßt uns unser verbliebenes Stückchen Freiheit dazu nutzen, denen zu helfen, die überhaupt keine Freiheit haben.

Das Problem der Freiheit ist nicht auf die diktatorischen Länder beschränkt. Dieses Problem existiert überall. Wenn die Freiheit in irgendeiner Ecke unseres Planeten bedroht ist - egal wo - dann kann der, der sie liebt, nicht gleichgültig bleiben.

Der Befreiungskampf eines Volkes

In der Menschheitsgeschichte hervorstechend, was das Maß an Gewalt und Ungerechtigkeit betrifft, sind die langen und schrecklichen Erfahrungen des bulgarischen Volkes mit Krieg, Unterdrückung und Sklaverei. Erst 1878, als es von der türkischen Herrschaft befreit wurde, ist Bulgarien eine unabhängige Nation. Die Geschichte des Landes ist nichtsdestoweniger sehr lang. Die finno-uralischen Krieger (Bulgaren), die dem Land seinen Namen gaben, drangen schon im 7. Jahrhundert in das Gebiet der Balkanhalbinsel ein und vermischten sich dort mit den Slawen, die schon vorher dorthin ausgewandert waren, sowie mit den Thrakern, den ursprünglichen Bewohnern des Landes.

Die tüchtigen und hartnäckigen Bulgaren mußten vor den türkischen Armeen kapitulieren; im Jahre 1393 wurde das Land von Sultan Bajazet I. Yildirim erobert. Bulgarien erwachte erst wieder am Ende des 18. Jahrhunderts. Die geistige Wiederbelebung der gebildeten Klassen begann. Erst hundert Jahre später konnte endlich die Unabhängigkeit ausgerufen werden. Aber die Unabhängigkeit brachte keinen Frieden. Pausenlos wurde dieser Teil der Balkanhalbinsel verwüstet: durch die Balkankriege, die europäischen und Weltkriege, durch den Faschismus und die "Befreiungsbewegungen". In sechs Jahrzehnten gab es in Bulgarien sechs Kriege, zwei Revolutionen und ein Dutzend faschistischer Putschs (einschließlich der beiden entscheidenden vom 9. Juni 1923 und 19. Mai 1934). Ungeachtet so vielen Blutes und so vieler Leiden, hat im unglücklichen Bulgarien erneut ein Regime seine Gewaltherrschaft mit Hilfe von Verfolgung und Unterdrückung Andersdenkender errichtet.

Ein paar Fakten aus Wirtschaft, Geschichte und Gesellschaft werden uns die gegenwärtige Situation und die Entwicklung von Ideologie und Wesen der sozialen Bewegungen, hauptsächlich der anarchistischen und anarcho-syndikalistischen Bewegung, besser verstehen lassen. Bulgarien ist ein kleines Land mit 5 1/2 Millionen Einwohnern. Das Verhältnis von Berg-, Hügel- und Flachland sowie Gewässer ist ausgewogen. Bulgarien hat aber nur einen Zugang zum Meer (zum Schwarzen Meer). In diesem Land leben viele Kleinbauern, die hart arbeiten. 83% der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft; 85% des kultivierten Landes ist in Bauernhöfe mit weniger als 25 Morgen Land aufgeteilt. Die bulgarische Landwirtschaft ist eine Art Gärtnerei (3). Der Getreideanbau steht an erster Stelle: Weizen, dann Mais. Außerdem wird eine große Anzahl von Pflanzen angebaut, die ein warmes Klima benötigen: Früchte, Mohn, Maulbeerbäume (Seidenraupen) und Rosen. Auch Viehzucht wird betrieben.

Die Industrie hat sich erst nach dem erstem Weltkrieg entwickelt. Es gibt Textil- und Tabakwarenherstellung, Getreide- und Zuckerverarbeitung, sowie Rosenölgewinnung. Normalerweise deckt die Landwirtschaft nicht nur den Bedarf an Lebensmitteln, sondern ist auch Grundlage für die Industrie. Außerdem gibt es in Bulgarien Braunkohlevorkommen (Pernik- und Bobov-Dol-Minen); es wird sogar Kupfer, Blei und Zink exportiert.

Den ebengenannten Fakten kommt eine besondere Bedeutung zu, wenn man sie im Zusammenhang mit bestimmten Charakteristika der Geschichte des bulgarischen Volkes sieht, denn jedes Stadium in der Entwicklung eines Volkes ist eng verknüpft mit der Vergangenheit.

Historische und soziale Faktoren, deren Ursprünge im Mittelalter zu suchen sind, haben in Verbindung mit spezifischen ökonomischen Verhältnissen die gegenseitige Hilfsbereitschaft und die Liebe zur Freiheit gefördert und gaben so der anarchistischen Bewegung, die eine deutlich anarcho-kommunistische Tendenz hat, ihre Wurzeln. Der Geist der bäuerlichen Gemeinde, der sogenannten Zadruga, die über ein Jahrtausend alt ist, lebt heute in den spontanen Bräuchen der Kleinbauern fort, z.B. in der gemeinschaftlichen Arbeit. Die bäuerliche Gemeinde hatte einst nur Kollektivbesitz; eine Zadruga umfasste 50 bis 100, manchmal sogar 250 Mitglieder. Heute gibt es immer noch Gemeinschaften von 15 bis 30 Personen. Eltern, Söhne, Nachkommen leben zusammen und bewirtschaften ihr Land gemeinsam.

Der im 9. bis 10. Jahrhundert aufkommende Feudalismus versetzte dem primitiven Kommunismus den Todesstoß. Die heutigen Gemeinschaftsweiden und -wälder, die Tradition der gemeinsamen Arbeit, das sind im Leben dieser Menschen die unauslöschlichen und beständigen Überbleibsel des primitiven Kommunismus. Jedes Jahr werden Gärtner-Brigaden gebildet, die dann durch das Land fahren; Erntehelfer kommen aus Nordbulgarien und aus den Gebirgsdörfern in die südbulgarischen Ebenen und ernten das Getreide; Gruppen von Bau- und Transportarbeitern werden gebildet; all das ist kollektive Arbeit. In vielen Dörfern wird das Getreide noch gedroschen, denn seit uralten Zeiten ist das Dreschen ein Gemeindefest, welches auf bestimmte Bräuche in der Zagora zurückzuführen ist. Gemeinsames Spinnen und Weben, gegenseitige Hilfe beim Häuserbauen sind alltägliche Ereignisse im Leben eines bulgarischen Dorfes.

Aber die Bewegung von ungewöhnlicher Wichtigkeit und erheblichen historischen Konsequenzen, nicht nur für Bulgarien, sondern auch für die kulturelle Wiedergeburt Europas, war der Bogomilismus (4) - eine Bewegung des Mittelalters mit deutlich anarchistischem Charakter. Der Bogomilismus, eine "ketzerische" Religion orientalischen Ursprungs, verkündet durch den bulgarischen Priester Jeremiah Bogomil, verbreitete sich zu Beginn des 10. Jahrhunderts unter den armen, ihres Besitzes beraubten Bauern. Er predigte die soziale Revolte gegen den Feudalismus und sprach sich für die Verteidigung der Bauerngemeinde durch passiven Widerstand aus. Als Religion war der Bolomilismus nicht neu: er war eine Mischung und Neuauflage von zwiespältigen Doktinien und verbotenen Religionen, die aus dem Orient stammten.

Aber in sozialer Hinsicht war er völlig neu. Es gab eine ausschließlich bulgarische und jugoslawische Bewegung, deren revolutionäre Ideologie entschieden antistaatlich war. Die Bogomilen lehnten jede Autorität kategorisch und unzweideutig ab: die ökonomische (die Reichen und ihren Wohlstand), die politische (den Staat und das Bojarentum), die religiöse (die Kirche, ihre Dogmen und ihre Geistlichen). Ihre geheimen Schriften drücken moderne soziale Vorstellungen aus, die ohne Veränderungen in Programme der heutigen anarchistischen Bewegung eingefügt werden könnten. Die Bogomilen versahen ganz Bulgarien mit einem Netz von Kommunen und wendeten die Prinzipien des freien Kommunismus an.

Nach drei Jahrhunderten des Kampfes war der Bogomilismus in Bulgarien mit Hilfe von Feuer und Schwert ausgerottet. Aber er überschritt die Grenzen und verbreitete sich in Bosnien und Italien; seine Anhänger nannten sich Patarianer und Katharer. In Frankreich beeinflußte der Bogomilismus die Albigenser und in Westeuropa war er der Boden, von dem die Renaissance und die Reformation ausging.

Bulgarien blieb fünf Jahrhunderte unter türkischer Herrschaft (1393 bis 1877). Die Knechtschaft der Bulgaren war doppelt: politisch unterstanden sie den Türken, religiös unterstanden sie den Griechen. Ein düsteres Zeitalter. Aber die Sklaverei brachte, wie immer und überall, auch hier den Willen zum Aufstand und Kampf hervor. Unglücklicherweise waren die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht geeignet, eine gut koordinierte soziale Bewegung zu schaffen. Darum nahm der Kampf den Charakter einer individuellen Revolte an: Die Haiduken entstanden, eine Art "Banditen", vergleichbar mit den Helden aus Schillers Drama "Die Räuber".

Die Haiduken-Bewegung entstand im 15. und 16. Jahrhundert; anfangs nur wenige, erwuchsen sie später zu einem großen Heer. Lange Zeit waren sie individuelle Aufrührer und professionelle Halbbanditen, fast wie Stenka Rasin (5) in Rußland. Obwohl ihre Aufstände später einen rein gesellschaftlichen Charakter erlangten, konnten sie sich nie ganz von den Methoden des individuellen Kampfes befreien.

Der große Einfluß der Haiducken-Bewegung auf das politische und gesellschaftliche Leben des bulgarischen Volkes spiegelt sich in den volkstümlichen Dichtungen wider. Dort wird der Haiduck als romantischer Held geschildert, der Gewalt und Ausbeutung bekämpft, die Armen verteidigt und ein geschworener Feind der Tschorbadshijs (alte bulgarische Bezeichnung für Großgrundbesitzer, Dorfreiche, "Herren"), Alleinherrscher und türkischen Tyrannen ist. Er ist ein Symbol für die Uneigennützigkeit und Liebe; seine Selbstaufopferung für das Volk und die Freiheit kennt keine Grenzen. Die arbeitenden Massen und ihr Hass auf Tschorbadshijs, Ausbeuter und Unterdrücker bildeten die gesellschaftliche Basis für die Haiducken-Bewegung. Die historische Bedeutung der Haiducken liegt darin, daß sie die Tradition der Unabhängigkeit, den Mut und die Hoffnung auf eine zukünftige Befreiung bewahrten und im unterdrückten Volk wachhielten. In diesem Sinne schufen sie die Vorraussetzungen für eine revolutionäre Bewegung.

Direkt verbunden mit der Haiducken-Bewegung war die nationalrevolutionäre Bewegung, die im 19. Jahrhundert entstand und den Grundstein für die intellektuelle, kulturelle und politische Wiederbelebung des Landes legte. Diese Bewegung wurde von drei gesellschaftlichen Kräften unterstützt: von den Handwerks- und Kaufmannsgilden, die sich während des 17. und 18. Jahrhunderts in den Dörfern und Städten des niederen Balkans entwickelten, von den armen und unterdrückten Bauern aus derselben Region und von der "Intelligenz", besonders den Lehrern, an deren Spitze Schüler der russischen Sozialisten aus der 1860er Periode standen.

Die Wiedergeburt Bulgariens durchlief drei Hauptphasen:

  1. Eine intellektuelle Wiedergeburt (1830 bis 1840), deren Haupterrungenschaft die Gründung christlicher Schulen war.
  2. Den Unabhängigkeitskampf der bulgarischen Kirche 1805 bis 1860), auf deren Höhepunkt die unabhängige Kirche und die Befreiung aus der geistigen Abhängigkeit von den Griechen ausgerufen wurde (Einrichtung des Exarchats 1870).
  3. Das Entstehen einer revolutionären Bewegung, die sich sowohl für die nationale Befreiung, als auch für die Lösung der sozialen Frage einsetzte.


Die letzte Phase der bulgarischen Wiedergeburt - die Entstehung einer revolutionären Bewegung - hat direkten Einfluß auf die heutige anarchistische Bewegung in Bulgarien.

Als die nationalrevolutionäre Bewegung in Bulgarien aufkam, waren fast alle nationalen Probleme Westeuropas gelöst und die sozialen Probleme standen an erster Stelle. Aus diesem Grund wurde die nationalrevolutionäre Bewegung von der Ersten Internationale stark beeinflußt und hatte eine starke sozialistische Tendenz. Die ersten Kämpfer der nationalrevolutionären Bewegung waren von den russischen Revolutionären beeinflußt worden, vor allem von Bakunin. Christo Botev, der große bulgarische Dichter, war der bedeutendste Revolutionär in dieser Zeit. Er starb heroisch an der Spitze einer Gruppe von Partisanen in den Bergen am 2. Juni 1876, zwei Jahre vor der Befreiung Bulgariens. Er hatte in Rußland studiert und mit Netschajev in Rußland gelebt. Der Schüler von Proudhon und Bakunin, der Revolutionär und bedeutende Journalist ist heute Bulgariens Nationalheld. Er inspirierte die bulgarische Jugend, und seine tief bewegenden Werke haben in ihr immer wieder die Flamme des Idealismus und des revolutionär-gesellschaftlichen Kampfes aufflackern lassen.

Zusätzlich zu diesen Traditionen wurde die anarchistische Bewegung auch durch die sozialen und ökonomischen Strukturen des Landes begünstigt: das Proletariat ist zahlenmäßig klein und die kleinbäuerlichen Landbesitzer stellen bei weitem die größte Klasse dar. Gerade wegen des familiären Charakters der Landwirtschaft und der Aufteilung des Landes in viele kleine Wirtschaften, bilden die Bauern eine arbeitende, durch drückende Steuern ausgebeutete Klasse, die den Ideen von Freiheit, Unabhängigkeit und gegenseitiger Hilfe zugeneigt ist. Schließlich kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: die außergewöhnlichen Sympathien der Bulgaren für die Freiheit.

Nichtsdestoweniger konnte die anarchistische und anarcho-syndikalistische Bewegung von den ersten Jahren der Befreiung an bis 1923 nur ein bescheidenes Wachstum verzeichnen: das Haiduckenerbe - die individualistischen Aktionen, der Einfluß des russischen Terrorismus und des französischen "Individualismus" war noch zu groß und zu gegenwärtig. Die Elite der bulgarischen Proletarier und Intellektuellen kam im Kampf um. Außerdem ging ein Teil der Kampfkraft verloren, weil sie die nationalrevolutionäre Bewegung Makedoniens unterstützten. Somit war die bulgarische revolutionäre Bewegung einer Menge mutiger Männer beraubt; ein sehr gewichtiger Verlust. Aber trotz alledem waren diese Aktivitäten ein wertvoller Beitrag zu den Befreiungskämpfen auf dem gesamten Balkan. Die Pioniere dieser Bewegung waren Anarchisten, und die bulgarische Öffentlichkeit weiß, daß die makedonische, nationalrevolutionäre Bewegung hauptsächlich das Werk bulgarischer Anarchisten war, deren klare Auffassungen von einer nationalrevolutionären Bewegung es niemals erlaubt hätten, daß der nationale Befreiungskampf vom gesellschaftlichen isoliert würde.

Wenn wir nun den Verzögerungseffekt des Terrorismus auf das Wachstum der anarchistischen Bewegung im ersten Teil des 20. Jahrhunderts erkennen, so müssen wir dabei auch beachten, daß die Teilnahme der Anarchisten an diesen Aktionen der Grund für die hohe Meinung ist, die die Bulgaren vom Anarchismus haben, denn diese Aktionen standen in direkter Beziehung zur historischen Tradition. Der unvergleichliche Mut, der Idealismus, die Selbstaufopferung dieser Revolutionäre zog die Volksmassen zum Anarchismus hin.

Während dieser Periode stagnierte die Arbeit der sozialistischen Bewegung: ebenso wie die Russische Sozialdemokratische Partei zu beginn des Jahrhunderts, spaltete sich auch die Bulgarische Sozialdemokratische Partei in zwei Teile.

Anhänger der Theorie der vereinigten politischen Aktion (Arbeiter und Kleinbauern sollten gemeinsam kämpfen) formierten sich (in Anlehnung an die Russen) zu den Shirokij (6), den rein opportunistischen Sozialdemokraten. Die Anhänger der marxistischen Auffassung, daß allein das Proletariat die revolutionäre Klasse ist, bildeten die Tensi (6), eine verbalrevolutionäre, sich auserwählt gebende, ebenfalls opportunistische sozialdemokratische Partei.

Zu dieser Zeit nahm auch die Agrarunion (7) viele Kämpfer auf. In erster Linie war die Agrarunion eine ökonomische Bewegung der Bauern, mit sehr fortschrittlichen, genossenschaftlichen und sozialistischen Tendenzen. Später strebten sie eher nach Teilnahme am politischen Kampf und die Vereinigung wandelte sich in eine politische Partei um. Nach dem ersten Weltkrieg war sie die stärkste Partei des Landes.

Andere politische Parteien in Bulgarien nach dem ersten Weltkrieg waren die Liberale Partei und die demokratische Partei, die außer an ihren Phrasen nicht zu unterscheiden waren und sich an der Macht je nach Willen des Königs abwechselten. Daneben gab es noch die Radikale Partei, die zu ängstlich war, sich einen Platz bei den beiden anderen zu erobern. Bei keiner der drei Parteien gab es etwas besonders demokratisches, liberales oder progressives; sie waren alle Diener des Königs, der mit jedem darum wetteiferte, der beste Unterdrücker des Volkes zu sein. Schließlich gab es noch die Narodrisak, die reaktionärste Partei, die Partei der reichen Kapitalisten. Obwohl sie nicht sehr viele Mitglieder hatte, übte sie doch einen großen Einfluß auf das politische und ökonomische Leben des Landes aus. Daß viele Angehörige des Klerus und fast alle aktiven und Reserveoffiziere der Armee die Wachhunde dieser Partei waren, bewies der Staatsstreich vom 9. Juni 1923, dem blutige Repressionen folgten.

Mit dem ersten Weltkrieg begann auch eine neue Entwicklung in der zum Anarchismus tendierenden revolutionären Bewegung. Schon vor dem Krieg gab es einige Gruppen, aber die Bewegung war unfähig gewesen, einen allgemeinen Plan auszuarbeiten, nach dem alle Teile der Bevölkerung von ihrer Propaganda und ihren Aktionen erreicht worden wären. Die Aktivitäten der einzelnen Gruppen besaßen individuellen Charakter: einige veröffentlichten Flugschriften und Bücher, andere waren in der Agrarunion aktiv und wiederum andere versuchten erfolglos eine revolutionär-syndikalistische Bewegung aufzubauen. Am empfänglichsten für die anarchistischen Ideen waren die Studenten: ein organisierter Steuerzahlungsboykott in Tschabla und Duran-Kulak entwickelte sich zu einem Bauernaufstand, der Generalstreik an den Hochschulen breitete sich im ganzen Land aus, schließlich erschien in dieser Zeit erstmals die Zeitung Rabotnitscheska Missal (Arbeitergedanke), die Stimme des revolutionären Syndikalismus. Nach dem Krieg wurde die Zeitung zum Organ der Anarchistischen Förderation.

Während des ersten Weltkrieges gab die bulgarische Regierung ihre Neutralität auf, um sich mit den Mittelmächten zu verbünden. Viele Anarchisten, die den imperialistischen Krieg verurteilten, weigerten sich zu kämpfen. Einige von ihnen wurden an der Front erschossen, andere im Gefängnis. Als Bulgarien in den Krieg eintrat, wurde Alexander Stambolijski, Führer der Agrarunion eingekerkert, weil er König Ferdinand als Verräter gebrandmarkt hatte. Er sprach gerne mit den Anarchisten und erfreute sich ihrer Gesellschaft. Nach dem Kriege, als er Ministerpräsident war, erklärte er in seiner berühmten Enthüllung vom Balkon des Außenministeriums aus, daß Macht und Staat selbst den moralischsten Menschen korrumpieren. Er empfahl deshalb vorsichtig zu sein. Als die Polizei Zuhörer bei einem anarchistischen Treffen in Sofia verhaftete, befahl er, sobald er davon gehört hatte, ihre Freilassung, um zu verhindern, daß die Polizei jenen Meuchelmord begehen konnte, der später als "Fluchtversuch" deklariert wird. Zwei Jahre später war er selbst von der Macht korrumpiert worden und initiierte eine riesige Unterdrückungskampagne, bei der viele Anarchisten ermordet und anarchistische Klubs zerstört wurden.

Als besonnene und hart arbeitende Menschen haben die Bulgaren wenig Sympathie für Staat und Regierungen. Viele Volkslieder drücken ihre tiefe Freiheitsliebe und ihre Bewunderung für die Haiducken aus, für jene tapferen Partisanen, die stets gegen Unterdrücker und Ausbeuter kämpften. Die drei Jahre des Krieges brachten das Faß der Leiden zum Überlaufen: das Volk warnte die Regierung, daß die Soldaten die Front verlassen würden, wenn die Regierung nicht einen Friedensvertrag unterzeichnen würde. Die Warnung blieb unbeachtet. Daraufhin desertierten die Frontsoldaten im September 1918 massenweise. Sie behielten ihre Waffen und begaben sich in die Hauptstadt, wo sie die Verantwortlichen für den Krieg, besonders König Ferdinand bestrafen wollten. Er hatte aber schon vor ihrer Ankunft abgedankt und war nach Deutschland geflohen, wo er in Sicherheit war. Die darauf folgende Niederlage Bulgariens wurde nicht als großes internationales Unglück angesehen, eher als das Gegenteil, denn Politiker und Spekulanten hatten sich in skandalöser Weise am Krieg und am "nationalen Ideal" bereichert. Die Volksmassen ließen ihrer Unzufriedenheit und ihrem Wunsch, nicht nur gegen die Profitmacher und den Krieg, sondern gegen das bürgerliche Regime überhaupt zu rebellieren, freien Lauf. Infolge seines Auftretens gegen den Krieg erfreute sich Stambolijski, der nun an die Macht kam, einer ungeheueren Popularität, besonders unter den Bauern. Er glaubte, die drohende Revolution abwenden zu können, indem er die Volksmassen spalten würde. Er wollte Stadt gegen Land aufhetzen, Konflikte zwischen beiden provozieren, um dann eine Art präventive Konterrevolution zu starten.

Die russische Revolution, deren Fortschritten das Proletariat mit Enthusiasmus folgte, ließ den revolutionären Geist erstarken. In dieser Situation bildete sich die Anarcho-Kommunistische Förderation Bulgariens und ihr Einfluß hörte niemals auf zu wachsen.

Im September 1919 trafen sich Delegierte von anarchistischen Gruppen und gründeten die Föderation der Anarcho- Kommunisten in Bulgarien. Unter dem Druck der Ereignisse kamen auch all jene zusammen, die es bisher vorgezogen hatten, sich ausschließlich der Gewerkschaftsbewegung zu widmen, all jene, die sich der Genossenschaftsbewegung, der kulturellen Bewegung, der lokalen Propaganda oder sogar individuellen Aktivitäten gewidmet hatten. Sie kamen zusammen, um die dringend benötigte föderalistische Organisation zu schaffen, die sich ihrer aller Probleme annehmen würde, die die erzieherische Propaganda koordinieren und die Volksmassen organisieren würde, die die unmittelbaren Interessen des Volkes verteidigen würde und ihr Augenmerk auf die Schaffung einer besseren Gesellschaft richten würde.

Diese erste Konferenz vereinigte die anarchistisch-revolutionäre Bewegung und gab ihr eine mächtige Stoßkraft. Verstärkte Propaganda und zunehmende Teilnahme von Kämpfern an Agitation und Streiks machten die anarchistischen Ideen und Taktiken bekannt. Der Bewegung fehlten alte Kämpfer und Erfahrungen, aber dieser Mangel wurde durch die Initiative der Einzelnen wieder aufgewogen. Um ihre Ideen zu verbreiten und am Freiheitskampf teilzunehmen, verließen viele Gymnasiasten und Studenten ihre Schule und wurden Arbeiter. Die Zahl der Sympathisanten erhöhte sich täglich; sie stieg mit den zunehmend strengeren Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung, besonders während des Transportarbeiterstreiks. Von einer unbedeutenden Bewegung kleiner Gruppen und privater Zirkel entwickelte sich die anarchistisch-revolutionäre Bewegung zu einer Massenbewegung. Die vier regionalen Vereinigungen veranstalteten regelmäßig Bildungsvorträge und Propagandaversammlungen in allen Städten und Dörfern. Die Föderation selbst war geheim und auf die Kämpfenden beschränkt. Die öffentlichen Aktivitäten fanden in Gruppen für Gesellschaftsstudien, halbsyndikalistischen Produzentengemeinschaften und Kampfgruppen statt.

Im Januar 1923 wurde der fünfte anarchistische Kongreß (der erste öffentliche, aber nicht genehmigte Kongreß) in Jambol abgehalten. Die vorherigen Kongresse waren alle geheim gewesen und in den Bergen abgehalten worden. Der Kongreß wurde mit einer Zusammenkunft im Rathaus beendet. In Jambol definierte die Bewegung ihre Ideologie, ihre Taktik und ihre Organisation in klar anarchokommunistischer Weise. Delegierte aus dem ganzen Land berichteten über Organisations- und Propagandaerfolge der einzelnen Gruppen. In Jambol selbst, in Nova Zagora, Haskovo, Kjustendil, Radomir, Kilifarevo und Delebets waren die Arbeiter mit der anarchistischen Bewegung in Berührung gekommen. Große Fortschritte waren in Plovdiv, Sofia, Burgas, Russe etc. gemacht worden.

Die Beschleunigung der Staatsrepression gegen die Arbeiterbewegung und besonders gegen die anarchistische Bewegung war das Hauptthema des Kongresses. Einmal an der Macht, hatte Stambolijski - Vorsitzender der Agrarunion und gleichzeitig Ministerpräsident - begonnen, die Linken zu verfolgen und die Rechten zu unterstützen. Sein Polizeipräfekt Prudkin, der russischer Abstammung war und eine obskure Vergangenheit hatte, inszenierte Attentate, um die Repressalien gegen die Arbeiterbewegung zu rechtfertigen. Mehrere Volkshäuser und Säle der Kommunisten wurden in Brand gesteckt. Bei den Anarchisten wendete Prudkin das System des Fluchtversuchs an: wenn er einen Kämpfer als zu "belästigend" empfand, verhaftete er ihn und schoß ihm von hinten eine Kugel in den Kopf. Der Presse wurde verkündet, daß solcherart gefährliches Individuum erschossen wurde, weil es versucht hatte zu fliehen. Diese Meuchelmorde wiederholten sich häufig; es wurden immer mehr. Es gab offensichtlich eine riesige faschistisch-reaktionäre Offensive. Das bestätigten Stellungnahmen von Kämpfern der Agrarunion. Die Faschisten stellten die Regierung vor vollendete Tatsachen. Aus leichtsinnig geführten Gesprächen war auch bekannt geworden, daß in der Makedonischen Autonomie Organisation und in der Militär-Liga (8) ominöse Dinge vor sich gingen.

Der Faschismus an der Macht

Es war am Vorabend der entscheidenden Ereignisse. Die Anarchisten, die an der vordersten Front des Kampfes standen, waren sich als erste der Gefahr bewußt. Die 10% Reaktionäre wären nicht so gefährlich für die anderen 90% der Bevölkerung gewesen, wären eben diese 90% bewaffnet gewesen. In dieser Situation verbreiteten die Anarchisten die Losung: "Bewaffnet das Volk!" Aber allein sie begriffen die neue Situation, allein sie schlugen die Bewaffnung des Volkes - die effektivste Verteidigung gegen den aufsteigenden Faschismus - vor.

Trotz ihres revolutionären Geredes hatte der Opportunismus die kommunistischen Führer für sich gewonnen. Schon 1919/20, als der revolutionäre Druck von Seiten des Volkes das kapitalistische Regime umzustürzen drohte, legte der kommunistische Führer und Theoretiker Dimitur Blagoev die berühmte These der "drei Viertel aus dem Ausland" vor. Das bedeutete, daß drei Viertel der Kräfte in einer erfolgreichen bulgarischen Revolution aus dem Ausland würden kommen müssen. So gründlich wie keine andere war Blagoevs Fehleinschätzung der revolutionären Energien des bulgarischen Volkes, das täglich seine Bestimmung, dem kapitalistischen Regime ein Ende zu setzen, unter Beweis stellte. Die reaktionäre Bourgeoisie beobachtete all dies und verdoppelte ihre Aktivitäten mit dem Ziel, die Volksmassen zu spalten.

"Ähnlich" reagierten auch die Kommunisten. Anstatt dem Beispiel derer zu folgen, die Kampfgruppen bildeten und die Bewaffnung des Volkes forderten, verbreiteten sie weiterhin ihre lautstarke, kurzsichtige Propaganda. Die durch die Macht vergifteten Anhänger der Agrarunion nahmen die faschistische Gefahr nicht ernst; ihre Führer suchten krampfhaft nach Wegen, die Uneinigkeit der Massen noch zu verschärfen und dachten an nichts anderes, als an die Niederwerfung der Kommunisten und Anarchisten. Sie organisierten eine Kampfgruppe, die "oransheva guardija" (Orangene Garde) (9), die jedoch als Repressionsinstrument gegen Streikende, sowie demonstrierende Arbeiter und revolutionäre Bauern eingesetzt wurde.

Die Sozialisten waren von allen linken Gruppen die verwirrteste - so verwirrt, daß einige von ihnen, als der faschistische Staatsstreich begann, unter Dimo Kazasov an dem faschistischen Vorhaben teilnahmen. Dimo Kazasov schloß sich der Regierung des finsteren Professor Cankov (10) an.

Von den revolutionären Anarchisten waren die meisten vorausschauend und angriffslustig. Fürchtend, daß ein Staatsstreich den gesamten antifaschistischen Widerstand der anarchistischen Bewegung auf den Plan rufen würde, entschlossen sich die faschistischen Führer, ihre Geheimagenten aus der Polizei und besonders ihre geheime "Liga der Offiziere der regulären Truppen" (11) dazu zu benutzen, die anarchistische Bewegung zu liquidieren, bevor sie einen Putschversuch machen würde.

Am 26. März 1923 rief die anarchistische Organisation die Arbeiter von Jambon zu einer Versammlung auf dem zentralen Platz der Stadt auf. Es sollte gegen die Ermordung von Kämpfern protestiert und die Bewaffnung des Volkes gefordert werden. Die Versammlung war vom Militärkommandant verboten worden. Zur festgelegten Stunde wurde der Platz von Truppen besetzt und Truppen wurden auch an strategisch wichtigen Punkten der Stadt postiert.

Es gelang den Anarchisten in kleinen Gruppen den Platz zu erreichen; einige waren schon dort, einschließlich des ernannten Redners. Nachdem er einen günstigen Augenblick abgewartet hatte, stieg er auf eine Bank und begann zu sprechen. Nach einer einzigen Warnung gab der Kommandant den Befehl zu schießen. Der Redner und einige andere Kameraden wurden von der ersten Salve verwundet. Anstatt sich in Sicherheit zu bringen, beantworteten die Zuhörer das Feuer so energisch mit Pistolenschüssen und Handgranaten, daß es die Truppen waren, die fliehen mußten. Das erbitterte Gefecht dauerte zwei Stunden. Die zwei in Jambol stationierten Regimenter reichten nicht aus; der Kommandant mußte aus einer benachbarten Stadt ein Regiment mit schwerer Artillerie anfordern. Trotz des Mutes und der Kühnheit der Anarchisten, war die zahlen- und vor allem waffenmäßige Überlegenheit der Regimenter niederschmetternd. Sie entschieden sich, das Feuer einzustellen und sich im Schutze der Nacht zu zerstreuen.

Nichtsdestoweniger nahmen die Soldaten 26 von ihnen gefangen und brachten sie zu den Baracken. Um Mitternacht warteten sie, aufgestellt in einer Reihe und die auf sie gerichteten Maschinengewehre anstarrend, ruhig und trotzig im Barackenhof. Ein höherer Offizier kam und befahl: "Laßt die, die Anarchisten sind, drei Schritte nach vorn treten!" Wie ein Mann, traten alle drei Schritte vor. Der Offizier gab den Maschinengewehrschützen den Befehl zu feuern. Die 26 Männer wurden von den Kugeln niedergemacht. Niemand hätte von diesem hinterhältigen Mord ohne Gerichtsverfahren und Urteil etwas erfahren, wenn nicht eines der Opfer, der verwundete Student Obretenov es, von der Dunkelheit begünstigt, geschafft hätte, durch den Stacheldraht zu kriechen, von dem die Baracken umgeben waren. Er erreichte das Krankenhaus und erzählte, was geschehen war. Unter den ängstlichen Wärtern war einer, der ihn anzeigte, und binnen einer Stunde kamen die Soldaten und töteten ihn ebenfalls. Aber die Wahrheit war bekannt. Am folgenden Tage nahm das Militär wieder einige Kämpfer gefangen und erschoß sie. Alle anderen konnten sich in benachbarten Städten und Dörfern und in den Bergen verstecken. Am gleichen Morgen, noch bevor die Neuigkeiten sich verbreitet hatten, stürmten Truppen den Saal der Anarchisten in Sofia und verhafteten die Anwesenden. Aber schließlich konnten die Anarchisten in ganz Bulgarien alarmiert werden und Vorsichtsmaßnahmen ergreifen.

Wie reagierte die öffentliche Meinung auf dieses Massaker und die faschistischen Verfahrensweisen? Die Mörder von Jambol standen unter dem Schutz der Regierung und, um von sich abzulenken, begab sich Stambolijski persönlich nach Sofia, um Gefangene freizulassen. Auch angesichts dieses großartigen Beispiels von Mut und Selbstaufopferung der Anarchisten, konnte die kommunistische Presse ihre gewohnheitsmäßige Feindschaft ihnen gegenüber nicht einschränken. Ein junger Kämpfer aus Jambol, G. Stoinov, hielt die Attitüden seiner Partei nicht mehr aus und beging Selbstmord. Die Kommunisten, deren Einfluß auf die Massen größer wurde, hielten diesen Kampf nicht für wichtig.

Die Parteien der Bourgeoisie schwiegen; sie verstanden, daß die erste Phase ihrer faschistischen Offensive begonnen hatte. Von da an überschlugen sich die Ereignisse: drei Monate später, am 9. Juli 1923 fand der Staatsstreich gegen die Agrarunion-Regierung von Stambolijski statt, der sich in erster Linie gegen die Arbeiterklasse und die revolutionäre Bewegung richtete. Die Zveno-Gruppe (12), die von Vertretern aller großbürgerlichen Parteien und der Sozialistischen Partei repräsentiert wurde, die die Militär-Liga, die Makedonische Autonomie Organisation, die Organisation der Reserveoffiziere und der niederen Offiziere kontrollierte, und die sich seit der "Befreiung" die Macht mit den Kommunisten teilt, diese Zveno-Gruppe führte den Staatsstreich erfolgreich durch. In Sofia wurden die Minister der Agrarunion verhaftet. Stambolijski wurde in seinem Dorf Slavovica gefangengenommen und ermordet. Die "oransheva guardija" leistete nur sehr kurze Zeit und nur in Pleven Widerstand. Die kommunistische Partei blieb bei ihrer üblichen Passivität und bewahrte ihre Ruhe. Das Zentralkommitee der Partei erklärte: "Laßt die zwei Bourgeoisien (auf dem Land und in der Stadt) sich einander umbringen!"

Die Anarchisten, die von der Stambolijski-Regierung verfolgt und erschossen wurden und immer noch die Narben von Jambol trugen, versuchten gegen die Putschisten Widerstand zu leisten: in Kilifarevo erhoben sie sich, verbündeten sich mit den örtlichen Kommunisten und Agrariern und widerstanden den Angriffen der Armee mehrere Tage lang. Sie eroberten sogar die Stadt Drenovo und mehrere Dörfer am Fuße des Gebirges.

Hätte die kommunistische Partei an diesen Aktionen teilgenommen und wären die Agrarier besser vorbereitet gewesen, wäre der Aufstand an vielen Orten ausgebrochen und hätte dem faschistischen Staatsstreich ein Ende gemacht. Diese Ereignisse erinnern an den faschistischen Putsch in Spanien 1936: ein vorbereiteter Plan und ein massiver faschistischer Angriff. In Bulgarien bauten die Anarchisten, obwohl auf Massenaktionen nicht vorbereitet, einen unbeugsamen Widerstand auf: nicht, um ihr Ideal des freiheitlichen Kommunismus zu verwirklichen und weniger noch, um die Stambolijski-Regierung zu retten, sondern einfach, um eine faschistische Herrschaft zu verhindern.

Später "erkannten" die bulgarischen Kommunisten, angespornt durch Moskaus Vorwürfe, "ihre Fehler" und organisierten (im September) einen Aufstand (13). Aber die bulgarischen Kommunisten hatten keine Erfahrung mit revolutionären Aktionen und der Plan wurde schon im voraus von den Behörden entdeckt. Der Aufstand scheiterte. Die Anarchisten nahmen an ihm aktiv teil, hatten wichtige Erfolge, aber viele Opfer. Die Barbarei der erschrockenen faschistischen Bourgeoisie war ungehemmt: Baracken, Schulen und Gefängnisse waren voll von Antifaschisten. Jede Nacht suchten die Folterer nach Opfern. Schwarze Lastwagen transportierten die Leichen ab und warfen sie über eine Klippe oder in eine Schlucht. Jede Nacht, tage-, wochen- und monatelang wurden verstümmelte Leichen von Gefängnisbooten aus in die Donau geworfen. Unter den Kämpfenden, wie unter den Toten hatten Agrarier, Anarchisten und Kommunisten ihre Helden und Märtyrer. Die Zahl der ermordeten Antifaschisten - Bauern, Arbeiter und Intellektuelle - stieg auf 35.000 an. Die Zahl der zum Tode, zu Gefängnis und langen Strafen Verurteilten war sehr hoch. Als Antwort auf diese Schlächterei wurde in der Sofioter Kathedrale ein Attentat verübt. 220 Personen starben, darunter 13 Generäle und Minister (14).

Wir befinden uns hier in den dunkelsten Jahren der faschistischen Reaktion. Während der ganzen Zeit dieses Regimes gab es immer Partisanen. Die ersten bulgarischen Partisaneneinheiten bestanden aus Anarchisten. Die Kommunisten, als erklärte Feinde dieser Taktik, beschäftigten sich mit ihren elitären Schlachten und verloren dann erneut das Interesse am revolutionären Kampf. Von 1923/24 an formierten die Anarchisten Vassil Ikonomov, Vassil St. Popov (Geroi), Tinko Simov, Georgi Popov, die Brüder Tumangelov und viele andere Partisanengruppen, die in den Bergen kämpften und den revolutionären Eifer des bulgarischen Volkes wachhielten. Die blutigste Unterdrückung konnte nicht zerstampfen, was nicht sterben wollte: die Liebe zur Freiheit und der Wille, zu ihrer Wiedererlangung um sie zu kämpfen.

Die erste Aktion größeren Ausmaßes unter dem faschistischen Regime war der erfolgreiche Generalstreik der Tabakarbeiter. Der hauptsächliche Führer hierbei war der Anarchist Ivan Konstanjov, ein Kämpfer aus Plovdiv. Die studentische Jugend und speziell die Föderation der Anarchistischen Studenten (BONSF) zeichnete sich durch ständige Aktivitäten aus, ungeachtet aller Gegenschläge, Verfolgungen und Ermordungen. Schließlich müssen wir noch dem passiven Widerstand der Bauern unsere Aufmerksamkeit schenken. Sechs, sieben Jahre lang taten sie alles, um die Steuerzahlungen zu umgehen, trotz Beschlagnahmungen und öffentlicher Versteigerungen. Aber selten wagte jemand, solche Ware zu kaufen. Die Steuereinnahmen machten nicht einmal die Hälfte des veranschlagten Budgets aus.

In diesen blutigen Auseinandersetzungen verlor die anarchistische Bewegung viele Kämpfer. Aber es gab auch andere Verluste, Verluste, die durch die Zusammenarbeit mit Politikern, vor allem denen der Kommunisten resultierten. Die "Volksfronttaktik" ist in der Tat eine kommunistische Idee und im Grunde ein Manöver, um "Schwesterorganisationen" zu absorbieren. Einige ließen sich von den Umständen überrollen, und eine "revisionistische" Tendenz entwickelte sich in der Bewegung. Jene, die eine enge, kontinuierliche Zusammenarbeit mit den antifaschistischen politischen Parteien pflegten, suchten eine Selbstrechtfertigung in der Revision grundsätzlicher anarchistischer Ideen.

Andere, die hofften, eine ausschließlich syndikalistische Bewegung aufbauen zu können, gingen soweit, daß sie behaupteten, das Proletariat habe das Recht, durch seine Gewerkschaften das Leben einer ganzen Gesellschaft zu organisieren und zu bestimmen, obwohl das Proletariat in Bulgarien nur 10% ausmacht. Diese Periode der Verwirrung gab der Föderation dennoch Erfahrungen, aus denen sie lernen konnte, jede Zusammenarbeit mit politischen Parteien zurückzuweisen, wenn sie nicht auf der Basis der revolutionären Aktion ablief.

Im Jahre 1931 wurden Wahlen abgehalten. Trotz der sorgfältigen Vorkehrungen zu ihren Gunsten, verloren die Faschisten und Profaschisten die Wahl. Bulgarien hatte nun eine Art demokratische Regierung, aber die Allmacht der Armee und Polizei war nicht beseitigt. Rede- und Versammlungsfreiheit waren so begrenzt, daß dieses Regime von einer Diktatur kaum zu unterscheiden war. Nichtsdestoweniger stellte es doch eine geringe Verbesserung gegenüber den mehr als neun Jahren offener faschistischer Herrschaft dar.

Die antifaschistischen Gruppen begannen ihre Aktivitäten wieder aufzunehmen. Zahlenmäßig gesehen waren die Agrarunion und die Kommunistische Partei die beiden stärksten Gruppierungen, dicht gefolgt von der Anarchistischen Föderation. Anarchistische Periodika und Publikationen erschienen, obwohl streng zensiert und oft beschlagnahmt, von neuem: kleine Schriften, theoretische Magazine, Pamphlete und Bücher. Die Bewegung wurde rasch wieder aufgebaut, mußte aber immer noch im Untergrund bei äußerster Geheimhaltung arbeiten. Darüber hinaus waren anarchistische Arbeiter-, Bauern- und Kulturorganisationen verboten. Geschickte Ausweichmanöver ermöglichten es der Bewegung jedoch wesentliche Fortschritte zu machen. Die anarchistische Bauernorganisation Union Vlassovden umfasste 130 Gruppen. Außerdem gab es 40 syndikalistische Gruppen.

Auf kulturellem Gebiet hatten die Anarchisten während des Faschismus die Bewegung der "Enthaltsamen Jugend" geschaffen, die unter diesem anständig klingenden Namen ausgedehnte Aktivitäten entwickelte. Sie hatte Zweige in allen Städten, Dörfern und an allen größeren Schulen. Die Kämpfer der Föderation hatten auch eine Vereinigung von anarchistischen und sympathisierenden Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Schauspielern, Ärzten, Ingenieuren, Wissenschaftlern und Intellektuellen gegründet.

Diese Aktivitäten wurden erweitert und intensiviert, nachdem der Generalkongreß im September 1933 die anarchokommunistische Basis der Föderation erneut bestätigt hatte (+). Aber im Mai 1934 bereitete die Militär-Liga einen neuen Staatsstreich vor. Hoffend, die Freiheitsliebe für immer zu ersticken, ging die reaktionäre Bourgeoisie zu den behördlichen Methoden über. Das Militär, das jede Erscheinungsform des gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Lebens reglementierte, führte die "neue Ordnung" ein. Diese "neue Ordnung" war in Wirklichkeit sehr alt; das bulgarische Volk war nicht zu täuschen.

Der totalitäre Staat strebte danach, alle gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Organisationen seiner direkten Kontrolle zu unterstellen. Aber wenn aktiver Kampf nicht mehr möglich ist, findet der passive Widerstand manigfaltige Ausdrucksformen. Wenn jemand nicht länger eine Zeitung nach seinem Geschmack veröffentlichen darf, dann braucht er folglich auch nicht die aus den staatlichen Lügen- und Verschleierungsfabriken zu lesen. Wenn man nicht mehr eine Vereinigung in Übereinstellung mit seinen Vorstellungen und Bestrebungen organisieren darf, dann braucht man auch nicht zu einer Organisation zu gehören, deren Ziele einem direkt entgegenstehen.

Beiträge für Zwangsmitgliedschaften wurden natürlich wie Steuern kassiert, aber wenn jemand sich nicht immer dem Besuch einer Versammlung entziehen konnte, so entband er sich doch davon, an der Diskussion teilzunehmen. Und was die Arbeit betrifft: keiner strengte sich an. Natürlich wird das Problem nicht durch all diese Dinge gelöst, und es ist nicht genug, um ein Unterdrückerregime zu beseitigen. Aber es kommt die Zeit, da die Entrüstung nicht mehr zurückgehalten werden kann: es gibt Revolten, erst individuelle, dann kollektive, aber es gibt auch Gewehrkugeln, Gefängnis und Konzentrationslager.

Im letzten Krieg wuchs der passive Widerstand während des deutschen Überfalls ungeheuer. Es gab auch bewaffneten Widerstand, aber auf einmal glich dieser auffallend stark dem der Putschisten von 1923. Als neue Partisanengruppen entstanden, versuchten die Kommunisten, diese Kampfform für sich zu vereinnahmen. Die Anarchisten beteiligten sich an dieser Bewegung. Ob sie unabhängig von den Kommunisten oder mit ihnen kämpften, die Zahl der Opfer war bei den Anarchisten fast genauso groß. Und sie nahmen teil an der Befreiung vom 9. September 1944 (15).

Bulgarien, das bis zu diesem Datum besetzt war, kämpfte gegen die Gestapo und den Nazismus. Es war ein Pulverfaß. Die stringentesten Maßnahmen wurde ergriffen, um jeden Protestversuch zu erdrosseln, aber das bulgarische Volk stellte seine außergewöhnliche moralische Kraft unter Beweis. Tausende Bauern und Arbeiter wurden erschossen, ihre Häuser verbrannt. Oftmals rächten sich die Faschisten an einem einzelnen Widerständler, indem sie Frau, Kinder, Eltern, Brüder und Schwestern ermordeten. In diesem Kampf waren die bulgarischen Syndikalisten und Anarchisten die Vorhut, sowohl, was die Widerstandsgruppen, als auch die Sabotagegruppen in den Fabriken anbetrifft.

Das "Neue Zeitalter"

Der Faschismus hitlerischen Typs wurde in Bulgarien am 9. September 1944 beseitigt. Das bulgarische Volk dachte, es wäre nun in einer Situation, reich an ausgezeichneten Möglichkeiten. Fabrik- und Werkstättenkommitees, die sich aus Arbeitern zusammensetzten, wurden spontan gebildet. Neue lokale Kommitees übernahmen die Verantwortung für die Verwaltung. In Straßen und auf öffentlichen Plätzen zeigten die siegreichen Menschen offen ihren revolutionären Willen. Die Gewerkschaften reorganisierten sich. Aber Sowjetrußland war nahe; die rote Armee besetzte das Land. Wie es ihre Gewohnheit ist, wenn das Volk rebelliert, eroberten die Führer der politischen Parteien die Macht zurück. Sie schreckten nicht davor zurück, harte Maßnahmen gegen die Revolutionäre zu ergreifen. Langsam, aber systematisch machten sie alle Erfolge eines Volkes zunichte, welches gehofft hatte, daß mehr als ein einfacher politischer Umschwung stattfinden würde.

Auf Drängen der Kommunisten fanden sich eine Reihe politischer Gruppen zusammen und gründeten die Vaterländische Front. Diese Gruppierung kam an die Macht. Ihre Führer wurden zu den neuen Diktatoren des neuen Bulgariens. Die Charaktere der dahinterstehenden Gruppen waren in vielen Fällen zweifelhaft, ihre Vergangenheit häufig reaktionär. Einige ihrer außenstehenden Mitglieder hatten bei dem faschistischen Staatsstreich 1934 eine entscheidende Rolle gespielt.

Die Zveno-Clique mit ihren niederen und Reserveoffizieren hatten an den Putschen von 1923 und 1934 teilgenommen. Einer dieser Männer, der neue Ministerpräsident Kimon Georgiev (16) war schon nach dem Putsch von 1934 Ministerpräsident gewesen und hatte versucht einen Staat nach mussolinischem Muster einzuführen. Später hatte er sich aus persönlichen Motiven einigen anderen Männern aus der Armee angeschlossen und stand in Opposition zum König.

Mit Reaktionären diesen Typs arbeiteten die Kommunisten zusammen. Mit diesen Reaktionären teilten sie die Macht. Sie schufen eine Übergangssituation, um sich den Weg für eine ausschließlich kommunistische Machtergreifung freizumachen. Durch die Nähe Sowjetrußlands, durch die Anwesenheit russischer Truppen in Bulgarien und durch das sich langsam aber unbarmherzig über das ganze Land verbreitende Unterdrückerregime wurde dieser Prozeß erleichtert. Patriotische Propaganda - Vaterländische Front, "nationale Wiedergeburt" - gab dem ganzen ein gutes Äußeres.

Das Programm der Vaterländischen Front verschleierte absichtlich die Realität: es täuschte vor, das Recht des Volkes auf Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, sowie politische, kulturelle und juristische Rechtlichkeit wieder eingeführt zu haben. Aber von Anfang an gab es gewisse bezeichnende Beschränkungen: nur die herrschenden Parteien oder Gruppierungen, die sie unterstützten, konnten Zeitungen, Magazine und Bücher veröffentlichen, Versammlungen , Konferenzen und Kongresse organisieren oder öffentlich aktiv werden. Alle anderen sollten einfach nur arbeiten und still sein. Wenn sie es wagten, ihre Meinung über die gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen oder ihre nicht konformen Vorstellungen über gesellschaftliche Veränderungen mündlich oder schriftlich auszudrücken, mußten sie damit rechnen, in ein Konzentrationslager verschickt zu werden, genau wie in den Tagen der faschistischen Herrschaft. Diese Maßnahmen waren ganz eindeutig nicht gegen die Faschisten gerichtet, denn eine ihrer Parteien, die Militärclique war an der Macht. Die Anarchisten beteiligten sich nicht an der Vaterländischen Front, obwohl sie in einigen Orten durch die lokalen Kommitees repräsentiert wurden.

Die Kommunisten strebten danach, jede Freiheit abzuschaffen und ganz allein die Macht zu übernehmen. Später gewannen sie die Kontrolle über die parlamentarische Mehrheit. Sie sind nun dabei, die Vaterländische Front (17) in eine einzige Partei umzuformen. Dann werden andere Parteien nicht mehr toleriert werden. Bulgarien wird ein Ein - Parteien - Regime haben, mit genau derselben absoluten Macht, wie sie die Kommunisten in der Sowjetunion haben.

Eine der hauptsächlichen Maßnahmen, die von der kommunistisch gelenkten Regierung ergriffen wurden, war die totale Kontrolle der Gewerkschaftsbewegung. Selbstverständlich ist die demokratische Grundlage der Gewerkschaften in ihren Statuten festgelegt. Aber die Kommunisten wandelten die Gewerkschaften schnell in ein Instrument der Regierungspolitik um. Mit Drohungen oder Gewalt wurden ihre Mitglieder dazu gezwungen, Versammlungen und Demonstrationen zu besuchen und den kommunistischen Rednern zuzuhören. Anstatt die Arbeiterklasse zu verteidigen, wiederholten diese zuverlässigen Diener die offiziellen Slogans ihrer Partei. Mit rein faschistischen Methoden wurden die Arbeiter in eine einzige Gewerkschaft dirigiert. Die Mitgliedschaft ist nun obligatorisch. Jede Kritik an der Partei und ihren Mitgliedern, sogar die mildeste, ist sehr riskant; sie zieht Haft in einem Konzentrationslager nach sich. Die Methoden der Gewalt legen den Arbeitern Schweigsamkeit auf. Ein organisiertes Aushorch- und Informationssystem in der Arbeiterschaft und im liberalen Bürgertum perfektionieren diese Methoden.

Jeder Widerstand gegen diese Politik, die so gefährlich für die Arbeiterklasse ist, wird "faschistische Verschwörung" genannt. Die Gewerkschaften müssen die Politik der Regierung, die Löhne kürzt, Schichtarbeit einführt, die Konkurrenz unter den Arbeitern fördert und die Hierarchie des Lohnsystems verschärft, vorbehaltlos akzeptieren. Die Arbeiterorganisation ist folglich ein fügsames Werkzeug in den Händen des Staates, in den Händen der Regierung. Das ist roter Faschismus, schlicht und einfach.

Die Anarchisten wurden schon sehr früh das Ziel der Verfolgung durch den Totalitarismus, kurz nachdem die Russen erschienen. Anfangs konnte die Regierung nicht umhin, der Freiheit eine Gestalt zu verleihen. Gebäude wurden wiedereröffnet und die Zeitung Rabotnitscheska Missal erschien wieder. Aber nicht lange, und die Gebäude wurden überall geschlossen. In Sofia dauerte alles etwas länger. Von der Zeitung erschienen nur 8 Ausgaben (18); nach der Konfiszierung der achten Ausgabe hörte sie endgültig auf zu erscheinen. Sie wurde verboten. Jede Propaganda, mündlich oder schriftlich, jede frei organisierte Aktivität ist verboten. Bücher und Propagandaschriften werden regelmäßig beschlagnahmt und verbrannt. Die ganze Bewegung wurde erneut in den Untergrund getrieben.

Es war ein vorbereiteter Plan: Anfangs, als die Erinnerung an die Heldentaten in den Herzen der gesamten Bevölkerung noch lebendig war, erkannte die Polizei die Notwendigkeit von Vorwänden für ihre willkürlichen Maßnahmen. Manchmal ließen sie sogar Gefangene frei. Aber sie waren nicht sehr zuverlässig. Ein Beispiel: Um sich einen "demokratischen" Anschein zu geben, hatte die neue Regierung der Vaterländischen Front die Pressefreiheit und die Abschaffung der Zensur verkündet. Aber seit die Einfuhr von Zeitungspapier Monopol des Staates geworden war, bestimmte der Minister für Information die Zuweisungen. Nach zahlreichen Anträgen wurden sie für das Organ der Anarchistischen Föderation genehmigt, aber sehr bald wurden die Zuteilungen gekürzt, weil in einem Artikel erklärt wurde, daß die beste Waffe der Arbeiterklasse zur Verteidigung ihrer Interessen der Streik ist.

Dann ergriffen die Kommunisten eine Reihe von Maßnahmen gegen die Kämpfer der Föderation. Alle ihre Lokale wurden geschlossen und in vielen Städten und Dörfern, z.B. in Plovdiv und Pavel Bagna, wurden jene verhaftet, die in den Büros der Föderation gefunden wurden. Als Erklärungen für diese brutalen Maßnahmen gefordert wurden, die so offensichtlich im Widerspruch zur Proklamation der Vaterländischen Front vom 9. September über Presse-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit standen, antwortete man jedes Mal: "Wenden Sie sich an das Zentralkommitee der Kommunistischen Partei!", und ungeachtet aller Proteste wurden die Verfolgungen gemäß den Befehlen des Zentralkommitees der Partei fortgesetzt.

Um ihre Position in dieser neuen Situation zu formulieren, berief die Anarchistische Föderation einen speziellen Kongreß ein. Am ersten Tag der Konferenz, am 10. März 1945 wurden sämtliche 90 Delegierte von der kommunistischen Miliz verhaftet, in Konzentrationslager verschickt und zu Zwangsarbeit verurteilt. In einer Athmosphäre der geistigen und physischen Sklaverei unterwarf man sie der Folter und entzog ihnen Unterkunft und Kleidung. Jene, die noch frei waren, sandten Delegationen zu Ministern und Führern der Regierungsparteien und forderten die Freilassung der Gefangenen. Aber es war jedes Mal die selbe Antwort: "Wenden Sie sich an das Zentralkommitee der Kommunistischen Partei!"

Unter dem Druck der USA und Großbritanniens war die Regierung gezwungen, Wahlen zuzulassen. Sie fanden am 26. August 1945 statt. Die Polizeiherrschaft wurde in geringem Maße eingeschränkt. Die Gefangenen wurden freigelassen, einige von ihnen, nachdem man sie furchtbar geschlagen hatte. Ein paar Tage lang wurde die libertäre Presse zugelassen und das große Interesse des Volkes an dieser Bewegung zeigte sich durch die Tatsache, daß der "Arbeitergedanke" plötzlich eine Auflage von 30.000 Exemplaren erreichte, was für ein kleines Land wie Bulgarien beträchtlich ist. Aber das war umso mehr ein Grund für die Kommunisten, die anarchistische Bewegung wieder niederzuwerfen und eine noch strengere Unterdrückung einzuführen, darauf gerichtet, sie auszurotten, denn sie fürchteten zu Recht das Anwachsen und die Konkurrenz einer echten Volksbewegung, deren Stärke und wirkliche Wurzeln in der Liebe zur Freiheit und Wahrheit liegen.

Seit jener Zeit haben sich die Verfolgungen nur verschärft, systematisch und mitleidlos. Die Zahl der Verhaftungen, Bedrohungen, Menschenjagden und Folterungen steigt ohne Pause von Tag zu Tag. Unter den gefangenen Kämpfern, und das sollte man wissen, sind viele, die ihr Leben dem antifaschistischen Kampf widmeten, die vom faschistischen Regime zum Tode verurteilt wurden und die meiste Zeit ihres Lebens im Gefängnis verbrachten (manchmal gemeinsam mit den kommunistischen Führern, die nun das Land regieren), die die ersten Partisanengruppen organisierten, die die großartigsten Helden im Widerstandskampf und bei der Befreiung im September 1944 waren und die als Freiwillige nach Spanien (1936) gingen. Fast alle der jetzt Verhafteten sind auch in faschistischen Gefängnissen und Konzentrationslagern gewesen.

Einige von ihnen lebten aufgrund ihrer Opposition zum Faschismus 23 Jahre in der Illegalität. Die Geschichte wiederholt sich in den verschiedenen totalitären Regimen. Genau die Vorkämpfer für Freiheit und menschliche Befreiung sind es, auf die es die sich selbst so nennende "demokratische Volksregierung" Bulgariens abgesehen hat. Sie sind es, die mit der Absicht, jeden Funken Unabhängigkeit, jedes Gefühl für menschliche Würde auszulöschen, in Konzentrationslagern interniert werden, der erschöpfenden Arbeit, dem systematischen Hungertod und der Folter unterworfen werden. Die Beispiele werden zahlreicher und zahlreicher; die Liste der antifaschistischen Häftlinge wird unermeßlich lang. Wenngleich die Todesstrafe die Ausnahme ist, so sind doch die Konzentrationslager dafür gedacht, Gegner verschwinden zu lassen. Das totalitäre Regime greift überall dort ein, wo seine Befehle umgangen werden.

Jede syndikalistische Aktivität ist verboten. Nur eine Gewerkschaft, die Allgemeine Berufsgewerkschaft der Arbeiter ist offiziell erlaubt. Jene, die sich auch nur auf die geringste nichtkonforme Aktivität einlassen, selbst innerhalb der Gewerkschaft, werden ausgeschlossen und in Schwarze Listen eingetragen oder, besonders wenn es Anarchisten und Syndikalisten sind, in Konzentrationslager verschickt.

Die Enttäuschung über die Kommunistische Partei ist groß, aber das Kräfteverhältnis gleicht dies aus: wie schwach ist Bulgarien, um einem solchen, geradezu gigantischen und perfekten Polizeiapparat Widerstand zu leisten! Die Kommunisten fühlen sich sicher. Viele Organisationen werden verfolgt; besonders bäuerliche, sozialistische und anarchistische: die Agrarunion, die studentische Agrarunion, die Union der bäuerlichen Jugend, die Studentenvereinigung der Jean-Jaurs- Sozialisten, die Föderation der anarchistischen Studenten und der Anarchosyndikalistische Nationale Bund der Arbeit.

Armes Bulgarien! Das Klima, die hügelige Landschaft, der ländliche Charakter, die Sehnsucht des Volkes nach Freiheit und sein Gefühl für menschliche Solidarität, all das hat große Ähnlichkeit mit Spanien. Armes Bulgarien, das noch immer das gleiche wechselvolle Schicksal, die gleichen Hoffnungen und die gleiche grausame Enttäuschung erleben muß: Faschismus nach 1923, eine kurze Periode der Ruhe 1931, danach erneut, mehr und mehr unerbittliche, totalitäre Regime durch militärische Okkupation unterstützt, erst durch die deutsche Armee, dann durch die Rote Armee, mit all den Polizeiapparaten und der Unterdrückung, die eine Okkupation mit sich bringt.

Wir sind Zeugen einer neuen Ausdehnung des Terrorismus, wie es die spärlichen Nachrichten, die aus der roten Hölle durchsickern, beweisen, wie es andere Beispiele und die Fälle von Zeugnissen aus anderen Quellen bestätigen. Ein Volk wird niedergedrückt, sein großartiger und menschlicher Charakter wird niedergedrückt.

Das Gewissen der Welt muß sich aufraffen - so, wie es sich auch hätte aufraffen müssen, als sich der Faschismus in Mitteleuropa und Spanien ausbreitete. Auf keinem anderen Weg wird es und kann es jetzt die Welt vor schrecklichen Übeln retten. Es ist auch die einzig mögliche Position für Menschen, die sich nicht mit nützlichen Betrachtungen oder mit Furcht begnügen wollen, sondern allein im Geiste der Gerechtigkeit und Wahrheit handeln wollen.

Bulgarien 1948

Fußnoten:
(1) Bezeichnung für die im 16.-18. Jahrhundert zum Islam bekehrten Bulgaren.
(2) Nikola Petkov war der führende Mann der Pladne-Gruppe, die aus der Abspaltung des linken Flügels der Agrarunion (siehe Anmerkung 7) im November 1932 entstand. In der Regierung der Vaterländischen Front 1944 hatte die Pladne-Gruppe 4 Vertreter, von denen Nikola Petkov einer war. Schon 1945 trat er aus Protest gegen die von der BKP gesteuerte Regierung aus. Kurz bevor Georgi Dimitrov 1946 die Regierung übernahm, wurde er von Petkov heftig attakiert. Dimitrov prophezeite Petkov, daß er "seinen Kopf bald verlieren würde", was schließlich auch geschah. Im Jahre 1947 wurde Petkov durch den Strang hingerichtet.
(3) Gemeint ist eben die Aufteilung der landwirtschaftlichen Fläche in sehr viele kleine Güter. Das war schon lange vor der Bodenreform von 1946 der Fall. So betrug z.B. der Anteil der 1-5 Hektar-Güter im Jahr 1934 bei einer Gesamtzahl von 884.000 Gütern ca. 50%, während Güter über 50 Hektar nur etwa 1,5% ausmachten. Die Kollektivierung setzte in umfangreichem Maße erst 1950 ein und war um 1960 abgeschlossen.
(4) Der Bogomilismus ist eine dualistische Religion, d.h. er teilt die Welt nach dem Prinzip des Bösen und dem Prinzip des Guten ein. Alles Materielle wird vom Bösen (Satan) beherrscht. Demzufolge hat Satan die Welt und den Menschen geschaffen, während Gott (das Gute) ihm den Geist, die Seele gab. Daraus ergibt sich für den Bogomilismus nicht nur die Ablehnung jeder weltlichen Ordnung und Hierarchie und die Ablehnung, materielle Güter anzuhäufen, sondern auch die Ablehnung jeder kirchlichen Hierarchie. Bei den Bogomilen, die sich als Christen bezeichnen, konnte jeder Gläubige predigen; Kirchen, Reliquien und andere rituelle Gegenstände gab es nicht. Auch andere kirchliche Riten, wie die Eheschließung, lehnten die Bogomilen ab. Es genügte, wenn eine Frau dem Manne Treue gelobte. Die Gläubigen unterteilten sich in vollkommene und einfache Gläubige. Die Vollkommenen mußten nach strengen asketischen Prinzipien leben, die einfachen Gläubigen wurden aber von ihnen nicht abschätzig betrachtet. Bei den Bogomilen, die Gewalt, Krieg und Todesstrafe ablehnten, mußte der Gläubige mehr darauf achten, daß er keine unrechten Handlungen beging, als darauf, in Gedanken zu "sündigen". Am Totenbett mußte jeder Gläubige durch eine Zeremonie in den Kreis der Vollkommenen aufgenommen werden; er kam dann in den Himmel. Geschah dies nicht, so kam er, wie auch alle anderen Nichtbogomilen (die Bogomilen betrachteten ihre Lehre als die einzig wahre) in die Hölle.
(5) Stenkan Rasin (1630-1671), Donkosak, der einen großen Aufstand gegen die Einschränkung der Freiheit der Donkosaken führte, wofür er 1671 in Moskau hingerichtet wurde. Seine häufigen Raubzüge brachte er mit ziemlich rigiden Methoden zum Erfolg.
(6) Shirokij - Breitsozialisten: Tensi - Engsozialisten, 1919 gründeten sie die BKP; sie waren auch Mitbegründer der Kommintern.
(7) Die Agrarunion wurde 1899 in Pleven gegründet und war anfangs eine Art Bauerngewerkschaft. Auf dem 7. Kongreß 1905 arbeitete Alexander Stambolijski - einer der führenden Männer der Agrarunion - das gewerkschaftliche Programm in ein politisches um. In der Folge beteiligte sich die republikanisch ausgerichtete Agrarunion an den Wahlen und billigte während des 1. Weltkrieges die Kriegskredite (Stambolijski kam aus Protest dagegen ins Gefängnis). Die Agrarunion war ab 1919 u.a. mit A. Stambolijski als Ministerpräsident in der Koalitionsregierung der bulgarischen Republik vertreten.
(8) Die Militär-Liga wurde im Januar 1919 von einer mit der Stambolijski-Regierung unzufriedenen Gruppe von Offizieren gegründet. Ihr gehörten fast alle 200 höheren Offiziere Bulgariens an. Ein Zweig der Militär-Liga war die Union der Reserveoffiziere. Vorsitzender beider Organisationen war Slavejko Vasilev, der schon 1920 zusammen mit A. Cankov Putschpläne entwarf. Die Militär-Liga führte 1923 den Staatsstreich durch.
(9) Die "oransheva guardija" war die paramilitärische Parteimiliz der Agrarunion, die sich aus körperlich starken, gut bewaffneten Bauern zusammensetzte. Die Garde wurde im Oktober 1919 auf Befehl Stambolijskis vom Innenminister Alexander Dimitrov und vom Verkehrs- und Postminister Marko Turlakov organisiert. In den Jahren bis 1923 wurde sie als Terrorinstrument gegen andere Parteien, Demonstranten, Streikende, kurz gesagt Andersdenkende eingesetzt.
(10) Alexander Cankov war Ministerpräsident nach dem faschistischen Putsch von 1923.
(11) anderer Name für Militär-Liga (siehe Anmerkung 8)
(12) Die Zveno-Gruppe (Zveno = Kettenglied) wurde (jedenfalls offiziell) erst 1928 als legaler politischer Arm der Militär-Liga gebildet. Ihr Vorbild war der mussolinische Staat. Der ehemalige Sozialdemokrat Dimo Kazasov und Kimon Georgiev - beide waren am Putsch von 1923 beteiligt - waren die Wortführer dieser Organisation. Eine Verbindung zur Militär-Liga existierte offiziell nicht, dafür natürlich im Geheimen. Den faschistischen Staatsstreich von 1934 führte die Zveno-Gruppe politisch und die Militär-Liga militärisch. Auf Anraten von Georgi Dimitrov wurde die Zveno-Gruppe 1944 in die Vaterländische Front aufgenommen. 1948 löste sich die Gruppe auf, ihre Mitglieder blieben aber in der Vaterländischen Front. Die meisten ihrer Führer erhielten Ministerposten und waren bis Anfang der 60er Jahre in der bulgarischen Regierung tätig (siehe Anmerkung 16).
(13) Der Septemberaufstand wurde auf Beschluß der Komintern und gegen den Willen des Sekretärs des ZK der BKP Todor Lukanov durchgeführt. Die Komintern bestellte Georgi Dimitrov und Vasil Kolarov als Führer. Nach dem Scheitern des Aufstandes flüchteten die beiden nach Österreich und Deutschland.
(14) Das Attentat wurde am 16. April 1925 (vermutlich) von einer militärischen Abteilung der illegalen BKP verübt.
(15) Die Befreiung vom 9. September 1944 war eher ein Staatsstreich, der zugleich mit der Gründung der Vaterländischen Front (Juli 1944 - die Initiative dazu kam von Georgi Dimitrov aus Moskau) geplant wurde. Am 8. September marschierte die Rote Armee in Bulgarien ein und am 9. September wurde der Staatsstreich auf "Wunsch" (Befehl) der BKP und erneut mit Hilfe der Militär-Liga durchgeführt. Eine Abteilung dieser Liga nahm die Mitglieder der zaristischen Regierung gefangen (die Regierung des Staatsstreiches vom Mai 1934 konnte sich nur bis Januar 1935 halten). Die BKP nahm dann die Macht sofort an sich.
(16) Kimon Georgiev war nicht nur als führender Mann an den beiden faschistischen Staatsstreichen beteiligt und später Ministerpräsident unter der BKP-Regierung, sondern ihm wurde auch noch drei Mal der Georgi-Dimitrov-Orden verliehen. Außerdem wurde er zum Held der sozialistischen Arbeit (!) erklärt. Nachdem er 1946 als Ministerpräsident abgelöst wurde, hatte er bis 1959 verschiedene Ministerposten inne.
(17) Die Vaterländische Front bildet bis heute FORMELL die Regierung. Neben der BKP, die sich 1948 mit den Sozialdemokraten vereinigte, ist als Partei noch die Agrarunion (BSNS) übriggeblieben. Außerdem gibt es verschiedene gesellschaftliche Organisationen.
(18) Schon nach den ersten vier Nummern gab es, bei steigender Auflage, Schwierigkeiten durch die Behörden. Das Erscheinen des Blattes wurde eingestellt. Später erschienen dann noch einmal vier Ausgaben, von denen die letzte eine Auflage von 30.000 Exemplaren hatte.
(+) Erste syndikalistische Gruppen wurden gebildet: obwohl im Untergrund tätig, leiteten sie die Arbeiter bei Methoden der direkten Aktion an und ermutigten sie, gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu kämpfen. Der illegale Teil der Föderation unterstützte diese Aktivitäten.

Originaltext: http://www.fau.org/archiv/art_021112182714


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