Otto Rühle - Der Kampf gegen den Faschismus beginnt mit dem Kampf gegen den Bolschewismus (1939)
Otto Rühle - ein bekannter Mitbegründer der "Kommunistischen Partei Deutschlands" 1918 - orientierte sich später an der rätekommunistischen Abspaltung KAPD und wurde bereits zu Beginn der 20er-Jahre Linker Kritiker des Bolschewismus. Wir haben diesen Beitrag übernommen, weil sich seine rätekommunistische Kritik an wichtigen Punkten mit der anarchistischen Kritik an kommunistischen Parteikonzepten deckt. Alle Macht den Räten... und nicht der Partei!
I.
Unter den totalitären Staaten, die heute das neue Prinzip der Staatsorganisation verkörpern, steht Russland an erster Stelle. Nicht nur der Zeit, sondern auch der sachlichen Entwicklung nach. Der russische Staat, der nur fälschlich “Sowjetstaat” heißt, kam als erster zur verfassungsmäßigen Etablierung der Diktatur, zum Auf- und Ausbau eines politischen und administrativen Terrorsystems, zur ausschließlichen Parteiherrschaft, zur Methode der mechanisch-bürokratischen Gleichschaltung, zur politischen und staatlichen Totalität.
Russland schuf damit das Modell für die übrigen Staaten, die an einem entscheidend kritischen Punkte ihrer Existenz gezwungen waren, das demokratische System aufzugeben und eine politische Diktatur zu errichten. Man darf sagen, dass auf diese Weise Russland zum Lehrmeister des Faschismus geworden ist. Das ist kein Zufall, kein Witz der Weltgeschichte, keine nur scheinbare Duplizität der Erscheinungen. Vielmehr drängen alle Indizien zu der Annahme, dass es der Ausdruck und die Konsequenz eines und desselben Prinzips auf verschiedenen Ebenen der Entwicklung, des historischen und politischen Geschehens ist. Mag es den Parteikommunisten gefallen oder nicht – unleugbar ist die Tatsache, dass Staatsordnung und Staatsführung in Russland, Italien und Deutschland – um nur diese drei Staaten zu nennen – einander zum Verwechseln ähnlich sind. Wer Gefallen an Paradoxen hat, kann von einem roten, schwarzen und braunen “Sowjetstaat” oder einem schwarzen, braunen und roten Faschismus sprechen.
Es ist dabei von untergeordneter Bedeutung, welche Ideologie jeweilig den totalitären Staat begleitet und rechtfertigt. Die Ideologie ist niemals das Primäre, sondern stets das Sekundäre der Erscheinung. Ebenso kann, wie das Beispiel Italiens und Deutschlands beweist, die Ideologie wesentliche Wandlungen durchmachen, ohne an dem Charakter und den Funktionen des Staatsapparats etwas zu ändern.
In gleicher Weise hat der Umstand, dass in Deutschland und Italien noch Privateigentum besteht, während es in Russland beseitigt ist, nur die untergeordnete Bedeutung einer Variante. Denn die Beseitigung des Privateigentums allein macht noch nicht den Sozialismus aus. Sie ist auch innerhalb des kapitalistischen Systems möglich. Entscheidend wichtig für den Charakter einer sozialistischen Gesellschaftsform ist außer der Beseitigung des Privateigentums vor allem die Verfügungsgewalt der Werktätigen über den Arbeitsertrag und die Abschaffung des Lohnsystems. Diese beiden grundsätzlichen Forderungen aber sind in Russland ebenso unerfüllt wie in Deutschland und Italien.
Vielleicht darf man sagen, dass Russland einen Schritt näher zum Sozialismus ist. Womit aber keineswegs ausgedrückt sein soll, dass sein “Sowjetstaat” das internationale Proletariat dem Ziele seiner klassenkämpferischen Aufgabe auch nur einen Schritt näher gebracht hat. Eher dürfte das Gegenteil zutreffen. Indem Russland seinen “Sowjetstaat”, trotz des mehr als dürftigen sozialistischen Einschlags und der kümmerlichen embryonalen Verfassung, als “sozialistischen Staat” ausgibt und als Erfüllung des sozialistischen Ideals anpreist, schafft es für das Proletariat der ganzen Welt eine Quelle der Irreführung, der Täuschung und des Betrugs. Dem Faschismus gegenüber weiß der fortgeschrittene Arbeiter, woran er ist. In seiner Haltung als Klassenkämpfer dem Faschismus gegenüber stellt er sich entsprechend ein. Aber Russland gegenüber unterliegt er nur zu leicht und zu gern der Täuschung, dass er es mit einem sozialistischen Staats- und Gesellschaftsgebilde zu tun habe. Diese Täuschung verhindert den vollen und entschiedenen innerlichen Bruch mit dem Faschismus. Denn sie verhindert die grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Ursachen, Voraussetzungen und Umständen, die in Russland wie in Deutschland und Italien zu dem verteufelt gleichen Staats- und Regierungssystem geführt haben. So wird die Täuschung ein Hilfsmittel der Konterrevolution.
Niemand kann zwei Herren dienen. Auch ein totalitärer Staat kann dies nicht. Ist er den Kapitalisten und Imperialisten ein taugliches Werkzeug ihrer Politik, ein Schutz vor der proletarischen Revolution und eine Rettung vor dem Untergang, so kann er nicht zugleich dem Proletariat wertvolle Dienste leisten, ein Organ seiner Klassenkampfinteressen und um deswillen wert seiner Anerkennung und Verteidigung sein. Wenn trotzdem zwei entgegengesetzte Klassen mit unvereinbaren, unversöhnbaren Klassenzielen an ein und demselben Staatssystem Gefallen finden, es anerkennen, zu ihm ihre Zuflucht nehmen und sich von ihm ihre Rettung versprechen, so ist das verdächtig, so stimmt etwas nicht. Eine der beiden Klassen befindet sich in einem verhängnisvollen Irrtum.
Man wende nicht ein, dass es sich hierbei nur um eine Frage der äußeren Form handle, dass bei zufällig gleicher Form der Inhalt grundverschieden sei. Das ist eine Selbsttäuschung. Erstens gibt es für den Marxisten keine geschichtlichen Zufälle. Zweitens sind für ihn Form und Inhalt immer dasselbe, immer einander entsprechend, niemals trennbar und verschieden. Denkt man alle diese Gedanken richtig zu Ende, so kommt man zu folgendem Ergebnis: Konnte der “Sowjetstaat” als Modell für den Faschismus dienen, so mussten in ihm prinzipielle, strukturelle und funktionelle Elemente enthalten sein, die dann auch im Faschismus wiederkehrten.
Es ist zu untersuchen, ob dies der Fall ist. Die Untersuchung hat auf das “Sowjetsystem” zurückzugehen, die auf dem Leninismus beruht. Der Leninismus ist die von Lenin entwickelte, auf russische Verhältnisse zugeschnittene Spezialform des Bolschewismus, der von seinen Begründern und Anhängern als authentische Interpretation des Marxismus angesehen wird. Im Bolschewismus sind also die Elemente nachzuweisen, die für die Staatsorganisation und Staatsführung des Faschismus wesentlich sind.
Gelingt der Nachweis, so ist die grundsätzliche Identität zwischen Bolschewismus und Faschismus evident. Dann kann das Proletariat, will es den Faschismus im Sinne und mit den Mitteln des marxistischen Klassenkampfes bekämpfen, nicht zugleich das russische “Sowjetsystem” anerkennen und verteidigen. Vielmehr ist für die Praxis des Kampfes gegen den Faschismus das einzig geltende Postulat gewonnen: Der Kampf gegen den Faschismus beginnt mit dem Kampfe gegen den Bolschewismus!
II.
Für Lenin war der Bolschewismus von allem Anfang an eine rein russische Angelegenheit. In vielen Jahren seines politischen Wirkens und Kämpfens, während deren er das bolschewistische System zu voller Klarheit und Geschlossenheit entwickelte, hat er niemals den Versuch gemacht, es zur revolutionären Kampfform auch des außerrussischen Proletariats zu erheben. Er war Sozialdemokrat, bewunderte Bebel und Kautsky als geniale Führer und ließ die deutsche Linke in ihrem Kampfe gegen Zentrismus und Opportunismus allein. Wie nahe hätte es gelegen, ihn mit bolschewistischen Argumenten zu Hilfe zu kommen! Und wie verlockend hätte es für ihn sein müssen, dem Weltproletariat in der bolschewistischen Theorie eine wahre revolutionäre Orientierung zu geben! Nichts von dem. Lenin blieb, umgeben von einem kleinen Kreise russischer Emigranten, in beharrlicher Isolation und blieb auch dann noch im Banne Kautskys, als die deutsche Linke unter Rosa Luxemburg längst in offener Fehde zu ihm und seiner Politik stand.
Lenin hatte es nur mit Russland zu tun. Als Ziel seiner revolutionären Tätigkeit schwebte ihm einzig und allein vor: Sturz des feudalen Zarismus und Eroberung eines möglichst großen sozialdemokratischen Sektors im Ensemble der Parteien des nachrevolutionären Russland. Der grandiose Schwung der russischen Revolution von 1917 warf ihn weit über sein vorgefasstes Ziel hinaus. Die bolschewistische Partei sah sich plötzlich im Besitz der politischen Macht, als Herrin über Russland.
Sie erkannte, dass sie diese Macht nur halten und im Sinne eines sozialistischen Aufbaus gebrauchen konnte, wenn es ihr gelang, die Weltrevolution auszulösen. Aber sie hatte dabei eine unglückliche Hand. Indem sie zuerst das deutsche Proletariat in die Parteien, die Gewerkschaften und das Parlament zurücktreiben und seine starke Rätebewegung zerstören half, brach sie selbst der erwachenden europäischen Revolution das Genick.
So blieb die bolschewistische Partei, die wohl über gutgeschulte Führer, aber völlig ungeschulte, meist noch analphabetische Massen verfügte, ganz auf sich selbst gestellt. Inmitten des Bürgerkriegs, der feindlichen Invasionen, der völlig zerrütteten Wirtschaft, der improvisierten Armee, der wechselnden und verfehlten Sozialisierungsexperimente war sie in fast drei Jahren nicht imstande, ein wirkliches Sowjetsystem aufzubauen.
Sie hatte zwar mit Hilfe der ihr wesensfremden, von den Menschewiken inaugurierten Sowjetbewegung die politische Macht erobert und die proletarische Diktatur proklamiert, war aber in der Stabilisierung ihrer Macht und dem Aufbau der Wirtschaft kaum einen Schritt weiter gekommen. Vor allem hatte sie nicht vermocht, das Sowjetsystem, eben weil es ihr wesensfremd war, ihrem ganzen System widersprach, in den Komplex ihrer Maßnahmen, die sie für sozialistisch hielt, wirksam und erfolgreich einzubauen. Aber sie wollte den Sozialismus und sie brauchte dazu das Weltproletariat.
Da erkannte Lenin, das es nötig sei, endlich das Weltproletariat für die bolschewistische Theorie und Praxis, ihre Strategie und Taktik zu gewinnen. Es war beunruhigend, dass das Weltproletariat trotz des rauschenden Triumphes, den der Bolschewismus in Russland erzielt hatte, sichtlich geringe Neigung zeigte, sich mit der bolschewistischen Methode zu befreunden. Noch beunruhigender war, dass die Massen, soweit sie nicht in der alten Sozialdemokratie verblieben, von ihrer revolutionären Aktivität zum Anschluss an die Rätebewegung getrieben wurden, die in vielen Ländern aufgekommen, besonders aber in Deutschland stark entwickelt war.
Diese Rätebewegung aber war das, was gerade Lenin in Russland nicht gebrauchen konnte. Außerdem widerstrebte sie jedem Versuch, sie für eine revolutionäre Erhebung nach bolschewistischen Muster zu gewinnen. Wohl war von Moskau aus in allen Ländern eine gewaltige Agitationsmaschine in Gang gesetzt worden. Aber die “ultralinken” Agitatoren der Rätebewegung verstanden – wie Lenin selbst bezeugt – ihre Sache besser als die Sendboten der bolschewistischen Partei. So kam es, dass die kommunistische Partei immer nur ein kleines, schreiendes und sich wild gebärdendes Häuflein zwischen zwei großen Lagern blieb, von denen das eine den proletarischen Abfall der Bourgeoisie gewann, während das andere mit magnetischer Kraft alles revolutionäre Element des Proletariats an sich zog. Da musste mehr Dampf hinter die bolschewistische Agitation gemacht werden! Vor allem galt es, gegen die Ultralinken kräftig vom Leder zu ziehen. Denn sie hatten, seit man sie aus der kommunistische Partei hinausgeworfen und nach bolschewistischer Methode mit Schimpf und Schande bedeckt hatte, bei den Massen nur an Ansehen und Vertrauen gewonnen.
In Russland hatte das Sowjetsystem versagt – wie konnte sich jetzt eine Konkurrenzbewegung erfrechen, der Welt beweisen zu wollen, dass das Sowjetsystem in den Händen des Bolschewismus zwar unmöglich, unabhängig vom Bolschewismus jedoch durchführbar, ja der einzige praktisch gangbare Weg zur Erfüllung des sozialistischen Forderungen ist! Dieser Schmutzkonkurrenz musste das Handwerk gründlich gelegt werden! So setzte sich Lenin wutgeladen in den Sessel und schrieb ein geharnischtes Pamphlet. Rasende Angst vor dem Verlust der Macht und glühende Empörung über den Erfolg der Ketzer führten ihm die Feder. Wäre er Stalin gewesen, hätte er sie alle als Volksfeinde erster Klasse prozessiert und füsiliert. So verfasste er nur eine Broschüre: “Der Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus”, mit dem Untertitel “Versuch einer populären Darstellung der marxistischen Strategie und Taktik”, der später – wohl weil man sich des unlauteren Bluffs schämte – fortfiel.
Das war eine polemische Schrift, voller Gift und Galle, aggressiv, grob, von Verdrehungen, Verdächtigungen und Fälschungen strotzend, gehässig und verfolgungssüchtig wie eine päpstliche Bannbulle, ein wahres Herrenfressen für jeden Konterrevolutionär. Aber doch zugleich unter allen bolschewistischen Programmschriften diejenige, die das Wesen des Bolschewismus am reinsten darstellt, am schonungslosesten enthüllt. Der Bolschewismus ohne Maske! Als Hitler in Deutschland 1933 die gesamte sozialistische und kommunistische Literatur unterdrückte, war diese Schrift die einzige, deren Weitererscheinen er gestattete. Er wusste, warum.
Von dem Inhalt der Schrift interessiert hier nicht, was Lenin über die russische Revolution, die Geschichte der Bolschewiki, deren Auseinandersetzungen mit anderen Strömungen der Arbeiterbewegung und die Bedingungen des bolschewistischen Erfolgs in Russland sagt. Alles ist einseitig dargestellt, anfechtbar und fordert zur Diskussion heraus. Aber dazu ist hier nicht der Platz. Hier sollen nur die Hauptpunkte der bolschewistischen Strategie und Taktik ins Auge gefasst werden. Die Punkte also, in denen sich – für die damaligen Bedürfnisse – der entscheidende Gegensatz zwischen Bolschewismus und Ultralinken, - für die heutigen Bedürfnisse – die Übereinstimmung zwischen Bolschewismus und Faschismus ausdrückt.
III.
Lenin hatte seine Partei, die ursprünglich russische Sozialdemokratie hieß und eine Sektion der zweiten Internationale bildete, nicht in Russland, sondern im Ausland, in der Emigration, aufgebaut. Seit der Spaltung in London 1903 war der bolschewistische Flügel nur noch eine kleine Sekte mit wenig Mitgliedern, deren fähigste, geschulteste die unmittelbare Avantgarde Lenins darstellten. Die bolschewistischen Massen standen nicht einmal nur auf dem Papier, sie führten lediglich ein phantastisches Dasein in den revolutionären Kalküls der Führer.
Die Avantgarde war straff diszipliniert, revolutionär einexerziert, ständig kontrolliert, immer in militanter Bereitschaft und durch fortgesetzte Purifikation konform gehalten. So war die kleine Partei eine Kriegsakademie der revolutionären Schulung und Vorbereitung. Ihre wichtigsten Erziehungsmittel waren: unbedingte Führerautorität, strengste Zentralisation, eiserne Disziplin, Drill zu Gesinnungstüchtigkeit, Kampfeifer, Selbstaufopferung, völliges Aufgehen der Persönlichkeit im Parteiinteresse.
Was Lenin auf diese Weise schuf, war ein Offizierskorps, eine Elite von Intellektuellen, eine Spitze, die, in die Revolution geworfen, deren Führung an sich zu reißen und sich des errungenen Erfolgs zu bemächtigen hatte. Ob diese Art der Revolutionsvorbereitung richtig oder falsch war, kann durch logisch-abstrakte Überlegung nicht entschieden werden. Die Frage ist nur dialektisch zu lösen. Dazu müssen bestimmte Unterfragen gestellt werden: Welcher Art Revolution galten die Vorbereitungen? Welches Ziel sollte die Revolution haben? Ging es um die bürgerliche oder um die proletarische Revolution in Russland?
Lenins Führerpartei und Führerideologie war richtig in Russland, wo es sich um die verspätete bürgerliche Revolution und die historische Aufgabe handelte, das Feudalsystem des Zarismus zu stürzen und die bürgerliche Gesellschaft zu schaffen. Je straffer in dieser Revolution der Wille der führenden Partei konzentriert ist, je zielgerichteter, bewusster und energischer ihr Zugriff bei der Eroberung und Gestaltung der Macht, desto erfolgreicher der Prozess der bürgerlichen Staatsbildung, desto aussichtsvoller auch die Position der proletarischen Klasse in der neuen Staatsordnung.
Was aber für eine bürgerliche Revolution als glückliche Lösung des revolutionären Problems gilt, kann nicht gleichzeitig auch für eine proletarische Revolution als gegebene Formel gelten. Schon deshalb nicht, weil hier ein entscheidender Strukturunterschied im Wesen der zu schaffenden Gesellschaft ins Gewicht fällt. Nach Lenins Revolutionsmethode bilden die Führer den Kopf der Masse. Sie verkörpern die absolvierte revolutionäre Schulung, den Intellekt als dirigierendes Element, die geistige Überlegenheit im Erfassen der Situation und im Kommando über die vorhandenen Kampfkräfte. Sie sind die studierten Fachleute der Revolution, die Berufsstrategen, die Generäle einer großen zivilen Armee.
Nun entspricht aber die Scheidung in Kopf und Körper, Geist und Masse, Offizier und Truppen durchaus dem Dualismus der Klassengesellschaft, dem charakteristischen Oben und Unten der bürgerlichen Ordnung. Eine Klasse oder Schicht oben – zum Herrschen erzogen, zur Führung vorbereitet, zum Obensein bestimmt. Eine andere Klasse unten – im voraus als Gefolgschaft gedacht, zum Gehorsam verpflichtet, einem fremden Willen unterworfen. Aus diesem alten Klassenschema ist die Parteivorstellung Lenins geboren. Seine Partei ist der verkleinerte Abklatsch der bürgerlichen Wirklichkeit und ihrer Existenzgesetze. Seine Revolution ist objektiv beherrscht von der Tendenz zur Schaffung und Formung einer Gesellschaftsordnung, die dieser Klassenwirklichkeit als Gefäß dient, unbekümmert darum, welches Ziel ihm subjektiv dabei vorschwebt.
Wer eine bürgerliche Ordnung will, findet in der Scheidung von Führer und Masse, Avantgarde und Gefolgschaft die richtige, der Aufgabe und dem Ziel entsprechende strategische Vorbereitung der Revolution. Und er hat die besten Chancen für seine revolutionäre Aktion, je intelligenter, geschulter, überlegener die Führerschaft, je williger, gehorsamer und einordnungsbereiter die Masse ist. Lenin wollte die bürgerliche Revolution in Russland, also war seine Strategie wie seine Führerpartei richtig am Platz.
Als freilich die russische Revolution ihren Charakter änderte und sich zur proletarischen Revolution entwickelte, Lenin jedoch seine bürgerliche Revolutionsmethode nicht änderte, begannen seine strategischen und taktischen Künste zu versagen. Wenn er schließlich doch siegte, so dankte er dies nicht seiner Avantgarde, sondern der Rätebewegung, die in seinem ganzen Revolutionsplan mit keinem Wort vorgesehen war, sondern aus dem Lager der Menschewiki kam. Und als er nach dem Siege die Rätebewegung wieder abdankte, fiel der gesamte Revolutionserfolg unaufhaltsam wieder zurück in die Sphäre der Bürgerlichkeit, deren letzter Vollstrecker und Erbe der Stalinismus ist.
Man muss den Mut haben, es auszusprechen, dass Lenin ein völlig undialektischer Geist war, ganz außerstande, die Dinge und Prozesse in ihrem historischen Zusammenhange und ihrer dialektischen Bedingtheit zu sehen. Sein Denken funktionierte absolut mechanistisch, nach starren Gesetzen, in stabilen, genormten Geleisen. Für ihn gab es nur eine wirklich revolutionäre Partei – die bolschewistische. Nur eine wirkliche Revolution – die russische. Nur eine sichere, ideale Revolutionsmethode – die leninistische. Was für Russland galt, hatte auch für Deutschland, Frankreich, Amerika, China und Australien zu gelten. Was in der bürgerlichen Revolution Russlands richtig gewesen war, musste auch für die proletarische Revolution der ganzen Welt richtig sein. In egozentrischen Kreisen bewegte sich mit monomanischer Eintönigkeit die Dynamik einer einmal gefundenen Formel, unbekümmert um die Unterschiede von Zeit und Raum, Material und Milieu, Entwicklungsgrad und Kulturbestand, Ideen und Menschen. Er war die verkörperte Diktatur des Maschinenzeitalters in der Politik, der Techniker der Revolution, der Erfinder der Gleichschaltung im sozialen Sein, der Repräsentant des allmächtigen Führerwillens. Alle Grundelemente des Faschismus waren in seinem Geist, seiner Doktrin, seiner Revolutionsstrategie, seiner sozialen Planung und seiner Methode der Menschenbehandlung enthalten. So blieb ihm für immer verborgen der tiefe revolutionäre Sinn einer grundsätzlichen Abkehr von der Tradition der Partei. Nie begriff er das Geheimnis der sozialistischen Neuorientierung im Rätesystem. Nie verstand er die Verneinung der Gewalt, des Zwanges, des Terrors, der Diktatur als Mittel der menschlichen Befreiung. Autorität, Führung, Gewalt auf der einen, Organisation, Kaderbildung, Subordination auf der andern Seite. Diktatur und Disziplin sind die in seinen Schriften am häufigsten vorkommenden Worte.
So ist es begreiflich, dass er fassungslos und voller Empörung vor der “ultralinken” Bewegung stand, die es wagte, sich seiner Revolutionsstrategie zu widersetzen, indem sie nicht mehr und nichts weniger forderte als das Allerselbstverständlichste, was es im Befreiungskampfe der arbeitenden Menschheit gibt: dass endlich einmal die Menschen ihr eigenes Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen dürfen...
IV.
Das eigene Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen – das bildet überhaupt das Stichwort aller Fragen, den Ziel- und Angelpunkt aller Gegensätze in den Auffassungen zwischen Bolschewiken und Ultralinken. Wie in der Parteifrage, so auch in der Gewerkschaftsfrage.
Die Ultralinken waren der Meinung, dass revolutionäre Arbeiter in reaktionären Gewerkschaften nichts mehr zu suchen hätten. Ihre Aufgabe sei, eine eigene Form des kämpferischen Zusammenschlusses zu entwickeln, die sich aus ihrer Zusammenarbeit im Betrieb zu ergeben habe. Die Bolschewiken aber hatten die deutschen Arbeiter, kraft der Autorität, die sie bei ihnen unverdient besaßen, schon in den ersten Tagen und Wochen der deutschen Revolution, wieder in die reaktionären Gewerkschaften der Kriegshetze, des Burgfriedens und der Wiederaufbauparole zurückgetrieben.
Um die Haltung der Ultralinken als falsch, dumm und konterrevolutionär nachzuweisen, bedient sich Lenin in seiner Schrift unter Schimpfereien und Wutausbrüchen wieder des alten Klischees seiner undialektischen Betrachtungsweise. Anstatt auf die deutschen Verhältnisse zu exemplifizieren, zieht er die russischen Gewerkschaftserfahrungen der Bolschewiki zum Beweis heran.
Dass Gewerkschaften am Anfang der Arbeiterbewegung meist eine große Bedeutung für den Klassenkampf haben und zu starken Stützpunkten der proletarischen Bewegung werden können, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Sie war für Russland neu und erklärt den Enthusiasmus Lenins. Aber in der übrigen Welt hatte die Arbeiterschaft mit den Gewerkschaften schon andere Erfahrungen gemacht, wie sie zu den typischen Erscheinungen ihrer späteren Entwicklung gehören. Vehikel des Fortschritts und Motore der Emanzipationsbewegung am Anfang ihrer Laufbahn, werden die Gewerkschaften gegen ihr Ende hin zu Bremsklötzen der Entwicklung, Agenturen der Reaktion und Hochburgen verräterischer Konterrevolution. Das war auch die Erfahrung der deutschen Arbeiter, aus der die Ultralinken den einzig konsequenten Schluss zogen; dieser Konterrevolution im eigenen Lager den Rücken zu kehren.
Lenin selbst muss sich zu der Tatsache bekennen, dass sich im Lauf der Zeit eine Schicht “einer nurgewerkschaftlichen, bornierten, eitlen, verknöcherten, egoistischen, kleinbürgerlichen, imperialistisch gestimmten und vom Imperialismus bestochenen, demoralisierten Arbeiteraristokratie” herausgebildet hat. Diese Korruptionsgilde, dieses Gangsterführertum beherrscht heute in der ganzen Welt die Gewerkschaftsbewegung und treibt dort auf Kosten der Massen ihre Piraterie. Von ihr war die Rede, als die Ultralinken forderten, dass die Arbeiter mit ihnen keine Gemeinschaft mehr haben sollten.
Was aber tat Lenin? Er setzte ihnen demagogisch die jungen Gewerkschaften Russlands entgegen und findet, dass dort alles aufs beste bestellt ist. Dann wird die spezifische Erfahrung einer bestimmten Epoche und besonderer Umstände dem ganzen Weltall als alleinseligmachende Erkenntnis vorgeschrieben. Denn – so argumentiert Lenin weiter – der Revolutionär muss immer dort arbeiten, wo die Massen sind. Aber wo sind denn die Massen? In den Gewerkschaftsbüros? In den Mitgliederversammlungen? In den Geheimsitzungen des Generalrats mit den Kapitalisten hinter verschlossenen Türen? In den Banken, wo die Leaders ihre Schecks für geleistete Dienste empfangen? Nirgendwo, an keinem dieser Plätze sind die Massen. Sie sind in den Betrieben, in den Produktionsstätten, auf ihren Arbeitsplätzen, in den Läden und Kontoren. Dort ist der revolutionäre Zusammenschluss herbeizuführen, der Klassenkampf zu schüren, die Magna Charta der proletarischen Forderungen auszuspielen. Die Betriebsorganisation auf der Basis des Rätesystems ist die wahre Organisation der Revolution. Sie hat an die Stelle der Partei wie der Gewerkschaften zu treten.
In dieser Betriebsorganisation gibt es kein Berufsführertum, keine Scheidung von Führer und Masse, kein Rangsystem zwischen Intelligenz und Arbeit, keinen Boden für Egoismus, Demoralisation und Korruption, Überlegenheitsdünkel, Verknöcherung und Verspießerung. Hier haben die Arbeiter ihr eigenes Schicksal in ihrer eigenen Hand.
Aber Lenin will von dieser Lösung der Gewerkschaftsfrage nichts wissen. Wie die Partei, will er auch die Gewerkschaften beibehalten wissen. Er will sie nur von innen reformieren und revolutionieren. Und wie soll das geschehen? Einfach dadurch, dass sich an die Stelle der sozialdemokratischen Bonzen in Zukunft bolschewistische Bonzen setzen. Das Ei des Kolumbus!
Lenin ist des naiven Glaubens, dass es eine schlechte und eine gute Bürokratie gibt. Die schlechte wächst auf sozialdemokratischen Boden. Der bolschewistische Boden aber liefert nur gute Frucht.
Eine zwanzigjährige Erfahrung hat inzwischen die Lächerlichkeit dieses Glaubens praktisch enthüllt. Nach dem Rezept Lenins haben die Kommunisten alles darangesetzt, die Revolutionierung der Gewerkschaften durchzuführen. Mit welchem Erfolg? Die Revolutionierung der Gewerkschaften ist völlig misslungen. Der Versuch einer Gewerkschaftsgründung war ein einziges Fiasko. Denn der revolutionäre Wetteifer zwischen sozialdemokratischen und bolschewistischen Führern entpuppte sich in der Praxis nur als Wetteifer der Korruption.
So wurden die wertvollen Kampfenergien der Arbeiterschaft, anstatt sie gegen den Faschismus zu werfen, zwanzig Jahre lang in sinn- und aussichtslosen Experimenten verzettelt. So wurde das Vertrauen der Massen in ihr eigenes Können systematisch von der Erprobung zurückgehalten, in seiner Betätigung irregeführt, um seine Erfolge betrogen.
Die Methoden des Faschismus, jeden Schritt der Massen zu diktieren, zu lenken, zu kontrollieren, jedes Erwachen der Selbstständigkeit zu verhindern und zu sabotieren, jede Regung des Selbstvertrauens durch künstlich herbeigeführte Misserfolge zu entmutigen und von weiteren Versuchen abzuschrecken – hier sind sie in unübertrefflicher Weise vorgezeichnet.
Der Sieg des Faschismus konnte so leicht sein, weil ihm die Arbeiterführer in Gewerkschaften und Parteien das Menschenmaterial schon so gedrillt, so korrumpiert und so entmannt hatten, dass es eine willige Beute der Unterjochung wurde, durch deren Schule es jahrelang gegangen war.
V.
In der Frage des Parlamentarismus wiederholt sich klischeehaft die Rolle Lenins als Verteidigers einer überlebten politischen Institution, die zum Hemmschuh der politischen Entwicklung, zur Gefahr für die revolutionäre Emanzipation der Massen geworden ist.
Während die Ultralinken die Absage an den Parlamentarismus in jeder Form, die Verweigerung der Beteiligung an parlamentarischen Wahlen und der Anerkennung parlamentarischer Beschlüsse vertraten, setzte sich Lenin mit streitbarem Eifer für die Teilnahme am Parlamentarismus, an Wahlen und parlamentarischen Aktionen ein.
Die Ultralinken erklärten den Parlamentarismus für historisch überholt. Er habe seinen Wert als Agitationsbühne längst verloren, bilde einen gefährlichen Korruptionsherd für Führer und Massen, schläfere das politische und revolutionäre Bewusstsein durch die Illusion legaler Reformen ein, entwickle sich im Konfliktfall zum Organ der Gegenrevolution. Deshalb müsse es zerstört, sofern dies aber noch möglich sei, sabotiert, negiert und im Bewusstsein der Massen um die Tradition seiner einstigen Bedeutung gebracht werden.
Demgegenüber rettete sich Lenin, um eine Stütze in seine entgegengesetzte Meinung zu finden, in den Kniff, einen Unterschied zu machen zwischen historischem und politischem Überholtsein. Das Parlament, so argumentierte er, ist zwar historisch überholt – darum ist es prinzipiell abzulehnen. Aber es ist noch nicht politisch überholt – darum muss man praktisch mit ihm rechnen, sich an ihm beteiligen. Welch ein genialer Dreh, der jeder Frage ein Doppelgesicht listiger und betrügerischer Zwiespaltigkeit gestattet.
Da ist der Kapitalismus, zwar historisch, aber noch nicht politisch überholt. Ihn revolutionär zu bekämpfen, wäre daher sinnlos. Also machen wir einen Kompromiss mit ihm! Treiben wir Opportunismus, Schacher, Kuhhandel in allen politischen Fragen. Die Konsequenz der leninistischen Taktik.
Da ist die Monarchie, zwar historisch, aber noch nicht politisch überholt. Das Proletariat hat also kein Recht, sie abzuschaffen. Es muss sich mit ihr abfinden, ihre Existenz in Rechnung setzen, über ihre Rechte und Privilegien mit ihr diskutieren und verhandeln. Lenin will das so.
Da ist die Kirche, zwar historisch, aber noch nicht politisch überholt. Denn die Menschen, und das ist für Lenin ein wichtiges Kriterium, gehören ihr noch in großer Mehrheit an. Man muss als Revolutionär bei den Massen sein. Also hinein in die Kirche! Den Pfaffenschwindel mitgemacht! Das ist Pflicht der richtig verstandenen Revolution!
Da ist der Faschismus, eines Tages wird er auch historisch, aber noch nicht politisch überholt sein. Was ist da zu tun? Sich auf den Boden der Tatsachen stellen. Mit ihm Kompromisse machen, Pakte schließen, ihm Kriegsgefolgschaft leisten! Stalin, der heute mit Hitler über ein Bündnis zwischen Moskau und Berlin verhandelt, hat seinen Lenin gut begriffen. Und wir werden es bald erleben, dass die bolschewistischen Agenten und Agitatoren den Bruderbund zwischen Faschismus und Stalinismus als die einzig richtige revolutionäre Taktik preisen. Die Haltung Lenins in der Parlamentsfrage ist geradezu ein Prüfstein dafür, wie ihm jeder Blick dafür fehlte, worauf es in einer proletarischen Revolution eigentlich ankommt. Seine Revolution ist ganz und gar die bürgerliche Revolution, als Kampf um die Mehrheit, um die Regierungssitze, um die Klinke der Gesetzgebung, um die Übermacht.
Darum glaubt er noch immer, dass es bei Parlamentswahlen darum geht, große Stimmensiege zu erringen, um dann im Parlament starke Fraktionen zu bilden, bei Abstimmungen eine Mehrheit hinter sich zu bringen, den Inhalt und die Tendenz der Gesetze zu beeinflussen, einen Teil der politischen Herrschaft an sich zu reißen. Es entgeht ihm völlig, dass dieser Parlamentarismus heute nur noch ein Bluff, eine Kulisse, eine Attrappe ist, dass die wirkliche Macht im bürgerlichen Staat an ganz anderen Stellen liegt, dass die Bourgeoisie trotz linker Wahlsiege, Fraktionen und Abstimmungserfolge noch immer Mittel und Wege genug hat, um außerhalb des Parlaments ihren Willen und ihre Interessen zur Geltung zu bringen.
Lenin sieht auch nicht die verheerende Wirkung des parlamentaristischen Kretinismus auf die Massen, die Verpestung der öffentlichen Moral durch bestochene, gekaufte, eingeschüchterte oder um ihre Pfründen besorgte Führer. Es gab in dem vorfaschistischen Deutschland eine Zeit, wo die Reaktion im Reichstag jeden Beschluss durchsetzen konnte durch die Drohung, im Weigerungsfalle das Parlament zur Auflösung zu bringen. Vor dieser Auflösung und dem damit verbundenen Diätenverlust zitterten die kommunistischen Abgeordneten in gleicher Angst wie die bürgerlichen, so dass sie hemmungslos zu allem Ja und Amen sagten. Und wie ist es heute in Berlin, in Moskau, in Italien? Sind nicht da wie dort die Parlamentarier völlig meinungs- und willenlose Heloten in der Hand ihrer Diktatoren, deren Macht sie erbarmungslos in den Abgrund der Vernichtung schleudert, wenn sie nicht wie wohldressierte Hunde vor ihr wedeln und kuschen?
Gewiss ist dies Entartung und Verfall des Parlamentarismus. Aber musste es das revolutionäre Proletariat zu dieser Desavouierung eines politischen Instruments kommen lassen, dessen es sich einmal selbst bedient hat? Der Entschluss, den Parlamentarismus in einem heroischen revolutionären Akte aufzuheben, wäre für das politische Bewusstsein der Massen erhebender und erziehlich wertvoller gewesen als das klägliche Schauspiel, das der Prozess der Verhöhnung und Verfaulung des absurd gewordenen Parlamentarismus unter dem Zynismus und der Verachtung faschistischer Usurpatoren und Gangster bietet.
Lenin hatte dafür so wenig ein Gefühl wie heute Stalin ein Gefühl dafür hat. Ihm kam es nicht auf die Erlösung des Menschen aus der Sklaverei seines Intellekts, der Vergiftung seines Willens, der Verworrenheit seines Bewusstseins, der Selbstentfremdung seines menschlichen Wesens an. Ihm war nicht die geistige und seelische Umformung des Menschen, seine Befreiung aus der Welt der Entäußerung, den Tiefen des Unmenschseins die eigentliche und wahre Aufgabe der Revolution. Für ihn ist die Revolution reiner Machtkampf. Er rechnet wie ein Bürger mit Viel und Weniger, Soll und Haben, Gewinn und Verlust. Er stellt sich bei all diesen geschäftsmäßigen Rechenoperationen nur äußere Dinge vor: Mitgliedsziffern, Wählerstimmen, Parlamentssessel, Abstimmungsresultate, Siegestrophäen, Herrschaftspositionen. Er ist Materialist im bürgerlichen Sinne. Sein Materialismus ist der der Substanz, des mechanischen Geschehens, nicht der des lebendigen Menschen und des beseelten menschlichen Tuns.
Daher auch immer wieder der erschreckende Mangel an Fähigkeit zu dialektischem Denken. Parlament ist ihm Parlament. Im luftleeren Raume, ein abstrakter Begriff, sich immer gleich bei allen Völkern, zu allen Zeiten. Er weiß zwar, dass der Parlamentarismus viele Stadien der Entwicklung durchgemacht hat. In seiner Polemik weist er selbst darauf hin. Aber er macht in seiner revolutionären Strategie und Taktik von dieser Erkenntnis keinen Gebrauch. So polemisiert er mit dem jungen Parlament der bürgerlichen Frühzeit und ihres politischen Aufschwungs gegen das alte Parlament des bürgerlichen Verfalls, das seine Absage an die Revolution in den Reformismus einer charitativen Sozialpolitik kleidet. So entscheidet er sich im politischen Ernstfall mit den Bürgern für die Politik als die Kunst des Möglichen, während sie für das Proletariat die Kunst der Revolution ist.
VI.
Noch ein kurzes Wort über die Stellung Lenins zur Frage der politischen Kompromisse.
Die deutsche Sozialdemokratie hatte im Weltkrieg die Sache der Arbeiterschaft an die Bourgeoisie verraten. Dann war sie – wider Willen – zur Erbin der Revolution geworden. Wesentlich durch die Hilfe Russlands, das der deutschen Rätebewegung das Rückgrat brach. Mit der Macht, die der Sozialdemokratie in den Schoss fiel, wusste sie nichts anzufangen. So erneuerte sie das Bündnis mit der Bourgeoisie. Die Tendenz des Burgfriedens kehrte wieder in der gemeinsamen Wiederaufbauparole. Sie schloss einen Kompromiss mit den Demokraten und Klerikalen, um mit ihnen die Macht zu teilen. Wiederbelebung und Wiedererstarkung des Kapitalismus als nationale Leistung war ihr Ziel.
Gegen diesen neuen, offenen Verrat protestierten die Ultralinken mit der Forderung: Kein Kompromiss mit der Konterrevolution! Es handelte sich also um einen ganz konkreten Fall. Um eine Stellungnahme zu einer bestimmten Frage, die in einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Verhältnissen zur Entscheidung stand. Die Angelegenheit war geradezu ein dialektischer Schulfall.
Aber Lenin, unfähig, sie als solchen zu erkennen, machte aus der nur dialektisch zu beantwortenden Frage eine Generalfrage. Und die nur dialektisch zu behandelnde Forderung erhob er zur Kardinalforderung. Und mit Generalswichtigkeit und Kardinalsunfehlbarkeit fuhr er seine große polemische Kanone gegen die Ultralinken auf, um sie davon zu überzeugen, dass das Eingehen von Kompromissen mit politischen Gegnern unter allen Umständen eine revolutionäre Pflicht ist.
Liest man heute das Kapitel der Schrift Lenins über die Kompromisse noch einmal durch, so drängen sich Vergleiche auf zwischen den polemischen Ergüssen Lenins und den späteren Resultaten der leninistischen Kompromisspolitik Stalins. Da ist keine Todsünde der bolschewistischen Theorie, die unter Stalin nicht bolschewistische Wirklichkeit geworden wäre.
Der Vertrag von Versailles – die Ultralinken hätten – nach Lenin – ihn unterzeichnen müssen. Aber die Kommunistische Partei hat – nach Lenin – einen Kompromiss gemacht und an der Seite der Hitlergarden gegen die Unterzeichnung protestiert.
Der Nationalbolschewismus Lauffenbergs – nach Lenin eine “himmelschreiende Absurdität”. Aber Radek und die Kommunistische Partei schlossen – nach Lenin – mit dem deutschen Nationalismus einen Kompromiss, protestierten gegen die Ruhrbesetzung und feierten Schlageter als Nationalhelden.
Der Begriff “Volk” – nach Lenin eine strafwürdige Konzession an die konterrevolutionäre Ideologie des Bürgertums. Aber Stalin und Dimitroff schlossen – nach Lenin – mit dem Kleinbürgertum einen Kompromiss und erfanden die politische Missgeburt der “Volksfront”-Bewegung.
Der Imperialismus – nach Lenin die konzentrierte kapitalistische Gefahr für das Weltproletariat, die alle Gegenkräfte zu mobilisieren hat. Aber Stalin ist – nach Lenin – drauf und dran, mit dem deutschen Imperialismus ein Bündnis zu schließen und die letzten Reste der revolutionären Errungenschaften Russlands, aus Angst vor einer neuen Revolution, an den Hitlerfaschismus zu verraten.
Sind noch weitere Beispiele und Beweise nötig?
Nach allen historischen Erfahrungen führt jeder Kompromiss zwischen Revolution und Konterrevolution zur Schwächung der Revolution. Jede Schwächung der Revolution führt zum Bankrott der revolutionären Bewegung. Jede Kompromisspolitik in der Revolution ist daher Bankrottpolitik.
Was die deutsche Sozialdemokratie als Kompromiss begann, endete bei Hitler. Was Lenin theoretisch als Kompromiss rechtfertigte, endet beim Stalinismus. Was Lenin als “Kinderkrankheiten” des Kommunismus bezeichnete, stellt sich als “Alterskrankheiten” des Pseudo-Kommunismus heraus.
VII.
Fasst man das Bild des Bolschewismus, wie es sich in Lenins Schrift darstellt, kritisch ins Auge, so lassen sich summarisch folgende Grundzüge als für sein Wesen charakteristisch feststellen:
- Der Bolschewismus ist eine nationalistische Doktrin. Ursprünglich und eigentlich für die Erfüllung einer nationalen Aufgabe geschaffen, wurde es erst später, nachdem er sich hierfür als untauglich erwiesen hatte, für die Zwecke internationaler Geltung und Werbung zu einer allgemeinen Doktrin erweitert. Sein nationalistischer Charakter wird auch durch die Art seiner Haltung gegenüber dem Unabhängigkeitskampfe kleiner Nationen bestätigt.
- Der Bolschewismus ist ein autoritäres System. Für ihn ist die Spitze der Gesellschaftspyramide der wichtigste und entscheidende Punkt. Hier ist die Autorität als autonome Person gesetzt. Im Führernimbus ihrer Vollkommenheit feiert das bürgerliche Persönlichkeitsideal seine höchsten Triumphe.
- Der Bolschewismus ist eine zentralistisch organisierte Bewegung. Von der Zentrale geht alle Initiative, Leitung, Instruktion, Befehlsgewalt aus. Nach dem Vorbild des bürgerlichen Staates spielen in ihr alle führenden Mitglieder die Rolle der Bourgeoisie, alle ausführenden die Rolle des Proletariats.
- Der Bolschewismus ist eine militante Machtpolitik. Lediglich auf die Eroberung politischer Machtüberlegenheit ausgehend, konstituiert er sich in typischen Herrschaftsformen der bürgerlichen Überlieferung. Selbst in seinen eigenen Organisationen ist das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Mitglieder nicht anerkannt. Die Armee dient als Vorbild.
- Der Bolschewismus ist eine diktatorische Apparatur. Mit den Mitteln der Gewaltanwendung, des Zwanges und Terrors arbeitend, gehen alle seine Funktionen auf Unterwerfung oder Vernichtung der entgegenstehenden Einrichtungen, Meinungen oder Tendenzen aus. Seine Diktatur des Proletariats ist die Diktatur der Bürokratie oder einer einzelnen Person.
- Der Bolschewismus ist eine mechanistische Methode. Er strebt die automatische Gleichschaltung, die technisch erzielbare Konformität und die rationalisierte Totalität als Ziel der sozialen Ordnung an. Die zentralistisch organisierte Planwirtschaft setzt Wirtschaftstechnik an die Stelle organischen Wachstums und entwicklungsmäßiger Gestaltung.
- Der Bolschewismus ist eine Sozialkonstruktion bürgerlichen Charakters. Indem er weder das Lohnsystem beseitigt, noch den Werktätigen das Verfügungsrecht über den gesellschaftlichen Arbeitsertrag einräumt, bleibt er grundsätzlich und praktisch im Klassenschema der bürgerlichen Sozialordnung haften. Die Aufhebung des Privateigentums allein bedingt noch keinen Sozialismus.
- Der Bolschewismus ist ein revolutionäres Element nur im bürgerlichen Sinne. Unfähig, das Rätesystem zu verwirklichen, ist er außerstande, die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft und Wirtschaft grundsätzlich zu verändern. Er landet, statt beim Sozialismus, beim Staatskapitalismus.
- Der Bolschewismus ist kein Zugang, keine Brücke oder Etappe zum Sozialismus. Da ihm, ohne Rätesystem, die innere Revolution des Menschen durch Überwindung der menschlichen Selbstentfremdung nicht gelingen kann, bleibt ihm die Erfüllung der wesentlichsten aller sozialistischen Forderungen versagt. Er ist die letzte Etappe der bürgerlichen, nicht aber die erste Etappe der sozialistischen Welt.
Mit diesen neun Punkten ist nicht nur die tiefe Scheidelinie zwischen Bolschewismus und Sozialismus gezogen. Es ist auch die grundsätzlich bürgerliche Orientierung des Bolschewismus und seine unverkennbare, enge, ja engste Verwandtschaft mit dem Faschismus aufgezeigt.
Nationalismus, autoritäres Prinzip. Zentralismus, Führerdiktatur, Machtpolitik, Gewalt- und Terrorsystem, mechanische Dynamik, bürgerliche Orientierung, Unfähigkeit zum Sozialismus – alle wesentlichen Charakterzüge des Faschismus sind in ihm schon vorhanden. Der Faschismus ist in ihm schon vorgedacht und vorgemacht. Er fand in ihm sein Modell, seinen Lehrmeister. Darum muss aller Kampf gegen den Faschismus mit dem Kampf gegen den Bolschewismus beginnen!
Schriften (u.a.):
- Henry Jacoby/Ingrid Herbst: Otto Rühle. SOAK-Einführungen im Junius Verlag. Hamburg 1985
- Otto Rühle: Schriften. Perspektiven einer Revolution in hochindustrialisierten Ländern. Herausgegeben von Gottfried Mergner. rororo Klassiker. Reinbek bei Hamburg 1971 Schriften aus dem Nachlass Rühles: Brauner und Roter Faschismus (1939) und Weltkrieg, Weltfaschismus, Weltrevolution (1940); Briefe: Lieber Genosse Schlamm, Formenwandel im Klassenkampf
- Otto Rühle: Die Revolution ist keine Parteisache! (1920) in: Dokumente der Weltrevolution Band 3 - Die Linke gegen die Parteiherrschaft; Frankfurt a.M., Wien, Zürich 1970
Überarbeitet nach: http://kurasje.tripod.com/arkiv/10100f.htm (Rechtschreibung)