Erich Mühsam - Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti

1. Akt

4. Mai 1920.

Amtszimmer des Staatsanwalts Frederic G. Katzmann im Gerichtsgebäude zu Dedham. Staatsanwalt Katzmann. Eine Stenotypistin.

KATZMANN diktiert. – – erscheint es bei der außerordentlich hohen Zahl von Kleinautos des gleichen Typs leider kaum aussichtsvoll – haben Sie aussichtsvoll?

STENOTYPISTIN. – leider kaum aussichtsvoll –

KATZMANN. – bei noch so sorgfältiger Kontrolle gerade den Wagen zu ermitteln, welcher den Verbrechern am 15. April zur Verfügung stand. Da die Aussagen der Tatzeugen einander wie gewöhnlich, wenn es sich um plötzliche und erschreckende Ereignisse handelt – halt, Fräulein, wir wollen das anders fassen. Streichen Sie das letzte durch.

STENOTYPISTIN. Von »da die Aussagen« ab?

KATZMANN. Ja. Gouverneur Fuller verlangt Berichte, die ihm die Anordnung eigener Untersuchungen ermöglichen. Wir müssen klarstellen, warum die Augenzeugen gar nichts Genaues wissen können. Also zunächst einmal die ganze Situation. Diktiert. Nach den Berichten der Polizei fand der Überfall um drei Uhr fünf Minuten nachmittags auf der Pearl Street statt, gegenüber dem vierstöckigen Gebäude der Schuhfabrik Rice und Hutchins, dessen Fenster aus undurchsichtigem Glase sind und ohne Ausnahme geschlossen waren. Haben Sie?

STENOTYPISTIN. Ohne Ausnahme geschlossen waren.

KATZMANN. Erst nachdem die Schüsse gefallen waren, wurden die Fenster aufgerissen. Im selben Augenblick, als die Erschießung des Kassierers Parmenter und des Wächters Berardelli erfolgte, fuhr das Auto heran, die Täter warfen die Pakete mit den Lohngeldern hinein, sprangen auf und fuhren mit den Insassen des Wagens in schärfstem Tempo davon. Der Vorfall spielte sich in wenigen Sekunden ab, so daß mit den Aussagen der Zeugen so gut wie nichts anzufangen ist. Die Schuhfabrik Slater und Morill, deren Angestellte die Ermordeten waren, liegt vom Tatort weiter weg; ihre Arbeiter und diejenigen, die in der Nähe Straßenarbeiten verrichteten, haben den Überfall bemerkt, ebenso die Passagiere des Zuges, der kurz vor dem Abfeuern der Schüsse von Brockton angekommen war. Das Zusammenlaufen so vieler Personen, wenn alles vorbei ist, ihr aufgeregtes Erzählen, Fragen, Vermuten und Zusammenreimen, das jeder Kriminalist kennt, verwirrt aber die Beweiserhebung bloß, so daß eine klare Beschreibung des Geschehenen und vor allem der Beteiligten von diesen Kleinstädtern überhaupt nicht erzielt werden konnte. – Erzielt werden konnte. Pause. Immerhin behaupten etwa dreißig Zeugen – wie viele waren es? Haben Sie die genaue Zahl?

STENOTYPISTIN blättert im Akt. Fünfunddreißig, Mr. Katzmann.

KATZMANN. – behaupten fünfunddreißig Zeugen, die Mörder gesehen zu haben und beschreiben zu können. Aus ihren Aussagen kann aber höchstens gefolgert werden, daß der Mann neben dem Chauffeur ein blonder, schmächtiger Mensch war, wie neuerdings mit Bestimmtheit ein Portier Michael Levangie erklärt. Allerdings hat dieser Zeuge unmittelbar nach der Schießerei angegeben, er habe die Banditen selbst gar nicht zu sehen bekommen. Eine Zeugin behauptet, der Begleiter des Chauffeurs habe während des Haltens sich die Zeit genommen, eine Reparatur unter dem Auto auszuführen. Dies ist indessen wenig glaubhaft. – So. Machen Sie hier einen Absatz, Fräulein.

STENOTYPISTIN. Bitte.

KATZMANN. Zusammenfassend muß ich feststellen, daß, sollte sich der Verdacht der Polizei in New Bredford nicht bestätigen, daß die Raubmörder mit der berüchtigten Morellibande identisch sein könnten, nach dem bisherigen Ergebnis der Untersuchung die Befürchtung berechtigt scheint, die Tat am 15. April in South Braintree werde ebenso unaufgeklärt bleiben wie die am 24. Dezember 1919 in Bridgewater und die ähnlichen Verbrechen, die unsere Gegend seit längerer Zeit beunruhigen. Ich erbitte daher direkten Befehl des Gouverneurs von Massachusetts, ob die meines Erachtens wertlosen Nachforschungen nach dem Buick-Auto fortgesetzt werden sollen oder ob nicht lieber – Es klopft.

EIN POLIZEIKOMMISSAR tritt ein. Ich habe dem Staatsanwalt Katzmann zu melden: in der Garage eines gewissen Simon Johnson in Brockton steht ein kleines Buick-Auto zur Reparatur.

KATZMANN. Und? Haben Sie einen Anhaltspunkt, daß es das gesuchte sein könnte?

KOMMISSAR. Das nicht. Aber das Auto gehört einem Italiener Boda, der bei einem anderen Italiener wohnt, einem gewissen Coacci –

KATZMANN. Na, weiter – ist das ein Räuber oder Mörder?

POLIZEIKOMMISSAR. Nein – aber Coacci ist einer von den Radikalen –

KATZMANN plötzlich interessiert. Ah – das wäre eine Fährte! – Erzählen Sie!

KOMMISSAR. Wir hatten Anweisung, Coacci aus dem Staate Massachusetts abzuschieben. Gestern ging ich zu ihm, um nachzusehen, ob er Anstalten zur Abreise trifft. Ich fand ihn beim Kofferpacken. Inzwischen erfuhren wir, daß das Auto bei Johnson seinem Zimmermieter Boda gehört, und ich wurde beauftragt, seine Koffer zu beschlagnahmen. Sie sind schon durchsucht worden.

KATZMANN aufgeregt. War die Beute drin?

KOMMISSAR. Nein, gar nichts Verdächtiges, nur Bücher, Kleidung, Hausrat und ähnliches.

KATZMANN. Dann ist doch, zum Teufel, das Ganze umsonst. Nach kurzer Überlegung. Halt! Es macht nichts. Man muß diesen Radikalen auf die Finger sehen. Veranlassen Sie den Garagenbesitzer, wenn das Auto abgeholt wird, sofort die Polizei zu benachrichtigen, und falls es sich um politisch verdächtige Ausländer handelt – ohne weiteres verhaften. Verstanden?

KOMMISSAR. Sehr wohl, Staatsanwalt Katzmann. Ab.

KATZMANN. Wir wollen den Bericht abbrechen. Bitten Sie Richter Thayer herüber. Er ist doch im Hause?

STENOTYPISTIN. Ich sah ihn in sein Büro gehen. Ab.

Katzmann allein, geht auf und ab, blättert in Aktenbündeln, pfeift einen Gassenhauer. Richter Webster Thayer tritt ein.

THAYER. Sie haben mich rufen lassen, Staatsanwalt? Haben Sie etwas Neues in der Affäre von South Braintree?

KATZMANN. Vielleicht. Nehmen Sie Platz. Sie wissen, daß Generalstaatsanwalt Palmer immer noch daran festhält, daß das Kleinauto ermittelt werden müsse – bei den Tausenden von Buick-Wagen, die hier durchfahren, natürlich ein ganz müßiges Beginnen, den richtigen feststellen zu wollen, der wahrscheinlich längst im Westen oder außerhalb der Staaten ist.

THAYER. Und welche Methode wollten Sie einschlagen?

KATZMANN. Warten Sie. Ich war eben dabei, einen Bericht an Gouverneur Fuller nach Boston zu diktieren, um ihm begreiflich zu machen, daß die Suche nach den Mördern der Pearl Street doch so gut wie aussichtslos geworden ist, daß wir aber bei der Häufung solcher Verbrechen bestimmt mit weiteren Überfällen in der nächsten Zeit rechnen können und dann eben schneller handeln und besser gerüstet sein müssen. Haben wir erst einmal ein paar Banditen, dann können wir jedenfalls dadurch auch ältere Spuren auffinden.

THAYER. Ganz recht. Und nun?

KATZMANN. Ich habe den Bericht in der Mitte abgebrochen. Der Zufall meint es gut mit Mr. Palmer. Wir haben Aussicht, ein Auto dingfest zu machen, das als Corpus delicti unbezahlbar sein kann.

THAYER. Das gesuchte Buick-Auto?

KATZMANN lacht. Wenn es das nicht von selber ist, können wir es vielleicht dazu machen.

THAYER. Ich verstehe noch nicht.

KATZMANN. Das Auto ist in einer Reparaturwerkstatt in Brockton und gehört einem Italiener, der mit radikalen Elementen Verbindung halten soll.

THAYER. Aha!

KATZMANN. Ich habe angeordnet, daß man sich die Kerle, die die Karre abholen wollen, genau ansieht, und sind's Anarchisten oder was Ähnliches – huit! ins Loch.

THAYER. Donnerwetter! Ausgezeichnet! Haben Sie etwa bestimmte Anhaltspunkte, durch die Sie Zusammenhänge zwischen den Räubern und den Revolutionären begründen könnten?

KATZMANN. Wenn wir Glück haben, werden wir sie finden. Einem ausgewiesenen Anarchisten Coacci, dem Zimmerwirt des Autobesitzers Boda, hat die Polizei schon die Koffer weggeholt. Man hat zwar nichts drin gefunden – aber einen Verdacht auf so saubere Kumpane läßt man doch nicht gutwillig wieder aus den Fingern.

THAYER. Famos, ganz famos, Mr. Katzmann. Es trifft sich hervorragend gut. Palmer ist voll Wut über die Kerle, besonders über die Italiener. Da hatten sie in New York zwei Burschen eingelocht, die Demonstrationen oder Streiks organisiert haben sollten, einen Andrea Salsedo und einen gewissen Elia, und weil sie das Maul nicht auftun wollten, um ihre lieben anarchistischen Komplizen zu nennen, hat man sie nach dem dritten Grade behandelt. Fingerknacken et cetera. Da muß wohl was durchgetropft sein, und die Anarchisten grade hier in Massachusetts sollen sich besonders lebhaft ihrer Kumpane angenommen haben. Kurz – gestern ist nun einer der Halunken, der Salsedo, vom 14. Stock des Staatsgefängnisses aus dem Fenster gepurzelt.

KATZMANN. – worden oder selbsttätig?

THAYER. Wird wohl auf eins herauskommen. Jedenfalls mausetot, und in der Mitteilung heißt es, wir sollen ein wachsames Auge auf die Anarchisten des Bezirks haben, von denen die Inszenierung eines großen Protestrummels erwartet wird. Haben Sie das polizeiliche Verzeichnis der verdächtigen Radikalen da?

KATZMANN. Natürlich. Blättert einen Akt auf. Sind Ihnen bestimmte Namen genannt worden?

THAYER. Nur einer – warten Sie, ich hab ihn mir notiert. Sucht im Notizbuch. Richtig – Bartolomeo Vanzetti. Der Kerl war extra in New York und hat für Salsedo und Elia einen Anwalt bestellt.

KATZMANN. Vanzetti – hier: Hält in Plymouth auf einem Karren Fische feil. Gefährlicher Anarchist, Kriegsdienstverweigerer, sehr belesen, schreibt selbst Beiträge für italienische revolutionäre Zeitungen und tritt in Versammlungen als Redner auf. War in mehreren Streikaktionen neben seinem Freunde Nicola Sacco, Schuhe-Zuschneider in Stoughton, als Organisator und Propagandist tätig.

THAYER. Eine wohlriechende Gesellschaft. Wenn man diese Brut tatsächlich in der Mordsache kompromittieren könnte, das wäre ein verdammt harter Schlag gegen ihre Bewegung.

KATZMANN. Ich wäre glücklich, zugleich dem Staat durch die Vernichtung dieser gefährlichen Elemente nützen und meinen armen Freud Parmenter rächen zu können.

THAYER. Sie haben dem ermordeten Parmenter persönlich nahegestanden?

KATZMANN. Er war Mitglied derselben Freimaurerloge, der ich aktiv angehöre. Ich sage Ihnen, wenn die Verbrecher unsere Logenbrüder zu Geschworenen bekommen, dann wird ihre Hetze nicht mehr lange die Geschäfte der amerikanischen Bürger stören.

THAYER. Tun Sie, was möglich ist, Staatsanwalt. Können Sie eine Beziehung der Anarchisten zu dem Raubmord am 15. April oder andern Verbrechen mit Hilfe des Autos jenes ehrenwerten Boda glaubhaft machen, so werden Sie der Autorität des Staates einen unschätzbaren Dienst erweisen.

KATZMANN. Verlassen Sie sich auf mich, wir werden die Wahrheit zu ermitteln wissen.

THAYER. Man muß versuchen, ihr nötigenfalls auf die Füße zu helfen. Es gibt eine Wahrheit, die mehr wert ist als ein objektiver Tatsachenbericht. Es ist die Wahrheit, die die Staatsräson erheischt.

KATZMANN. Auf diese höhere Wahrheit gründet sich das Recht des Staates.

THAYER. Wir müssen es schaffen. Der Staat über alles!

Vorhang.


*****************************************

2. Akt

5. Mai 1920.

Vor Johnsons Garage in Brockton. Nicola Sacco und Rosa Sacco sind gerade angekommen.

SACCO. Vanzetti ist noch nicht hier. Wenn er Boda nicht mitbringt, steure ich das Auto selber.

ROSA. Hat Coacci seine Koffer wieder?

SACCO. Ich glaube nicht. Albernheit, diese ewige Schnüffelei nach Schriften, wo er in den nächsten Tagen doch Amerika verlassen muß. Dieser Defekt von Bodas Auto kommt sehr ungelegen. Wir haben Eile, unsere Literatur fortzuschaffen.

ROSA. Es ist solche Unruhe in mir. Ich wäre froh, wenn unser Paß endlich in Ordnung wäre.

SACCO. Die Herren lassen sich Zeit. Vor drei Wochen war ich deswegen in Boston. Sie schickten mich wieder weg, weil unsere Photographie im Format zu groß war. Trotzdem, sosehr ich mich sehne, jetzt nach Mutters Tod unseren Vater wiederzusehen – es ist gut, daß wir noch nicht unterwegs sind. Ich bin jetzt hier nötig.

ROSA. Daß dir nur nicht noch etwas zustößt! Mir ist bange, sobald du fort bist.

SACCO. Das macht dein Zustand. Quäle dich nicht, du mußt unsern Dante füttern und das Kleine, das kommen soll, und mich braucht die Sache.

ROSA. Du kennst mich doch, Nicola, daß ich dich nicht am Rock halte, wenn du für die Bewegung arbeiten willst.

SACCO küßt sie. Du bist ja meine tapfere Frau und kluge Genossin, Rosa. Freilich, jetzt kommen schwere Tage. Salsedos schreckliches Ende ist ein Anfang.

ROSA. Der Arme!

SACCO. Elia sollen sie sofort entlassen und ausgewiesen haben. Er wird zuviel wissen. Was bewegt sich denn da hinten auf der Chaussee? Ist das ein Baum?

ROSA. Aber das ist doch ein Mensch. Er kommt auf uns zu. Es wird Vanzetti sein.

SACCO. Wahrhaftig! Winkt. Hallo, hierher!

Bartolomeo Vanzetti tritt auf.

VANZETTI. Guten Tag, Sacco, guten Tag, Genossin Rosa.

SACCO. Ich hatte dich für einen Baum angesehen.

VANZETTI. Das kommt von meinem Beruf her. Hamlet hat einmal einen Fischhändler mit einem Staatsmann verwechselt.

ROSA. Hamlet? Wer ist das?

VANZETTI. Ein dänischer Prinz in einem Drama von Shakespeare. Ich erzähle euch nächstens seine Geschichte.

SACCO. Siehst du, Bartolomeo weiß Bescheid in der Literatur. Er schreibt selbst Gedichte, weißt du das?

VANZETTI. So gut eben ein Prolet dichten kann.

ROSA. Oh, ich habe schon Verse von dir gelesen, sehr schöne.

SACCO. Ist alles in Ordnung, Vanzetti?

VANZETTI. Die Schriften liegen bereit, wir brauchen sie bloß abzuholen.

SACCO. Hast du das Flugblatt für die Versammlung geschrieben?

VANZETTI. Hier, genau wie wir alles mit Colombo und d' Alessandro besprochen hatten. Der Saal ist doch fest gemietet?

Sacco steckt das Manuskript ein.

SACCO. Natürlich, die Clark Hall hier in Brockton. Pardo Montagano war gestern abend noch bei mir. Er hat alles abgemacht. Die Hauptrede wirst doch du halten?

VANZETTI. Es wird am besten sein, da ich selbst in New York war. Ich habe viel Material. Die beiden sind entsetzlich gemartert worden.

ROSA. Es ist grauenhaft. Haben sie Salsedo aus dem Fenster hinausgeworfen?

VANZETTI. Bestimmte Nachrichten fehlen noch. Er kann auch Selbstmord begangen haben.

SACCO. Elia soll schon fort sein.

VANZETTI. Er bekam gestern früh Befehl, bis mittags auf dem Schiff zu sein. Ich sprach mit Rechtsanwalt Moore. Er erzählt, daß Elia in der Zwischenzeit noch bei dem New-Yorker Advokaten Nelles war und zu Protokoll gegeben hat, daß er und Salsedo schrecklich gefoltert worden sind, um Geheimnisse herauszupressen. Er war so schwach und gehetzt, daß er nur mit Mühe sprechen konnte. Jetzt ist er auf der Fahrt nach Italien.

ROSA. Ich beneide ihn trotzdem darum.

SACCO. Geh jetzt nach Hause zu Dante, Rosa. Sag ihm, ich spiele heute noch mit ihm. Ich komme bald nach, sobald wir die Schriften in Sicherheit haben.

ROSA. Ich werde froh sein, wenn du daheim bist. Ab.

VANZETTI. Du bist ein glücklicher Mensch, Sacco.

SACCO. Ich bin zufrieden, dies Weib zu haben.

VANZETTI. Und das Kind!

SACCO. Das zweite ist auf dem Wege. Ja, weißt du, dir hilft in dem schweren Kampf gegen die Feinde des Proletariats, gegen den Staat und die bürgerliche Gesellschaft, deine Beschäftigung mit der Poesie und den Wissenschaften dich im Gleichgewicht zu halten. Ich brauche meine Familie dazu, ich muß Hausvater sein, um über die Gegenwart hinaus für die Zukunft zu schaffen.

VANZETTI. Ganz kommt keiner von uns von solchen persönlichen Bindungen los. Ich habe außer meinem alten Vater eine Schwester, Luigia, an der hängt mein Herz. Aber ich glaube nicht, daß die Blutsverwandtschaft viel ausmacht; sie hilft nur, einige Menschen genauer als andere kennenzulernen, und wenn wir dabei Kameraden in ihnen finden, dann freilich müssen wir sie sehr lieben.

SACCO. Ja, ohne geistige Verbindung in der Idee ist Familie nur Ballast. – Pause. Wollte nicht Orciani noch herkommen oder Boda?

VANZETTI. Vielleicht kommt noch einer der Genossen. Es ist zwar nicht wahrscheinlich, daß sie den Arbeitstag versäumen werden. Aber wir können noch warten.

SACCO. Es ist schwer durchzukommen in dieser Zeit.

VANZETTI. Dir besonders ist es gewiß nicht leicht gemacht worden.

SACCO. Wenn ich dran denke, mit was für Erwartungen ich aus Torremaggiore auswanderte. Dann konnte ich mich jahrelang in allen möglichen Berufen herumstoßen lassen, bis ich das Handwerk lernte, Schuhe zuzuschneiden. Seitdem ist es ja leidlich gegangen. Ich habe mein Häuschen, meinen hübschen Garten.

VANZETTI. Hat dir eigentlich deine Tätigkeit als Anarchist nie bei deinen Arbeitgebern geschadet?

SACCO. Wenig. Nur während des Krieges, wo wir zusammen vor der Einberufung nach Mexiko flüchteten – das war hart, die Frau und das kleine Kind allein zu lassen. Aber seitdem hat immer meine Brauchbarkeit als Arbeiter den Widerstand der Fabrikherren gegen den Revolutionär gebrochen. – Schließlich weiß ein Mann wie mein jetziger Arbeitgeber, Kelley, doch auch, wem er während langer Zeit das Amt des Fabriknachtwächters anvertrauen konnte. Ich hätte mit Leichtigkeit dabei Lederwaren für mindestens 20000 Dollar verschwinden lassen können. Ach, Vanzetti, ich wollte, ich dürfte mich außer der Arbeit für die Freiheit ganz der Gärtnerei und unserem Hausstand widmen.

VANZETTI. Weißt du, was ich am liebsten wäre? – Lehrer. Dazu fühle ich das Zeug in mir. Na, das ist vorbei. Dazu hätte ich in der Jugend Gelegenheit haben müssen, den Grund zu legen. Aber für den Proletarierjungen hieß es einfach: hinaus in die Welt und Brot verdienen! Seit ich mit dem Karren durch Plymouth schiebe und Aale verkaufe, komme ich ja ganz gut zurecht. Dabei ist das Handwerk nicht mal so leicht, wie du glauben magst. Sieh, ich muß oft nach Boston fahren, Fische einkaufen. Dazu muß ich 80 bis 120 Dollar bar in der Tasche haben. Die müssen erst beisammen sein. Und was in der letzten Zeit nicht alles vorkommt an Straßenräubereien und Diebstählen. Für den Zweck trage ich jetzt immer einen Revolver bei mir – da, schau. Zeigt ihn.

SACCO. Ist er geladen?

VANZETTI. Ich hab ihn geladen gekauft, aber noch nie einen Schuß daraus abgegeben. Ich besitze auch keine Munition weiter. – Hallo, aber vier leere Patronenhülsen habe ich noch. Die soll ich in Plymouth einem Nachbarn bringen, der sie für die Jagd braucht. – Hast du eine Waffe?

SACCO. Zufällig sogar bei mir – den Revolver, den ich als Nachtwächter haben mußte. Ich trag ihn in der Innenseite der Hose; ein Haufen Patronen sind auch noch dabei. Ich wollte sie vor der Abreise nach Italien längst mal im Walde abfeuern, um sie loszuwerden – hab's immer wieder vergessen.

VANZETTI. Ich hoffe, daß ich meine Kugel niemals aus dem Lauf zu lassen brauche. Aber was soll man tun, wenn einem so etwas passiert wie neulich den Leuten von der Schuhfabrik in South Braintree?

SACCO. 25000 Dollar sind für die Ergreifung der Mörder ausgesetzt, und dabei keine Spur.

VANZETTI. Sie fahnden nach einem kleinen Auto, das bei der Geschichte die Hauptrolle gespielt haben soll. Es wird behauptet, es wäre derselbe Wagen gewesen, mit dem vorher der Mordversuch in Bridgewater unternommen worden ist. Na, wir beide werden uns den Angeberlohn nicht verdienen wollen. Die Räuber werden sich auch vorgesehen haben. Verwegene Gesellen müssen es schon sein.

VANZETTI. Arme Teufel sind es, Sacco! Sie denken nur an die eigene Not und ihren eigenen Vorteil. Eine große sittliche Idee reguliert ihre Handlungen nicht, und daher gilt ihnen das Leben eines Nebenmenschen so wenig, wie dem Staat das Leben von Proletariern gilt. Ihr eigenes Leben fühlen sie nicht verbunden mit dem ihrer Klasse, und werden sie gefaßt – was für ein Ende steht ihnen bevor? Der elektrische Stuhl!

SACCO. Bei lebendigem Leibe geröstet werden – ich danke!

VANZETTI. Um das Ende zu finden, braucht man freilich hierzulande noch kein Mörder zu sein. Denk an die Galgen von Chicago! Und wieviel hat gefehlt, daß Tom Mooney nicht denselben Weg gehen mußte!

SACCO. Du darfst nicht vergessen, in der Clark Hall am Neunten die Freilassung von Tom Mooney und Warren Billings zu verlangen!

VANZETTI. Keine Sorge! Unser armer Freund Salsedo soll nur der Ausgangspunkt sein, um mit der Klassenjustiz gründlich Fraktur zu reden. Ich werde ihnen weder Tom Mooney und Warren Billings schenken noch den Centralia-Skandal, und sogar daran werde ich sie erinnern, daß sie der langsame Tod Zehntausender von Proletariern nicht schert, die das staatliche Elend in die Zuchthäuser gebracht hat, daß sie aber wegen zweier Toter, die zufällig ohne ihr Zutun ermordet wurden, die ganze Bevölkerung von Massachusetts hinter einem verschollenen Auto herjagen.

SACCO. Hör mal, Vanzetti, ich meine, es wird doch Zeit, daß wir jetzt mal wenigstens nach unserem Auto sehen. Von den Genossen kommt doch wohl keiner mehr.

VANZETTI. Gut, ich will läuten. Klingelt.

Frau Johnson öffnet das Einfahrttor.

SACCO. Wir möchten das Auto abholen, das Mr. Boda zur Reparatur hergebracht hat.

FRAU JOHNSON. Haben Sie eine Vollmacht von Mr. Boda?

SACCO. Ist Mr. Simon Johnson nicht selbst da? Der kennt mich.

FRAU JOHNSON ruft in die Garage. Simon, komm rasch vor!

Simon Johnson erscheint.

JOHNSON. Ah, Mr. Sacco! Sehr erfreut. Sie wollen Mr. Bodas Auto abholen? Bitte, die Reparatur ist fertig. Wollen Sie hintergehen und den Wagen selbst herausfahren? Verbeugt sich vor Vanzetti. Johnson ist mein Name, Simon Johnson.

SACCO. Das ist mein Freund Bartolomeo Vanzetti – ich stehe für ihn ein.

JOHNSON. Oh, das genügt mir. Das genügt mir selbstverständlich. Sacco und Vanzetti begeben sich in die Garage. Zu seiner Frau. Schnell, telefoniere an die Polizei, daß zwei italienische Anarchisten da sind, um Bodas Auto zu holen.

Frau Johnson eilends ab.

Sacco und Vanzetti kommen wieder heraus.

SACCO. Aber Mr. Johnson, so können wir das Auto gar nicht mitnehmen. Es ist keine Nummer und kein Namensschild dran.

JOHNSON. Wirklich nicht? Richtig – richtig – ich erinnere mich, das ist vergessen worden. Ja, das ist mir schrecklich unangenehm, da müssen sich die Gentlemen morgen schon noch einmal herbemühen.

VANZETTI. Vorher können Sie die Schilder nicht beschaffen?

JOHNSON. Leider nein, Mr. Vanzetti. Nehmen Sie es bitte nicht übel. – Also auf Wiedersehen! Morgen bekommen Sie den Wagen ganz bestimmt. Auf Wiedersehen. Ab, schlägt das Tor zu.

VANZETTI. So ein Ochse!

SACCO. Ohne Bezeichnung können wir natürlich mit dem Auto nicht losfahren. Die Polizei hält uns am nächsten Ort an, und wir fliegen mit der ganzen Literatur auf.

VANZETTI. Gefährlich ist es sowieso schon. Die Polizei hat sicher davon Wind, daß wir am Neunten die Versammlung vorhaben.

SACCO. Um so weniger dürfen wir noch extra ihre Aufmerksamkeit auf unseren Wagen ziehen.

VANZETTI. Übrigens, falls wir irgendwie Pech haben sollten, wir kennen selbstverständlich weder einen Boda noch sonst jemanden, nach dem man uns fragt.

SACCO. Darüber ist doch kein Wort zu verlieren. – Komm, wir fahren zusammen zu uns, die Elektrische steht gerade da. Rosa wird sich freuen, wenn ich so früh da bin.

Beide ab.

Die Bühne bleibt kurze Zeit leer.

Es fahren Polizisten heran mit dem Kommissar, springen von den Rädern.

KOMMISSAR läutet heftig. He, Mr. Johnson!

JOHNSON öffnet. – Hier, Kommissar!

KOMMISSAR. Wer war hier?

JOHNSON. Zwei Anarchisten. Den einen, Sacco, kenne ich persönlich, der andere heißt Vanzetti.

KOMMISSAR. Und wo sind sie geblieben? Ich habe sie zu verhaften.

JOHNSON. Dort gehen sie ja noch. Sehen Sie, eben steigen sie auf die Straßenbahn auf. Fahren Sie zu, fahren Sie zu! Sie holen sie leicht ein. Viel Glück zum guten Fang!

KOMMISSAR. Marsch, auf die Räder! Den beiden nach!

Polizisten springen eilig auf die Räder.

Vorhang.


*****************************************

3. Akt

16. Mai 1920.

Szene wie im 1. Bild.

Katzmann, Thayer, Polizeikommissar, Stenotypistin.

KATZMANN. Alles in allem, Richter Thayer, wir haben einen großartigen Fang gemacht.

THAYER. Sind Belastungszeugen gefunden?

KATZMANN. Einige sagen schon recht gut aus. Mit der Mehrzahl werden wir freilich nicht viel Glück haben. Wieviel Zeugen habt ihr bei der Polizei vernommen?

KOMMISSAR. Die Vernehmungen werden andauernd fortgesetzt. Wir haben 160 Personen vornotiert. Die meisten sagen für Sacco und Vanzetti günstig aus. Die werden vom Polizeichef gewöhnlich gleich fortgeschickt. Ich habe einen Auszug aus den Aussagen mitgebracht.

THAYER. Geben Sie mal her. Nimmt das Papier. Die Beschuldigten sind an Ort und Stelle?

KOMMISSAR. Jawohl. Von den Zeugen ist nur der Portier Levangie herbestellt. Er wartet draußen.

THAYER. Nannten Sie den Namen nicht neulich schon?

KATZMANN. Das ist der Mann, der einen der Mörder als blond und schmächtig beschrieben hatte.

THAYER. Sieht denn einer der Verhafteten so aus?

KATZMANN. Nicht entfernt. Aber der Zeuge hatte vorher erklärt, daß er überhaupt keinen der Beteiligten gesehen hätte.

THAYER. Und jetzt identifiziert er die Täter? Den Mann können wir brauchen. – Was hat die Polizei sonst noch unternommen, um die Wahrheit festzustellen?

KOMMISSAR. Wir versorgen die Zeitungen täglich mit Alarmnachrichten über die revolutionäre Bewegung und bereiten so die Stimmung vor für den Fall, daß Sacco und Vanzetti in der Sache von South Braintree angeklagt werden.

THAYER. Gut. Die Sache muß unter allen Umständen zum gewünschten Abschluß gebracht werden.

KATZMANN. Ich bin dabei, Material gegen die beiden auch im Zusammenhang mit dem Überfall von Bridgewater herbeizuschaffen.

THAYER. Und kommen Sie vorwärts damit?

KATZMANN. Ich hoffe bestimmt, daß wenigstens einer von ihnen deswegen vor die Geschworenen zu bringen sein wird.

THAYER. Auf welchen sehen Sie es ab?

KATZMANN. Wir werden ja beide gleich vor uns sehen. Danach können wir uns schlüssig werden.

THAYER. Sind die Beschuldigten streng isoliert?

KOMMISSAR. Wir haben sie vorläufig in die Stahlkäfige des Polizeigefängnisses gesetzt.

KATZMANN. Sie haben noch keine Ahnung, daß sie unter Mordverdacht stehen.

THAYER. Wurde in politischer Hinsicht Belastungsmaterial bei ihnen gefunden?

KATZMANN. Beide trugen Revolver bei sich, und Sacco hatte in der Tasche einen Aufruf für eine Versammlung, die am 9. Mai in der Clark Hall hätte stattfinden sollen. Vanzetti hatte ihn geschrieben. Es sollte eine Protestkundgebung gegen Salsedos Tod werden.

THAYER. Das hätte den Schuften gefallen. Na, ich werde mir den Vorsitz in dem Prozeß rechtzeitig sichern. Es muß ein Exempel statuiert werden, und wir müssen diesen Hetzern einen Denkzettel geben, der den Staaten für lange Zeit Ruhe vor den ausländischen Schädlingen verschaffen wird.

KATZMANN. Bisher konnten wir sie immer nur für Bombenwürfe oder Gewalttaten verantwortlich machen, die ihnen, auch wenn sie sie begangen hätten, bei ihresgleichen hier und in Europa keine Sympathien kosten konnten, da es immerhin politische Taten sind. Überführen wir aber jetzt zwei angesehene Agitatoren gemeiner Banditenverbrechen, dann kompromittieren wir die ganze Bewegung moralisch aufs allerschwerste.

THAYER. Das wird sehr nützlich sein. – Wir wollen aber jetzt mit den Verhandlungen beginnen. Rufen Sie zuerst den Zeugen.

KOMMISSAR öffnet die Tür. Mr. Levangie bitte!

Portier Michael Levangie tritt ein.

THAYER. Befragen Sie den Zeugen, Staatsanwalt Katzmann, ich möchte nur einen Eindruck gewinnen und inzwischen die Akten einsehen.

KATZMANN. Sie heißen Michael Levangie und sind Portier in der Schuhfabrik Rice und Hutchins. Sie haben den Überfall auf den Kassierer Parmenter und den Wächter Berardelli auf der Pearl Street in South Braintree als Augenzeuge mit angesehen, nicht wahr?

LEVANGIE. Ja – das heißt –

KATZMANN. Gewiß, Sie haben nicht jede Einzelheit beobachten können, doch aber wohl den Insassen des Autos, mit dem dann die Mörder abfuhren, genau genug betrachtet, um ihn mit Sicherheit wiederzuerkennen – ja?

LEVANGIE. Ich denke wenigstens –

KATZMANN. Sie wollen sagen, daß die Erinnerung manchmal täuschen kann. Doch ist das in der Regel nur unmittelbar nach einem aufregenden Vorfall so. Es braucht Sie deshalb nicht im geringsten befangen zu machen, daß Sie zuerst, ein paar Minuten nach der Schießerei, Ihrem Bekannten Henry McCarthy gesagt haben, Sie hätten keinen von den Banditen zu sehen bekommen. Vielleicht wollten Sie sich damit nur die Unannehmlichkeit ersparen, überhaupt als Zeuge befragt zu werden. Ist es nicht so?

LEVANGIE. Es kann vielleicht so sein.

KATZMANN. Bei Ihrer Vernehmung vor der Polizei haben Sie dann angegeben, der Mann neben dem Führer des Autos sei blond und von schmächtigem Wuchs gewesen.

LEVANGIE. Allerdings – jedoch –

KATZMANN. Aber beunruhigen Sie sich doch nicht, Mr. Levangie! Wir haben volles Verständnis dafür, daß sich Ihnen das Gedächtnisbild erst klären mußte. Heute wissen Sie, daß Sie sich damals geirrt haben und daß der Bandit einen starken, dunklen Schnurrbart hatte, Sie erkennen ihn auf dieser Fotografie unzweifelhaft wieder, nicht?

Zeigt das Bild Vanzettis.

LEVANGIE. Ja, mir ist so, als ob ich den gesehen hätte.

KATZMANN. Natürlich – den haben Sie gesehen. Er wird gleich hier ins Zimmer geführt werden. Prägen Sie sich dabei sein Gesicht noch einmal scharf ein. Sie werden uns vor Gericht ein wichtiger und wertvoller Zeuge sein und Ihrem Vaterland mit der Überführung eines höchst gefährlichen Schwerverbrechers einen überaus dankenswerten Dienst leisten.

LEVANGIE. Das soll mir eine große Ehre sein.

KATZMANN. Sehr gut. Fräulein, schreiben Sie bitte: Ich, Michael Levangie, Portier, erkläre hiermit an Eides Statt, auf Grund reiflicher Überlegung und nach bestem Gewissen, daß ich in dem mir vorgelegten Lichtbild des Fischhändlers Bartolomeo Vanzetti mit voller Bestimmtheit den Mann wiedererkenne, welcher bei der Mordtat in South Braintree auf der Pearl Street neben dem Chauffeur im Auto saß. – So. Nun schreiben Sie Ihren Namen darunter, Gentleman.

Levangie unterschreibt.

Warten Sie jetzt, bis der Beschuldigte das Zimmer betritt. Sehen Sie ihn genau an und prägen Sie sich seine Züge ein. Sie werden vor den Geschworenen Gelegenheit erhalten, die hier abgegebene Versicherung unter Eid zu bekräftigen. – Lassen Sie Vanzetti hereinführen, Kommissar.

KOMMISSAR öffnet die Tür. Der Untersuchungsgefangene Italiener Bartolomeo Vanzetti soll gebracht werden.

THAYER. Sie sind ein wackerer Mann, Mr. Levangie.

Vanzetti tritt ein, zwischen zwei Polizisten.

Levangie läßt ihn an sich vorübergehen, faßt ihn fest ins Auge und geht hinaus.

Sie sind der Anarchist Vanzetti?

VANZETTI. Der bin ich und bleibe ich. Und wer sind Sie?

THAYER. Ich bin der Richter Webster Thayer, vor dem Sie sich zu verantworten haben werden.

VANZETTI. Was wünschen Sie von mir?

THAYER. Staatsanwalt Frederic G. Katzmann wird Sie in meiner Gegenwart vernehmen, damit ich erkenne, mit was für einem Menschen ich es zu tun habe.

VANZETTI. Zuerst möchte ich fragen, weswegen ich eigentlich gefangengehalten werde und in die Rolle eines Angeklagten versetzt werden soll.

KATZMANN. Oh, das werden Sie schon selber wissen.

VANZETTI. Ich weiß nur, daß ich seit elf Tagen wie ein Verbrecher behandelt werde, ohne daß man mir oder meinem Verteidiger bis jetzt eine Erklärung dafür gegeben hätte.

KATZMANN. Sie bezeichnen sich doch selber als Anarchist.

VANZETTI. Das bin ich. Nach der Verfassung der Vereinigten Staaten steht es jedem Einwohner dieses Landes frei, die Gesinnung zu haben, die ihm richtig scheint, selbst wenn es eine Gesinnung ist, die sogar in diesem Lande für die arbeitenden Menschen Freiheit und Gerechtigkeit erstrebt.

THAYER. Ihr Glaubensbekenntnis geht uns nichts an. Sie sollen nicht Ihrer sogenannten Gesinnung wegen zur Verantwortung gezogen werden, sondern wegen gesetzwidriger Handlungen, in denen sie sich geäußert hat.

VANZETTI. Die wären?

KATZMANN. Es ist eine geladene Schußwaffe bei Ihnen gefunden worden, ein 38-kalibriger Harrington- und -Richardson-Revolver, ferner vier Patronenhülsen. Was haben Sie damit beabsichtigt?

VANZETTI. Darüber habe ich der Polizei alle notwendigen Erklärungen gegeben. Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie mich allein um dieser Bagatelle willen inkriminieren? Merkwürdig: die Polizei will fortwährend politische Bekenntnisse von mir haben, nach denen zu fragen ihr verboten ist, und Sie leiten eine feierliche Voruntersuchung ein, weil ein Händler, der oft weite Wege mit größeren Geldbeträgen in der Tasche zurücklegen muß, in diesen unsicheren Gebieten einen noch nie benutzten Revolver bei sich trägt und dazu vier Patronenhülsen für ein Jagdgewehr.

KATZMANN. Es ist immerhin verdächtig, wenn ein Mann, angeblich zu seiner Verteidigung, Waffen trägt, der sich dem Verlangen, zur Verteidigung des Staates die Waffen zu nehmen, entzogen hat.

VANZETTI. Das habe ich getan, weil ich Gegner des Krieges bin und weil ich dem Staat nicht das Recht zuerkenne, zum Nutzen des Kapitals das Leben der Arbeiter zu fordern, die ohnedies die Opfer des Kapitals sind.

KATZMANN. Ferner haben Sie sich falscher Aussagen schuldig gemacht, indem Sie vor der Polizei die Bekanntschaft mit anderen italienischen Radikalen bestritten, die Ihnen inzwischen nachgewiesen ist.

VANZETTI. Bei Ermittlungen, die auf Kosten anderer gehen, bin ich Ihnen allerdings nicht behilflich. Ihr Geschäft, Haussuchungen, Verhaftungen und Deportationen vorzunehmen, wird Ihnen ein Revolutionär nicht freiwillig erleichtern.

KATZMANN. Sie haben auch, wie sich herausgestellt hat, über Ihren Aufenthalt und Ihre Wege an dem Tage, an dem Sie verhaftet wurden, irreführende Angaben gemacht.

VANZETTI. So sagen Sie doch geradeheraus, daß Sie mich wegen meiner radikalen Anschauungen und wegen meiner Bemühungen um Andrea Salsedo verhaften ließen und mich, da ich ebenso wie Sacco, nicht als Ausländer registriert bin, ausweisen wollen.

KATZMANN. Ihre Ausflüchte bei der Befragung nach Ihrer Tätigkeit am Tage der Verhaftung erwecken das Interesse der Behörden, zu erfahren, wo Sie sich an gewissen anderen Tagen aufgehalten haben.

VANZETTI. Was für Tage sollen das sein?

KATZMANN. Wo befanden Sie sich am 15. April dieses Jahres?

VANZETTI. Heut ist der 16. Mai – das ist einen vollen Monat her. Hab ich denn an dem Tage nicht in Plymouth Fische verkauft wie sonst gewöhnlich auch?

KATZMANN. Das wollte ich von Ihnen wissen. Weiter: wo hielten Sie sich am 24. Dezember 1919 auf?

VANZETTI. Bin ich denn ein Gedächtniskünstler? Wenn Sie mir sagen, was sich an diesen Tagen etwa Besonderes ereignet hat, was mich angehen könnte, besinne ich mich vielleicht.

THAYER. Ich denke, Mr. Katzmann, es genügt. Wir können den Mann wieder abführen lassen.

VANZETTI. Und wann werde ich erfahren, warum Sie mich eigentlich in Haft halten?

KATZMANN. Früh genug, Mr. Vanzetti! Kommissar, bitte lassen Sie Sacco bringen.

Vanzetti wird hinausgeführt.

Sacco zwischen zwei Polizisten tritt ein.

SACCO beim Vortreten. Ich wünsche endlich zu erfahren, worauf die ganze Komödie hinaus will.

THAYER. Ich ermahne Sie ernstlich, Ihre Mißachtung gegen die Autorität des Staates für sich zu behalten. Hier wird keine Komödie gespielt, sondern Gerechtigkeit geübt.

SACCO. Jawohl, unter Mißbrauch von Paragraphen das Menschenrecht gebeugt.

KATZMANN. Ich habe Sie zu vernehmen. Sie heißen Nicola Sacco und sind in Stoughton ansässig.

SACCO. Ja, ja, außerdem Italiener, Proletarier, Kriegsdienstverweigerer, Revolutionär, Anarchist und von Ihrer Gerechtigkeit grundlos der Freiheit beraubt.

THAYER. Niemand wird in Amerika grundlos in Haft genommen.

SACCO. Aber manchmal ist die Verhaftung nicht die Folge von Gründen, sondern die Ursache. Haben Sie für meine Verhaftung schon Gründe gefunden, wenn ich fragen darf?

KATZMANN. Sie waren ohne Erlaubnis bewaffnet. Bei Ihrer Festnahme wurde Ihnen ein vollgeladener 32-kalibriger Revolver abgenommen, und Sie hatten noch 22 Patronen bei sich.

SACCO. Den Revolver trug ich früher im Auftrag meines Arbeitgebers. Die Patronen wollte ich im Walde abfeuern, um sie nicht bei meiner Abreise nach Italien zu Hause liegen zu haben. Wollen Sie sonst noch etwas wissen, machen Sie es bitte kurz und belästigen Sie mich nicht mit Fragen, die ich der Polizei schon zehnmal beantwortet habe.

KATZMANN. Sie haben die Polizei angelogen. Sie haben behauptet, den Italiener Boda nicht zu kennen, obwohl Sie gerade von ihm kamen und sein Auto von der Garage holen wollten.

SACCO. Es gibt Verpflichtungen der Kameradschaft für uns revolutionäre Arbeiter, die ich bei Ihrem Verhör nicht weniger erfüllen werde als vor der Polizei. Was Sie über das Tun und Lassen meiner Freunde und über unsere Beziehungen zueinander wissen möchten, werden Ihnen Ihre Spitzel ohne Zweifel mit mehr Aufrichtigkeit erzählen als ich.

THAYER. Sie täten klüger, die Männer, die über Sie zu Gericht sitzen werden, nicht durch Verstocktheit zu verstimmen, sondern ihre Fragen wahrhaftig zu beantworten.

SACCO. Vorläufig warte ich noch auf eine wahrhaftige Antwort auf die Frage, was mit meiner Verhaftung bezweckt wird. Wann werden Sie mich zu meiner Familie entlassen?

KATZMANN. Das wird sich finden. – Wo sind Sie am 15. April gewesen?

SACCO. Das wird sich doch wohl feststellen lassen.

KATZMANN. Sie können sich nicht mehr erinnern?

SACCO. Ich werde wohl gearbeitet haben. – Mitte April war ich auch einmal in Boston beim italienischen Konsulat. Ob das gerade am Fünfzehnten war, weiß ich im Augenblick nicht genau.

KATZMANN. Es ist gut. Über alles Weitere werden Sie rechtzeitig Kenntnis erhalten.

SACCO. Wenn Sie mich ausweisen wollen, dann warten Sie nicht zu lange damit. Ich kann auch außerhalb eines Landes leben, in dem mein Freund Salsedo zu Tode gefoltert wurde.

THAYER. Schweigen Sie! – Führen Sie den unverschämten Patron hinaus!

Sacco wird abgeführt.

KATZMANN. Es sind gefährliche Burschen, alle beide. Ich denke mir, wir werden Vanzetti wegen des Überfalles in Bridgewater schnell und in aller Stille aburteilen und in dem Prozeß die Unterlagen schaffen, mit denen wir in der Braintree-Affäre Sacco und Vanzetti gemeinsam erledigen können.

THAYER. Einverstanden, Staatsanwalt!

Vorhang.


*****************************************

4. Akt

17. August 1920.

Gefängniszelle in Brockton.

Sacco, Rechtsanwalt Thompson, Aufseher.

THOMPSON eben eingetreten. Lassen Sie mich jetzt mit meinem Klienten allein. Zu Sacco. Ich habe erreicht, daß Vanzetti mit Ihnen zusammen in diese Zelle kommt.

SACCO. Das ist schön. Ich freue mich aufs Wiedersehen. Aber erzählen Sie, rasch, haben sie es gewagt, ihn zu verurteilen?

THOMPSON. Es war der tollste Prozeß, den ich mitgemacht habe. Als Richter Thayer den Saal betrat, hatte er Vanzetti schon verurteilt.

SACCO. Aber es ist doch Irrsinn, Vanzetti eine solche Tat vorzuwerfen. Sie sagten, daß sein Alibi vollkommen erwiesen sei.

THOMPSON. Wir haben 18 Zeugen beigebracht, die bestätigten, daß sie ihn am Tage des Überfalls in Bridgewater in Plymouth Fische verkaufen sahen. Wir haben die Eilfrachtbriefe von der Bahn vorgelegt, die keinen Zweifel lassen, daß er an dem Tage lebende Aale erhalten hatte, also dort gewesen sein muß. Wenn aber Richter wünschen, daß einer schuldig sein soll, dann sprechen sie ihn eben schuldig.

SACCO. Wie hoch haben sie ihn verurteilt?

THOMPSON. 15 Jahre Zuchthaus. Nun, es wird nicht dabei bleiben.

SACCO. Es wird Aufsehen geben in der Öffentlichkeit.

THOMPSON. Im Prozeß wurde alles Aufsehen vermieden. Er ging vor sich, ohne daß vorher wie sonst eine Ankündigung erschienen wäre, obgleich es doch eine Verhandlung mit politischem Hintergrund war.

SACCO. Vielleicht wollte man den politischen Charakter des Prozesses gerade verdunkeln.

THOMPSON. Offenbar. Dabei ist Vanzetti selbstverständlich nur mit dem Verbrechen in Zusammenhang gebracht worden, weil er ein Radikaler ist.

SACCO. Sie hätten genausogut mich verdächtigen können.

THOMPSON. Sicher. Katzmanns Zeugen hätten jeden belastet, den er ihnen hingestellt hätte.

SACCO. Und die Überfallenen selbst?

THOMPSON. Die konnten ja gar nichts sagen. Sie saßen im Auto, wurden von einem andern Auto aus beschossen und schossen zurück. Beide, White wie Cox, haben ihre Angreifer nur von hinten gesehen, als sie schon flüchteten.

SACCO. Was werden Sie tun, um das Urteil umzustoßen?

THOMPSON. Ich habe 20000 Dollar Kaution angeboten, um Vanzettis provisorische Freilassung zu erwirken. Dann kann er selbst mithelfen, die Revision des Prozesses vorzubereiten.

SACCO. 20000 Dollar – ein so ungeheures Vermögen?

THOMPSON. Thayer erklärte, daß darunter keine Freilassung in Frage komme. Ich bringe das Geld aber auf, der Fall ist zu ungeheuerlich.

SACCO. Die Richter stehen im Dienst des Kapitals. Vanzetti ist dem Kapital gefährlich – die Revision wird nicht weniger parteiisch geführt werden als die Hauptverhandlung.

THOMPSON. Nötigenfalls werde ich Gouverneur Fuller in Boston anrufen. Das ist ein rechtdenkender Mann.

SACCO lacht. Dann wäre er kaum schon so lange Gouverneur von Massachusetts. – Hören Sie, es werden Türen geschlossen. Sie werden Vanzetti bringen.

Aufseher mit Rosa Sacco.

Umarmt sie. Ah! Du! Wie geht's dir? Wie geht's Dante?

ROSA. Er schickt dir die Blumen aus unserem Garten und bittet, du sollst bald wieder nach Hause kom men.

SACCO. Lieber heute als morgen. – Du weißt, daß Vanzetti verurteilt ist?

ROSA. Es ist furchtbar. Dir können sie doch keinen Fallstrick drehen, Nicola?

SACCO. Bewahre. Außer dem Waffentragen ohne Erlaubnis werfen sie mir vorläufig nichts vor.

ROSA. Aber wie lange sich das schon hinzieht!

THOMPSON. Am 26. Mai hat Richter Avri vom Distriktsgericht in Quincy den Fall dem Geschworenengericht übergeben, und am 11. Juni hat das Geschworenenkollegium von Plymouth den Richter Thayer benachrichtigt, daß Ihr Mann wegen des Revolvers in Anklagezustand versetzt wird. Zugleich wurde Vanzettis Prozessierung wegen des Raubüberfalles in Bridgewater verfügt.

ROSA. Läßt sich denn gar nichts tun, um Nicola freizubekommen? Er ist nun schon über drei Monate hier, und ich bin doch in der Hoffnung.

SACCO. Du darfst den Mut nicht verlieren, Liebling. Sie werden mich noch eine Weile festhalten und mit ihren Verhören peinigen, und wenn sie sich überzeugt haben, daß ich über die Bewegung ebenso schweigen kann wie Salsedo und Elia, werden sie mich nach Italien zurückschicken.

ROSA. Wär's nur erst soweit. Aus Amerika ist schon eine wahre Folterkammer geworden.

SACCO. Uns, die wir die Freiheit für alle erkämpfen wollen, erwarten überall Ketten und Gefängniszellen.

Türrasseln. Starke Schritte.

Vanzetti wird vom Kommissar und Polizisten gebracht.

KOMMISSAR. Hier herein. Sie bleiben vorläufig mit dem Untersuchungsgefangenen Sacco zusammen.

Mit Begleitern ab.

VANZETTI. Seit langem die erste erfreuliche Botschaft, die ich höre. Guten Tag, Sacco. Ah – Genossin Rosa. Und Sie finde ich schon hier, Rechtsanwalt Thompson. Dank für Ihre Mühe, wenn sie auch vergeblich war.

THOMPSON. Sie brauchen den Kopf noch nicht hängenzulassen.

VANZETTI. Das ist auch nicht meine Art.

SACCO. Wir wollen sehen, was die Herren weiter mit uns vorhaben. Zusammen in Staatspension wird's uns nicht langweilig werden.

ROSA. Wir werden draußen auch nicht müßig sein, und du, Genosse Vanzetti, wirst so wenig vergessen wie Nicola.

VANZETTI. Ich habe gestern einen Blick getan in die Giftkammer unserer Feinde. Gutes haben wir von denen nicht zu erwarten.

THOMPSON. Die Frage, ob Sie gegen Kaution vorläufig freigelassen werden, muß inzwischen entschieden sein. Staatsanwalt Katzmann hat mir versprochen, mir persönlich Bescheid zu sagen, da er heute doch nach Brockton kommt.

VANZETTI. Er muß hier im Gebäude sein. Ich sah unten sein Auto stehen und erkannte bestimmt den Chauffeur.

ROSA. Ach, dann lassen sie dich vielleicht gleich mit mir fortgehen – dann, Nicola, wüßte ich, daß du auch bald kommst.

SACCO. Laßt uns nicht zu fest auf die Großmut des Mr. Katzmann oder des Mr. Thayer bauen.

VANZETTI. Eher wird ein Tiger an einem Lamm großmütig handeln als diese Leute gegen Anarchisten.

Staatsanwalt Katzmann wird eingelassen.

THOMPSON. Sie bringen den Bescheid über die Annahme der Kaution für meinen Klienten Vanzetti, Staatsanwalt Katzmann?

KATZMANN. Der Antrag ist abgelehnt worden. Es haben sich Verdachtsmomente ergeben, daß der des Überfalles in Bridgewater schuldig befundene Händler Bartolomeo Vanzetti auch an dem Raubmord in South Braintree am 15. April beteiligt war.

VANZETTI. Was?

SACCO. Das ist stark! Das könnten Sie genausogut auch von mir behaupten.

KATZMANN. Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, Mr. Sacco!

ROSA. Um des Himmels willen! Nicola!

SACCO. Ruhig, Rosa, das ist doch alles Unsinn.

THOMPSON. Worauf stützt sich denn der neue Verdacht?

KATZMANN. Das Buick-Auto, von dem aus die Tat in Bridgewater geschah, war vermutlich das gleiche, das bei dem Verbrechen in der Pearl Street benutzt wurde. Auch hat der Beschuldigte über seinen Aufenthalt am 15. April widersprechende Angaben gemacht.

VANZETTI. Ich wollte die Wahrheit sagen, aber ich habe mir niemals träumen lassen, daß man herkommen und mir sagen wird, ich wäre am 15. April stehlen und morden gegangen.

KATZMANN. Ich werde Ihnen die schriftliche Entscheidung über die Kaution unten aushändigen, Rechtsanwalt Thompson. Kommen Sie mit?

THOMPSON. Kopf hoch, meine Freunde!

ROSA. Nicola! Mein Nicola!

SACCO. Geh zu unserm Dante, Liebste. Sag ihm, daß er sich seines Vaters nicht zu schämen brauche, was auch kommen sollte.

VANZETTI. Uns steht ein schwerer Kampf bevor, Sacco!

SACCO. Wir werden ihn als Männer führen.

VANZETTI. Und als Revolutionäre.

Vorhang.


*****************************************

5. Akt

14. Juli 1921.

Halle vor dem Prozeßsaal in Dedham. Gruppen von Zeugen, Männern und Frauen. Gerichtsdiener, Polizisten, Zeitungskorrespondenten, Juristen, Arbeiter. Im Vordergrund Gruppe der Verteidiger: William G. Thompson, Fred H. Moore, I.A. McAnarney.

MOORE. Ich gestehe, daß ich das Amt des Hauptverteidigers in diesem Prozeß sehr ungern übernommen habe. Richter Thayer zeigt mir seine Animosität unverhohlen.

MCANARNEY. Gewogen ist dieses Gericht keinem von uns. Schert euch hier weg! rief uns Thayer gestern zu, als wir mit Katzmann verhandelten. Haben Sie je eine solche Form von Gerichtsverhandlung erlebt?

THOMPSON. Es ist schlimmer als damals, wo Vanzetti allein angeklagt war. Von allen Mitwirkenden glaubt nicht ein Mensch an die Schuld der beiden. Bei der Geschworenenauswahl haben Thayer und Katzmann nicht weniger als 500 Vorschläge zurückgewiesen und den Rest mit allen Mitteln im Sinne der Anklage bearbeitet.

MCANARNEY. Unter allen Vorgeschlagenen haben sie gerade sieben gefunden, denen sie zutrauen konnten, sie würden sich für den Justizmord hergeben.

MOORE. Wer den Mut hatte, hier das Amt eines Geschworenen zu übernehmen, hat auch den Mut, sein Schuldig auszusprechen.

THOMPSON. Richter Thayer hat nach dem Mißerfolg mit den 500 seinem Sheriff befohlen, noch fünfzehn Leute aus den Reihen der Zuschauer und aus weiteren Kreisen – das war sein eigener Ausdruck – her anzuschaffen.

MOORE. Ich weiß, daß Staatsanwalt Katzmann neun Teilnehmer einer Freimaurerversammlung herholen ließ von der Loge, der er selbst angehört und deren Mitglied auch der ermordete Parmenter war.

MCANARNEY. Wo die letzten fünf Geschworenen hergenommen sind, wissen die Götter. Sie waren plötzlich da.

THOMPSON. Und wie die Zeugen behandelt werden! Als der Fischer Corel erzählte, er habe am 15. April sein Boot angestrichen und sich dabei eine Stunde lang mit Vanzetti unterhalten – dies höhnische Lachen von Katzmann bei der Frage, woher er denn sich das Datum so genau gemerkt habe. Dann kam die einleuchtende Antwort, daß zwei Tage später seine Frau Geburtstag gehabt hatte und sie mit dem Boot einen Ausflug machen wollten. Der Richter schickte danach den Zeugen einfach weg.

MCANARNEY. So macht er es mit jedem Alibi-Zeugen. Neun glaubhafte Personen bezeugen unter Eid, daß sie an dem Mordtage mit Sacco in Boston beisammen waren, darunter der Professor Guadagul, ein vorsichtiger Mann; der italienische Konsulatsbeamte Giuseppe Andrower läßt vor seiner Abreise dem Professor die schriftliche Bestätigung zurück, daß er das Lichtbild der Familie Sacco am 15. April zurückweisen mußte, weil es für den Paß zu groß war; Saccos Arbeitgeber beschwört, daß er Sacco am 15. April für einen Tag nach Boston beurlaubt habe – Katzmann aber  bleibt dabei, daß Sacco den Urlaub benutzt habe, um statt nach Boston nach South Braintree zu fahren und einen Raubmord zu begehen.

MOORE. Von 33 Zeugen 27 für die Angeklagten – und – dagegen dies Gesindel von Denunzianten, von denen kein einziger bei seiner ersten Aussage geblieben ist.

THOMPSON. Die beiden Buchhalterinnen von Slater und Morill, die Splaine und die Drevlin, erklären zuerst, sie könnten nicht darauf schwören, daß Sacco der Mann war, den sie gesehen haben wollen. Nachher beschwören sie es doch. Mit den Männern, dem Pelzer und dem Grammophonverkäufer Goodridge, dieselbe Geschichte.

MOORE. Die gefährlichsten sind dieser Portier Levangie und die Schlumpe Lola Andrews. Richter mit ein bißchen Verantwortungsgefühl müßten sie trotz aller Bestimmtheit ihrer nachträglichen Behauptungen zum Saal hinausjagen.

MCANARNEY. Ich möchte wissen, wieviel bares Geld für die Meineide ausgegeben worden ist. – Übrigens – da sehe ich Levangie stehen. Ich werde ihn zur Rede stellen. – He, Mr. Levangie!

McAnarney trennt sich von der Gruppe und tritt mit Levangie abseits.

Sagen Sie, Mr. Levangie, wollen Sie sich nicht doch noch besinnen, ehe Sie zwei ehrenwerte Männer auf den elektrischen Stuhl bringen?

LEVANGIE. Ich kann nichts dafür, daß es Vanzetti war.

MCANARNEY. Wenn er es wäre, könnten Sie gewiß nichts dafür. Sie haben aber selbst früher gezweifelt, daß es der richtige war, den Sie wiederzuerkennen glaubten.

LEVANGIE. Ich? Nie!

MCANARNEY. Hören Sie mal! Nie? Sie haben mir selbst zwei Wochen vor Beginn des Prozesses, als ich bei Ihnen war, bestätigt, daß Sie keinen der Banditen mit Sicherheit identifizieren könnten.

LEVANGIE. Das kann ich nicht gesagt haben.

MCANARNEY. Sie haben es gesagt. Ihr eigner Mitarbeiter John L. Sullivan bezeugt es, Sie haben ihm selbst unser Gespräch wiedererzählt.

LEVANGIE. Dann lügt er.

MCANARNEY. Gleich nach dem Mord haben Sie zu Henry McCarthy gesagt, Sie hätten die Täter gar nicht zu sehen bekommen. Dann haben Sie zu dem Spediteur Alexander Victorson gemeint, es wird wohl jedem schwerfallen, die Mörder wiederzuerkennen. Nachher haben Sie dem Schuharbeiter Edward Carter versichert, der Mann hätte blond ausgesehen – und jetzt bleiben Sie dabei, daß es Vanzetti gewesen sei?

LEVANGIE. Vanzetti war es bestimmt. Ich habe ihn schon vor einem Jahr im Zimmer von Staatsanwalt Katzmann gesehen. Ein Irrtum ist gar nicht möglich.

MCANARNEY. Mann, überlegen Sie doch Ihre früheren Aussagen.

McAnarney läßt ihn stehen. Beide gehen in den Hintergrund.

Vorn werden sichtbar Frau Lola Andrews und Frau Julia Campbell.

DIE CAMPBELL. Du solltest dich schämen, so leichtfertig zu schwören. Es ist alles nicht wahr, was du erzählt hast.

DIE ANDREWS. Laß mich zufrieden. Ich möchte wissen, was du hier zu suchen hast.

CAMPBELL. Ich las in der Zeitung, was du vor den Geschworenen behauptet hast, da habe ich gleich an Richter Thayer geschrieben, daß ich eine ältere, unbescholtene Frau bin und dabei war und daß es nicht wahr ist, daß du den Mann, der unter dem Auto lag, nach dem Eingang zur Fabrik von Rice und Hutchins gefragt hast.

ANDREWS. Das ist doch wahr.

CAMPBELL. Es ist gelogen. Ich habe gefragt und keinen Mann unter dem Auto, da lag gar keiner, sondern einen, der hinter dem Wagen stand, und das war weder Vanzetti noch Sacco.

ANDREWS. Du willst dich nur vordrängen und wichtig machen, damit in der Zeitung steht, daß Richter Thayer dich auch als Zeugin geladen hat.

CAMPBELL. Er hat mich gar nicht geladen. Er hat mir mitteilen lassen, daß auf meine Angaben kein Wert gelegt wird.

ANDREWS. Na, siehst du! Was willst du denn überhaupt hier?

CAMPBELL. Ich will mich von den Verteidigern vernehmen lassen.

ANDREWS. Dann werde ich dich zur Lügnerin machen.

CAMPBELL. Du? Auch der Schneider Harry Kurlanstey aus Quincy hat sich bei der Verteidigung gemeldet. Dem hast du selbst gesagt, daß dich die Polizei ins Gefängnis von Dedham geführt hat, um dir die beiden Männer zu zeigen, du hättest aber nichts sagen können, weil dir die beiden noch nie zu Gesicht gekommen wären.

ANDREWS. Ich sag, was ich weiß, und Sacco war der, der unter dem Auto lag.

CAMPBELL. Dann sage ich, was ich weiß, und lasse Miß Laura Allen rufen, damit sie angibt, warum sie dir nie wieder ein Zimmer vermieten will: weil du jede Nacht einen andern Mann mitbringst und weil du so verlogen bist, daß kein Mensch mehr mit dir umgehen mag.

Verschwinden in den Hintergrund der Halle.

POLIZEIKOMMISSAR ruft aus. Die Pause ist beendet. Zeugen und Zuschauer sollen sich wieder in den Gerichtssaal begeben. Die Angeklagten sind wieder hereinzuführen!

Die Halle leert sich allmählich.

Rechtsanwalt Thompson geht mit Rosa Sacco vorbei.

THOMPSON. Bleiben Sie stark, Frau Sacco! Wenn Ihr Mann Sie lächeln sieht, wird es ihm leichter sein, seine Nerven zu behalten.

ROSA. Lächeln! Ihre Spitzel haben sie mir ins Haus geschickt! Ich selbst sollte benutzt werden, um den Vater meiner Kinder dem Henker auszuliefern! – Ist noch Hoffnung auf Freispruch?

THOMPSON. Wenn heute die Geschworenen schuldig sprechen – glauben Sie, dabei könnte es nicht bleiben. Sacco und Vanzetti haben gute Freunde – auch in ihren Verteidigern.

ROSA. Das Proletariat der ganzen Welt müßte doch aufschreien! Oh, wie ich sie hasse – den Staat mit seinen Bütteln!

Beide in den Saal ab.

Es bleiben in der Halle noch einige Zeitungskorrespondenten, darunter Nicolaus Beffel, Elizabeth R. Bernkopf und Frank P. Sibley. Dicht an der Tür zum Gerichtssaal drei italienische Arbeiter, die schweigend im Hintergrund stehen.

SIBLEY. Ich warte noch, bis Richter Thayer kommt. Vielleicht will er der Presse noch Informationen geben.

BEFFEL. Ich habe eine Information für ihn.

EIN JOURNALIST. Da wäre ich neugierig.

FRAU BERNKOPF. Ob der Prozeß heute zu Ende kommt?

SIBLEY. Zweifellos. Nach der Erklärung des Richters, daß der Schießsachverständige Proctor im Gegensatz zu den andern Sachverständigen  bezeugt hat, eine der fünf Kugeln in der Leiche Berardellis stamme aus Saccos Revolver, wird er sofort die Beweisaufnahme schließen wollen. Es war der letzte Trumpf der Anklage.

FRAU BERNKOPF. Ich fand allerdings die Erklärung nicht überzeugend. Warum hat man Proctor nicht persönlich vor Gericht geladen? Warum wurde sein Gutachten nicht wenigstens im Wortlaut verlesen?

BEFFEL. Es ist manches sonderbar in diesem Verfahren.

EIN JOURNALIST. Wir haben dem Publikum von Anfang an die Auffassung der Anklage suggeriert. Jetzt heißt's dabei bleiben.

SIBLEY. Dem höheren Zwecke zuliebe.

EIN JOURNALIST. Still! Die Angeklagten kommen.

Sacco und Vanzetti werden mit starker Bewachung, schwer gefesselt, durch die Halle geführt. Die drei Arbeiter gehen auf sie zu.

EIN ARBEITER. Genossen, Mut! Wir kämpfen für euch!

EIN POLIZIST. Weg da!

Sacco und Vanzetti winken den Arbeitern zu. Ab in den Saal, die Arbeiter ebenfalls.

Thayer und Katzmann betreten die Halle.

KATZMANN. Wir müssen mit dem Ergebnis der Verhandlung zufrieden sein, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß das Auftreten der Angeklagten in all den Wochen Sympathien für sie auch in Kreisen geweckt hat, die sie vorher nicht geliebt haben.

THAYER. Der Teufel soll sie holen! Schließlich geht's ja nicht um die beiden Kerle und den Mord, sondern um die staatsfeindlichen Ideen, von denen sie faseln.

KATZMANN. Schon richtig, aber wir müssen den Schein wahren. Am ärgerlichsten ist mir, daß die Spitzel, die sogenannten Deckleute, die mir Palmer geschickt hatte, nichts getaugt haben. Der Ruzzamenti, der bei der Frau Sacco einquartiert werden sollte, stellte unverschämte Geldforderungen und ging dann einfach in die Dienste der Verteidigung über, und Carbone, den wir in die Zelle neben Sacco legten, hat es nicht verstanden, ein Wort von dem Lumpen herauszulocken.

THAYER. Grämen Sie sich nicht, Staatsanwalt. Die Geschworenen sind brillant. Ich werde nicht verfehlen, sie vor der Urteilsfällung noch einmal zweckmäßig zu belehren.

KATZMANN. Wenn nur die Stimmung draußen besser wäre.

THAYER. Ich sehe, die Reporter haben hier gewartet. Ich werde noch mit ihnen reden.

Katzmann ab in den Gerichtssaal.

Nun, meine Verehrten, unsere Arbeit wird heute gekrönt werden. Zwei Banditen werden zu ihrer verdienten Strafe kommen.

SIBLEY. Sie sind überzeugt, daß die Geschworenen die Schuldfrage bejahen werden?

THAYER. Sie haben doch zu Anfang des Prozesses unsere Instruktionen an die Geschworenen gehört. Na, ich dächte, das werden sie wohl festhalten.

FRAU BERNKOPF. Immerhin haben die Verteidiger alles getan, um die Stimmung für ihre Klienten zu bessern.

THAYER. Die Verteidiger, diese dämlichen Narren! Sehen Sie sich doch ihr Haupt an, den Mr. Fred Moore, diesen langhaarigen Anarchisten aus Kalifornien. – Nein, die Stimmung für die Anklage ist ausgezeichnet. Das Gericht wird sich seiner Aufgabe gewachsen zeigen, die bestehende Ordnung gegen das Verbrechertum dieser Radikalen zu schützen.

EIN JOURNALIST. Ich gebe Ihnen die Versicherung, Richter Thayer, daß die amerikanische Presse sich ihrer Pflicht, das Gericht dabei zu unterstützen, wohl bewußt ist.

THAYER. Der Presse gebührt großer Dank für ihre Tätigkeit während der Wochen der Hauptverhandlung. Sie haben das Publikum ausgiebig darüber belehrt, was für bedenkliche Burschen in diesem Verfahren unschädlich gemacht werden. Mit den Anarchisten muß einmal aufgeräumt werden.

BEFFEL. Sofern sie Verbrechen begehen, Richter!

THAYER. Ach was, wir werden sie schon kriegen. Den Revolutionären muß man es zeigen und die Kerle aufknüpfen. Am liebsten ließe ich ein Dutzend dieser Radikalen an den Galgen hängen!

BEFFEL. Mein Name, Richter Thayer, ist Nicolaus Beffel, ich bin Berichterstatter von der Federated Press. Mir ist ein Schreiben zugegangen vom italienischen Konsul in Boston, Marquis A. Ferrante, das ich Ihnen gern zur Kenntnis bringen möchte. Darin macht der Konsul uns Zeitungskorrespondenten darauf aufmerksam, daß die italienische Regierung starkes Interesse an dem Prozeß nimmt und die Zuversicht hegt, der Prozeß werde ohne Beziehung auf die eingestandenen radikalen Ansichten der Angeklagten geführt werden. – Hier ist der Brief. Wollen Sie selber lesen?

THAYER. Lächerlich! Wartet nur! Ich werde es ihnen schon zeigen! Wütend ab in den Gerichtssaal.

EIN JOURNALIST. Wie konnten Sie das nur tun, Kollege Beffel! Sie schaden der Sache, der wir alle dienen sollen.

FRAU BERNKOPF. Kommen Sie in den Saal. Es wird sofort begonnen werden.

Alle ab in den Sitzungssaal. Die Szene verdunkelt sich. Durch einen Lichtkegel sieht man in den Gerichtssaal.

KATZMANN plädiert. Der Beweis ist in jeder Weise schlüssig. Nehmen Sie alle Momente zusammen, die ich Ihnen vorgetragen habe: das Auto, mit dem sie die Tat ausgeführt haben – jenes Buick-Auto, das sie heimlich aus der Garage Simon Johnsons holen wollten, nachdem es bei dem Abenteuer beschädigt war; die Bewaffnung der beiden, ihre Lügen und Widersprüche. – Die Angeklagten, verwegene Verbrecher, voll Haß gegen die geheiligte Ordnung unserer Gesellschaft, Deserteure und Verschwörer, sind einwandfrei überführt, die Bürger der Vereinigten Staaten, den Kassierer Parmenter und den Wächter Berardelli von der Firma Slater und Morill Shoe Company, nach vorbedachtem Plane überfallen, ermordet und beraubt zu haben. Ich fordere gegen sie das Schuldig der Geschworenen. Ich fordere ihre Bestrafung mit dem Tode.

Im Lichtkegel.

THOMPSON. Diese Männer dürfen nicht für ein solches Verbrechen zum Tode verurteilt werden, so lange sie ein Recht haben zu sagen: Die Regierung dieses großen Landes hat Spitzel in meine Zelle gesteckt, hat versucht, Spitzel in die Wohnung meiner Frau einzuschieben, hat meine Freunde bespitzeln lassen. Die Spitzel steckten das Geld für die Verteidigung in die eignen Taschen und hatten ihren Spaß dabei. Sie dürfen diese Männer nicht als Mörder verurteilen, weil Ihnen ihre Ansichten nicht gefallen. Der Mord ist ihnen nicht nur nicht bewiesen, sondern es ist bewiesen, daß sie daran nicht den geringsten Anteil hatten. Sie haben kein Verbrechen begangen, aber das Urteil, das sie schuldig spräche, wäre ein himmelschreiendes Verbrechen.

Im Lichtkegel.

SACCO. Mein Verbrechen, das einzige, für das ich verantwortlich bin, mit Stolz verantwortlich bin, das ist mein Traum von einem besseren Leben, das aus Bruderliebe erwächst, aus Solidarität, aus freudiger gegenseitiger Hilfe – mit einem Wort, daß ich Anarchist bin. Auf dieses Verbrechen bleibe ich stolz, auch wenn ich dafür unter Henkershänden enden müßte.

Im Lichtkegel.

VANZETTI. Ich bin und bleibe bis zum letzten Atemzuge Anarchist, weil ich glaube, daß die Anarchie die einzig menschliche Form einer gesellschaftlichen Beziehung ist, und weil ich weiß, daß nur die Freiheit die Menschen fördert, veredelt und vollkommen macht.

Im Lichtkegel.

THAYER. – – daß diese Mörder und Banditen Menschen sind ohne Religion, ohne Patriotismus, Ausländer, die schon während des Krieges durch ihre Fahnenflucht gezeigt haben, daß sie der Gastfreundschaft Amerikas nicht würdig sind. Geht also hin, Geschworene, und tut eure Pflicht im Gedächtnis an die Männer, die auf den Feldern Flanderns für uns ihre Pflicht getan haben!

Licht auf der Bühne – wie zuvor. Kurze Pause.

EIN JOURNALIST stürzt aus dem Gerichtssaal. Beide schuldig! Einstimmig zum Tode verurteilt!

Vorhang.


*****************************************

6. Akt

4. Oktober 1923.

Arbeiterversammlung in einem Saal zu Boston.

Am Vorstandstisch ein italienischer Arbeiter.

Rosa Sacco, Thompson.

Michelangelo Musmanno führt den Vorsitz. Lärm, Rufe: »Heraus mit Sacco und Vanzetti! Nieder mit der Dollarjustiz! Tod der kapitalistischen Gesellschaft!«

VORSITZENDER. Musmanno Genossen! Das Verteidigungskomitee für Sacco und Vanzetti hat diese Versammlung einberufen, damit die Arbeiterschaft von Massachusetts aus dem Munde des Anwalts unserer Freunde, William G. Thompson, höre, welchen Verlauf die Bemühungen aller rechtschaffenen Menschen und des Proletariats der ganzen Welt genommen haben, um die unschuldig verurteilten Revolutionäre aus der Todesgefahr zu erretten und ihre völlige Rechtfertigung und Befreiung zu erzielen.

Die Geschichte der proletarischen Freiheitsbewegung in den Vereinigten Staaten ist zugleich die Geschichte unerhörter Verbrechen der herrschenden Klasse gegen alle, welche die furchtbare Lage der ausgebeuteten Klassen erkannt haben und die Wege zu bahnen versuchten, auf denen der arbeitende Teil der Menschheit in den Besitz des Bodens und der Arbeitsmittel und dadurch zu Recht und Freiheit gelangen muß. Unvergessen für alle Zeit bleibt der schändliche Justizmord, der in Chicago 1887 an den Führern des Kampfes für den achtstündigen Arbeitstag, an unseren Genossen Spieß, Parson, Fischer, Lingg und Engel, verübt wurde und der die erste Großtat der amerikanischen Justiz im Dienste des amerikanischen Kapitals war. Seitdem reiht sich Justizschmach an Justizschmach, Justizmord an Justizmord in Amerika und in allen anderen kapitalistischen Ländern. Jeder Streik war das Signal zu neuen Rechtsbrüchen. Die Gewaltpolitik der Staaten um die Ölfelder in Mexiko und um die Beherrschung des Finanzmarktes der Welt war zugleich die Kriegspolitik, die zum Eintritt in das Weltgemetzel führte, und die Versklavungspolitik gegen die Arbeiter im eigenen Lande. Erinnert euch der Demonstration der Ku-Klux-Klan-Banditen in San Francisco vom 22. Juli 1916 für die Annexion Mexikos. Eine Detonation sprengte die Demonstranten auseinander. Erinnert euch, wie man darauf die Genossen Tom Mooney und Warren Billings, die nichts mit der Explosion zu schaffen hatten, prozessiert hat. Daß Tom Mooney zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe »begnadigt« wurde, war alles, was mit den zu Bergen getürmten Beweisen für die Unschuld der Genossen erreicht werden konnte. Sie warten heute noch im Kerker auf ihre Befreiung.

Seit dieser Zeit, seit nach dem Siege im Weltkriege auch den Blödesten klargeworden sein mußte, für was für eine Art von Gerechtigkeit der amerikanische Arbeiter sein Blut hergab – seit aber auch in Rußland ein Volk seine Bedrücker niederwarf und das Kapital der ganzen Welt in Angst um seine gestohlenen Reichtümer versetzte – seit dieser Zeit hat sich der Unterjochungskampf des Staates gegen das Proletariat in seiner Schärfe vervielfacht. Die Prosperität der kapitalistischen Wirtschaft Amerikas ist nur eine scheinbare. In Wirklichkeit befindet sich Amerika in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Europa ist zu schwach geworden, um die amerikanischen Waren aufzunehmen. Der Markt erstickt in Gold, und die Bourgeoisie zittert vor dem Proletariat, das sich seiner Kraft bewußt wird. Darum bewaffneten sich die jungen Abenteurer der Plutokratie und inszenierten einen Überfall nach dem andern auf revolutionäre Arbeiter, auf die Versammlungshäuser der I.W.W. und auf die Einrichtungen der proletarischen Organisationen. In Italien, der Heimat unserer Kameraden Sacco und Vanzetti, bisher einem der liberalsten Länder der Welt, hat sich eine Umwälzung vollzogen, die dort zum ersten Male die Entkleidung der staatlichen Organe von allen gesetzlichen und verfassungsrechtlichen Behinderungen der Ausbeuter in ihrem Vernichtungskampf gegen die Ausgebeuteten gewagt hat. Das Beispiel des Faschismus findet in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die willigsten Schüler. Denkt an die Bluttaten von Centralia, an die Terrorakte während des Grubenstreiks in West- Virginia – wo waren da die Richter? Keinen Mörder aus den Reihen des Ku-Klux-Klan wissen sie zu finden. Aber die Schandtaten der Faschisten, die sie decken, indem sie sie nicht verfolgen, überbieten sie selber in den Urteilen, mit denen sie die Opfer dieser Schandtaten geißeln. Dem höchsten Gipfel der Niedertracht hat die Justiz erklommen mit der Verurteilung unserer Freunde Sacco und Vanzetti wegen eines gemeinen Raubmordes, von dessen Hergang sie keine Ahnung hatten, bis man sie selber damit in Verbindung brachte. Soweit ist es gekommen in diesem Lande: weil wir Revolutionäre, weil wir Anarchisten sind, kann man es wagen, uns als Mörder aufs Schafott zu bringen, und die Bourgeoisie, verdorben und verfault bis ins innerste Mark, ruft dazu bravo!

Pfui-Rufe. »Hoch Sacco und Vanzetti!«.

Bevor nun Anwalt Thompson seinen Bericht erstatten wird, gebe ich das Wort unserer lieben Genossin Rosa Sacco, der treuen tapferen Gefährtin Nicola Saccos.

Die Versammlung bereitet ihr eine Ovation.

Sie wird uns sagen, wie sie Sacco und Vanzetti zuletzt angetroffen hat und was sie uns von ihnen auszurichten hat.

ROSA. Genossen! Ich bringe euch die Grüße meines guten Mannes, der nun wieder im Gefängnis in Dedham ist, zusammen mit seinem Leidensgefährten. Auch vom Genossen Vanzetti Gruß und Dank. Mit großer Freude haben sie erfahren, daß das Verteidigungskomitee sich nicht damit begnügt, die notwendigen juristischen Schritte zu unternehmen, um das Wiederaufnahmeverfahren herbeizuführen, sondern daß es gelungen ist, die Empörung der Arbeiterschaft der ganzen Welt wachzurufen gegen das Verbrechen, das an ihnen verübt ist. Denn dieses Verbrechen wird ja in Wahrheit an der Arbeiterschaft der ganzen Welt verübt. Unsere Freunde wissen gut, daß Justiz und Recht verschiedene Dinge sind und daß die Gerechtigkeit der Staaten nicht anders zu ehrlichen Taten aufgescheucht werden kann als durch den Druck des Willens derjenigen, denen die Begriffe Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit kein Reklameschild zur Täuschung Einfältiger bedeuten, sondern die Pfeiler der Freiheit, auf denen sich die Welt des Sozialismus aufbauen soll. Zustimmung. Sie glauben an die Kraft des Proletariats, falls sie angetrieben wird von der Einigkeit im Kampf und vom Glauben an den Sieg der Revolution. Beifall.

Genossen! Mein armer Nicola hat schwere Monate hinter sich. Ende 1922 begannen unerträgliche Quälereien, und Thayer ging mit hinterhältigen Vorwänden über alle Beschwerden hinweg. Da trat Sacco im Februar in den Hungerstreik, den er volle dreißig Tage, bis zum 17. März, durchgeführt hat. Am Tage vorher sollte ein wichtiger Termin stattfinden, worüber Rechtsanwalt Thompson ja alles Nötige sagen wird. Aber Sacco war durch die Nahrungsverweigerung so geschwächt, daß er seine Sache nicht hätte führen können. Der Termin mußte ausgesetzt werden. Jetzt schickte Thayer ihn in eine Nervenheilanstalt, das heißt, er lieferte ihn den Irrenärzten aus, wohl in der Hoffnung, daß ein Radikaler, falls man ihn nicht auf die Dauer zum Mörder stempeln kann, mindestens als Geisteskranker hingestellt werden muß. Die Idee wird so und so diskreditiert. Zustimmung. Der Richter hat sich in den Ärzten nicht getäuscht. Am 10. April erklärten sie Sacco für irrsinnig, und Thayer schickte ihn nun in die Anstalt für irre Verbrecher nach Bridgewater. Ich weiß, meine Freunde, daß Saccos Verstand keinen Augenblick getrübt war. Wenn ich mit unserem Sohn Dante und unserer kleinen Inès, die erst geboren wurde, als der Vater schon eingekerkert war, zu ihm kam – ich brauchte ihn nicht zu trösten, er tröstete mich und uns. Der Gedanke aber, der ihn bei Kräften hält, körperlich und geistig, das ist der Gedanke an die große Sache der Revolution, des Sozialismus und der Anarchie. Einen so klaren Geist, einen so ruhigen und in sich gefestigten Menschen konnten auch die Ärzte von Bridgewater nicht allzulange als Wahnsinnigen ausgeben. Am 10. September wurde er als geheilt entlassen und befindet sich jetzt mit Vanzetti zusammen im Gefängnis zu Dedham. Ich habe euch die Grüße der beiden Genossen ausgerichtet und bringe euch ihr Gelöbnis, was auch kommen sollte, der Idee die Treue zu halten und sich ihrer revolutionären Pflicht bewußt zu bleiben. Ich bitte euch, ihnen auch eure Grüße sagen zu dürfen und eure Versicherung, nicht zu erlahmen im Kampfe für ihre Befreiung. Helft mir und meinen Kindern den Gatten und Vater wiederzugewinnen – euch aber und dem Weltproletariat rettet zwei ehrliche und aufrechte Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse!

Großer Beifall und Zurufe.

MUSMANNO. Euer Beifall bestätigt der Genossin Sacco, daß alle Herzen bei den Gefangenen sind und daß ihr sie bittet, den Kameraden Sacco und Vanzetti unsere brüderliche und kampfentschlossene Solidarität, unsere Grüße und heißen Wünsche zu übermitteln. Ich erteile das Wort dem Verteidiger Thompson.

THOMPSON mit Beifall begrüßt. Den Worten der Liebe will ich keine Beschreibung der erbitterten Gefühle folgen lassen, welche mich angesichts der Haltung der Behörden dieses Landes erfüllen. Sie sollen kahle Tatsachen hören, die Ihnen einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der Angelegenheit gewähren mögen. Den äußeren Anlaß zur Verlesung dieses Berichtes gibt der Umstand, daß gestern, am 3. Oktober 1923, vom Hauptverteidiger, meinem Kollegen Fred H. Moore, dem Richter Thayer die Ergänzungsanträge für ein Wiederaufnahmeverfahren vorgelegt worden sind, nachdem bereits am 29. Oktober 1921 vom Verteidigerkollegium die Nichtigkeitserklärung des Urteils beantragt und die Hauptanträge für die Wiederaufnahme einige Tage später beim Gerichtshof zu Dedham registriert worden waren. Richter Thayer lehnte am 24. Dezember 1921 unser Revisionsgesuch ab, und nachdem wir dann am 22. Juli einen neuen Antrag mit den bekannten Gründen und Erwägungen eingereicht hatten, wurde die Erledigung der Formalitäten unter vielerlei Ausreden immer wieder hinausgezögert. Saccos Hungerstreik und seine angebliche geistige Erkrankung wurden vorgeschützt und endlich, am 30. April dieses Jahres, der Termin für unbestimmte Zeit ausgesetzt, da einer der beteiligten Staatsanwälte erkrankt sei.

Die wesentlichsten Faktoren in unseren neuen Anträgen bilden folgende Ermittlungen. Die Zeugin Lola Andrews, auf deren lügnerische Aussage sich der Schuldspruch gegen Sacco hauptsächlich stützte, hatte am 11. September 1922 ihre Bekundung vor den Geschworenen unter notarieller Beglaubigung völlig widerrufen. Kurz nach der Einreichung unseres Antrags aber, am 8. März, konnte der Staatsanwalt eine notariell beglaubigte Erklärung derselben Zeugin vorlegen, worin sie jenen Widerruf widerruft und die Prozeßaussage aufrecht hält. Wir mußten daher weiteres Material über den moralischen Charakter dieser hysterischen Person beibringen, deren Zeugnis von Anfang an nicht hätte verwertet werden dürfen. Wichtiger sind in unserem neuen Dokument die Bekundungen zweier früheren Justizbeamten, Lawrence Letherman und Fred F. Weyand, die die Verwendung gedungener Spitzel aus eigner Kenntnis bestätigen. Die Männer stellen aber in den Berichten außerdem fest, daß im Justizministerium jeder Mensch der Ansicht ist und von vornherein war, daß Sacco und Vanzetti mit dem Verbrechen von South Braintree nie etwas zu tun hatten und daß die Bostoner Behörde nur die von ihr verwahrten Schriftstücke vorzuziehen brauchte, um jede Spur eines Verdachtes gegen die Verurteilten zu tilgen. Letherman schreibt, daß er selbst wie fast alle älteren Beamten immer der Meinung gewesen sei, daß der Mord nur von Berufsverbrechern begangen sein könne. Er nennt den Namen eines von Mr. West, einer Kreatur des Staatsanwalts Katzmann, benutzten Spitzels, der dann selbst wegen schweren Raubes veruteilt wurde und jetzt seine Strafe im Staatsgefängnis von Massachusetts verbüßt. Der andere Gewährsmann, Fred Weyand, kompromittiert besonders einen gewissen Weiß, ebenfalls ein Werkzeug Katzmanns, durch die Enthüllung der Manöver mit dem Spitzel Ruzzamenti. Weiß, der zeitweilig Regierungsbeamter war, wußte genau, daß Sacco und Vanzetti keine Mörder sind. Er sagte zu Weyand ganz offen, daß das keine Rolle spiele, aber es seien schlechte Kadetten und sie müßten  bekommen, was sie verdient hätten. Bewegung. Man muß sich der Äußerung einer prominenten amerikanischen Persönlichkeit erinnern, daß es besser wäre, wenn Sacco und Vanzetti den Tod erleiden, auch wenn sie unschuldig seien, als daß die Auffassung des Volkes über die Unantastbarkeit des Gerichtshofes und Gesetzes durch ihre Freilassung erschüttert würde – dann wird man Weylands Behauptung erfassen, daß die Verurteilung das Resultat der Zusammenarbeit der Beamten des Bostoner Justizministeriums mit der Staatsanwaltschaft war.

Ich erwähne noch, daß sogar von dem erwähnten Felix Weiß ein Brief beigebracht werden konnte, worin er seine Beziehung zu den Spitzeln selbst zugibt und gesteht, daß er Katzmann von seiner Kenntnis der anarchistischen Bewegung allgemein und Saccos Teilnahme an der Anarchistengruppe Galleani Mitteilung gemacht hätte. »Als Katzmann mich fragte«, heißt es wörtlich in dem Brief, »was ich über die Teilnahme Saccos an dem Raubmord von Braintree dachte, erklärte ich ihm, daß Anarchisten keine Verbrechen um Geld verüben, sondern um ein Prinzip, und daß das Räuberwesen nicht in ihrem Programm steht.« Sie haben also alle gegen besseres Wissen gehandelt.

Von Bedeutung ist auch die in unseren Anträgen wiedergegebene Erklärung des Schieß sachverständigen Proctor, dessen angebliches Gutachten, die Kugel in Berardellis Körper wäre aus Saccos Revolver gewesen, den Schlußstein auf das konstruierte Beweisgebäude setzte. Proctor hat nach der Verurteilung unter Eid erklärt, daß ihm nie die Möglichkeit gegeben worden sei, sich ein Urteil zu bilden. »Wäre mir«, sagt er, »die direkte Frage gestellt worden, ob ich einen bejahenden Beweis gefunden hatte, so hätte ich damals schon, wie ich es jetzt tue, mit Nein geantwortet.«

Wiederholt haben wir auch betont, daß doch die geraubte Geldsumme – 15776 Dollar – irgendwo geblieben sein muß. Sacco und Vanzetti waren aber nach dem Raubmord dieselben armen Arbeiter wie zuvor. – Doch wozu alle die Mühe? Ein Blick in die Archive des Justizamtes würde genügen, um Verdacht, Anklage und Urteil mit einem Schlage zu zertrümmern. In den fünf Wiederaufnahmeanträgen, die die Verteidigung eingereicht hat, ist die Forderung erhoben worden. Der Generalstaatsanwalt ist ein über das andere Mal aufgefordert worden, uns die Einsicht zu gestatten. Er hat dieses Verlangen niemals auch nur beantwortet.

Ich, meine Freunde und Zuhörer, bin kein Anarchist, kein Revolutionär, sondern ein konservativer Bürger dieses Staates. Aber ich halte auf Gerechtigkeit, und darum sage ich: Eine Regierung, die ihre eigenen Geheimnisse mehr achtet als das Leben ihrer Bürger, ist zur Tyrannei geworden.

Vorhang.


*****************************************

7. Akt

18. November 1925.

Gefängniszelle zu Dedham.

Sacco stehend, Vanzetti auf der Pritsche liegend.

VANZETTI. Verdammt! Diese Müdigkeit in allen Gliedern – immer noch.

SACCO. Es ist doch schon ein halbes Jahr her, seit sie dich gesund erklärt haben.

VANZETTI. Gesund! Fünfeinhalb Jahre in den Fingern der amerikanischen Gerechtigkeit ist eine schöne Genesungskur!

SACCO. Und über vier davon den geladenen Stuhl sozusagen unter dem Hintern.

VANZETTI. Ich sage dir, sie haben mir in Charlestown einen kleinen Vorgeschmack eingeflößt von den Wohltaten des Instrumentes.

SACCO. Es war gemein, dich dorthin zu bringen.

VANZETTI. Was haben sie in diesen Jahren nicht schon alles ausgeheckt, um uns ihre Macht fühlen zu lassen.

SACCO. Erst war ihnen bei mir der Versuch mißlungen, mich als Irrsinnigen zu entwerten, da probierten sie es bei dir noch einmal.

VANZETTI. Sie fingen es ganz gescheit an. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten mich wahnsinnig gehabt. Eine raffinierte Marter: direkt neben den Maschinenraum, in dem am elektrischen Stuhl herumexperimentiert wird, quartierten sie mich ein – Monate und Monate mußte ich das Rattern und Ticken anhören, das heute oder morgen oder übers Jahr meine eigne Grabmusik sein soll. Die Technik des gesetzlichen Mordens habe ich eingehend studieren können.

SACCO. Sie lehren uns, wie man wehrlose Klassengegner behandelt, wenn man sie in der Gewalt hat. Das Proletariat sollte es sich merken für den Tag des Umschwungs.

VANZETTI. Wir Proletarier brächten soviel Roheit gar nicht auf. Ich preßte mich an das Zellengitter und horchte – ich konnte nicht anders. Und in den stillen dunklen Nächten hörte ich die armen Menschen ächzen, für die man den Stuhl präparierte.

SACCO. Sahst du sie auch manchmal?

VANZETTI. Nein, mit Augen sah ich keinen von ihnen. Aber mit meiner Phantasie sah ich sie alle. Mit den Ohren sah ich sie, die das Geräusch der Maschine auffingen – Tag und Nacht.

SACCO. Gab es denn nie Ruhe?

VANZETTI. Drei Wochen, ehe ein Mensch vom Staat ermordet wird, prüft der Ingenieur die Apparate, um zu wissen, daß alles in Ordnung ist. Eines Abends war es furchtbar. Die Wochen des Experimentierens waren vorüber, und der Verurteilte sollte sterben. Es wurde zwölf Uhr nachts. Die Leute im Maschinenraum wurden still. Mit einem Male hörten wir einen deutlichen Knall, wie eine schwache Explosion, und das Licht im Korridor leuchtete blau auf. Dann sagte eine heisere Stimme: »Der Kreislauf ist vollendet, ein armer Teufel ist zur Hölle gegangen.«

SACCO. Du, das ist scheußlich.

VANZETTI. Ich bat und bat, man solle mich aus dem verfluchten Gefängnisflügel wegbringen. Man tat es nicht. Ich dachte, ich müßte verrückt werden, und das wollten ja die Quälgeister. Als sie meinten, jetzt wäre es soweit, kam ein Wärter zu mir und kommandierte: Zieh deinen Rock an! – Ohne weitere Erklärung brachte man mich ins Irrenhaus.

SACCO. Wie lange mußtest du da bleiben?

VANZETTI. Vier Monate, vom 26. Dezember 1924 bis zum 23. April 1925. Aber die Qualen des Jahres in Charlestown – erst im Fegefeuer neben dem elektrischen Stuhl, dann in der Narrenhölle, die spüre ich noch heute.

SACCO. Hast du arbeiten können in Charlestown?

VANZETTI. Ich schrieb wohl einiges, es ist nichts von Bedeutung. Jetzt hier geht es damit etwas leichter. Paß auf, Sacco, ich habe kürzlich ein Gedicht geschrieben. Willst du es hören?

SACCO. Ja, natürlich, lies es gleich vor!

VANZETTI. Es heißt Vision.

Wir tragen Ketten an den Füßen

und büßen.

Wir leiden in schmutzigen dunkeln Verließen

und büßen.

Doch ihr, ihr draußen –

ihr sprengt unsre Ketten, ihr holt uns hervor.

Auf springt des gähnenden Kerkers Tor

und wir hören den Schrei, den alleinen Schrei:

Die Welt ist frei – ist frei – ist frei!

SACCO. Das ist sehr schön. Schreib es mir auf. Dante soll es lernen. Wenn Rosa heute mit den Kindern kommt, gebe ich es ihm.

VANZETTI. Ja, du hast deine Menschen hier – ich muß mich mit meiner Muse unterhalten.

SACCO. Sei nicht ungerecht, Vanzetti. Die Kameraden lassen dich auch nicht im Stich.

VANZETTI. Das ist wahr. Aber, ehrlich gesprochen, ich beneide dich um die Zärtlichkeiten, die du empfängst.

SACCO. Dafür beneide ich dich um dein Wissen, deine Begabung, dein geistiges Leben.

VANZETTI. Also sind wir beide neidisch und haben gar keinen Grund. Wir tauschen ja aus, was wir haben, Freund. Deine Kinder umarmen auch mich, und du lernst mit mir aus den Büchern der Philosophen, der Dichter, der revolutionären Lehrer.

SACCO. Und unsre englischen Sprachstudien erleichtern uns die Lektüre der amerikanischen Zeitungen.

VANZETTI. Und der Eingaben unserer Verteidiger. Sonst wären wir mit der Beschwerdeschrift vom 21. Juli bis jetzt noch nicht durch.

SACCO. Es fragt sich, wann der Oberste Gerichtshof mit der Lektüre fertig sein wird. Es ist ein dicker Band.

VANZETTI. Ich habe verteufelt wenig Zutrauen, daß wir mit dem Wälzer mehr Glück haben werden als mit allen früheren Eingaben und Anträgen.

SACCO. Thompsons große Hoffnung ist für den äußersten Fall der Gouverneur Fuller.

VANZETTI. Wir haben nur eine Hoffnung: das Proletariat.

SACCO. Richtig. Weißt du, wie es auch schließlich ausgehen mag, wir werden, wenn es sein muß, den Stuhl mit dem Bewußtsein besteigen, daß die Arbeiter der ganzen Welt sich gefunden haben zum Protest gegen unsere Mißhandlung.

VANZETTI. Es ist erhebend und wird uns die Kraft geben, uns wie Männer zu verhalten.

SACCO. Ja, Vanzetti, wir werden wie gute Kommunarden in der Schlacht bis zum Ende stehen bleiben und unseren Feinden ins Gesicht sehen. Und bis zum letzten Atemzuge werden wir es den Genossen sagen, daß wir zu ihnen Vertrauen haben und zur Solidarität der Arbeiter der ganzen Welt.

VANZETTI. Opfer müssen fallen und werden immer fallen. Unser Tod wird nur eine Episode sein in dem ewigen Krieg zwischen den Kräften der Tyrannei und der Freiheit. Zwei Kämpfer mehr, die fallen – was will das bedeuten? Es fallen so viele – nur die Idee kann nicht fallen.

SACCO. Hier die Sache des Rechtes und der Zukunft, dort die Staatsräson. Was wird stärker sein?

Ein Sträfling tritt ein.

STRÄFLING füllt die Wasserkrüge, holt unter der Schürze eine Zeitschrift vor, übergibt sie hastig Sacco. Da, rasch, nimm! Der Portugiese vom andern Flügel schickt es dir. Du sollst es sorgfältig durchsehen.

SACCO. Der Portugiese? Grüße ihn und Dank – dir auch, Kamerad.

Sträfling ab.

Eine portugiesische Zeitschrift – merkwürdig.

VANZETTI. Wie kommt er dazu – glaubt er, du verstehst seine Sprache?

SACCO. Wir wollen sehen – vielleicht ist ein Kassiber drin.

Blättert.

VANZETTI. Halt, da fällt ein Zettel heraus.

SACCO hebt ihn auf, liest. Wie?! – Vanzetti!! – Aber das ist ja nicht möglich! – Vanzetti! – Bruder!

VANZETTI. Was regt dich denn so auf? Was ist denn? So lies doch vor!

SACCO. Höre, höre!

Liest vor. Ich bekenne hiermit, daß ich an den Verbrechen von South Braintree beteiligt gewesen bin. Sacco und Vanzetti sind nicht dabeigewesen.

Celestino Madeiros.

VANZETTI springt auf. Ein Lichtstrahl! Nicola! Umarmt Sacco.

SACCO. Rosa! Meine Kinder!

VANZETTI. Ruhe, Freund, wir müssen überlegen. Was wirst du tun?

SACCO. Thompson muß sofort benachrichtigt werden und vor allem das Verteidigungskomitee.

VANZETTI. Schreibe du dem Anwalt, ich schreibe Musmanno.

SACCO. Glaubst du, Bartolomeo? – Glaubst du, daß es unsere Rettung sein kann?

VANZETTI. Es ist der überführende Beweis unserer Unschuld. – Aber – vergessen wir nicht die Staatsräson!

Vorhang.


*****************************************

8. Akt

17. Juni 1926.

Amtsbüro Thayers in Dedham.

Thayer und mehrere Gerichtsbeamte am Tisch.

Davor Thompson.

THOMPSON. Die Verfassung der Vereinigten Staaten, Richter Thayer, hat die Entscheidung über die beiden Menschenleben in Ihre Hand gelegt. Es handelt sich jedoch nicht allein um zwei Menschenleben, es handelt sich um Ehre und Ansehen der amerikanischen Nation.

THAYER. Sie werden pathetisch, Mr. Thompson.

THOMPSON. Es ist mir ernst. Volle sechs Jahre hängt das Leben der beiden zwischen Freiheit und Tod.

THAYER. Das ist nicht meine Schuld. Der unaufhaltsame Einlauf immer weiterer Einsprüche, Beschwerden, Wiederaufnahmeanträge, fragwürdiger Beweisstücke schiebt die endgültige Entscheidung stets wieder außer Sichtweite.

THOMPSON. Was wäre aber geschehen, wenn es die Verteidigung unterlassen hätte, jede letzte Möglichkeit, die das Gesetz bietet, auszunutzen, wenigstens Zeit zu gewinnen, das entsetzliche Unheil abzuwenden?

THAYER. Was geschehen wäre? Die Gerechtigkeit hätte längst ihren Lauf genommen.

THOMPSON. Der schrecklichste Justizmord der modernen Geschichte wäre verübt worden.

THAYER. Sie haben nun also heute den Zeugen zur Stelle gebracht, der uns erzählen soll, daß nicht Sacco und Vanzetti, sondern er selbst der Mörder von South Braintree war.

THOMPSON. Er wartet auf den Aufruf. – Vorher überreiche ich Ihnen im Auftrage der Gesamtverteidigung unseren neuen Antrag auf Wiederaufnahme des Prozesses, dem 63 notariell beglaubigte Aktenstücke beiliegen. Er ist das Ergebnis der Ermittlungen, welche seit der Ablehnung aller Anträge der Verteidigung durch den Entscheid des Obersten Gerichtshofes vom 12. Mai 1926 von uns angestellt worden sind. Ich rekapituliere kurz den Verlauf des Verfahrens, seit mein Kollege Fred H. Moore die Verteidigung niedergelegt hat und ich, da ich von Anfang an in der Sache gearbeitet habe, vom Verteidigungskomitee für Sacco und Vanzetti zum Hauptverteidiger ernannt wurde. Das geschah im November 1924. Am 1. Dezember des gleichen Jahres legte ich Rekurs ein gegen die Ablehnung des Wiederaufnahmeverfahrens durch Sie, Richter Thayer, am 1. Oktober 1924. Danach richteten sich meine Bemühungen auf die Abstellung der Peinigungen, denen der Verurteilte Vanzetti im Charlestowner Gefängnis und im Irrenhause ausgesetzt war. Am 21. Juli 1925 wurde dem Obersten Gerichtshof die Beschwerdeschrift gegen alle Rechtsbrüche im Umfange von 1454 Seiten vorgelegt. Erst am 11. Januar 1926 trat dieser Gerichtshof in Verhandlungen über die Schrift ein, die, wie gesagt, bis zum 12. Mai gedauert haben und mit der Ablehnung sämtlicher Anträge endeten. Inzwischen ist durch das Geständnis des Portugiesen Madeiros, dessen Angaben von seinem Komplizen Crost, der sich James F. Weeks nennt, bestätigt wurden, ein neues Moment eingetreten, von dem ich die volle Rehabilitierung meiner Klienten mit Sicherheit erhoffe. Alle zur Sache gehörenden schriftlichen Unterlagen befinden sich unter den Dokumenten, die ich Ihnen übergeben habe. Die mündliche Vernehmung des Zeugen Madeiros ersuche ich jetzt in meiner Gegenwart vorzunehmen.

THAYER. Der zum Tode verurteilte Portugiese Celestino Madeiros soll vorgeführt werden.

THOMPSON. Ein Wort noch von Mensch zu Mensch, Richter Thayer. Verhärten Sie nicht aus politischer Voreingenommenheit Ihr Herz gegen die offenkundige Stimme der Wahrheit. In allen Ländern der Erde lauschen Millionen bange Seelen auf Ihr Urteil, das sind nicht nur die Arbeiter, nicht nur die Gesinnungsgenossen Saccos und Vanzettis – nein, es sind Menschen, denen die Ideen des Anarchismus so fern und so feindlich sind wie Ihnen und mir, in denen aber die Pflicht des Gewissens nicht abgestorben ist unter der Berechnung der Zweckmäßigkeiten. Es sind Äußerungen von Ihnen, von Staatsanwalt Katzmann bekannt geworden in Europa, die dem Rufe Amerikas als Land der Zivilisation und Gesittung schweren Abbruch getan haben. Es ist bekannt geworden, daß der Vorsitzende der Geschworenen, die Sacco und Vanzetti verurteilt haben, Mr. Ripley, vor der Verhandlung zu einem Freunde gesagt hat: Hängen müssen sie auf alle Fälle! – In Ihre Hand ist es gegeben, die Ehre der amerikanischen Justiz wieder herzustellen. Hören Sie den Mörder an, der jetzt zu Ihnen sprechen wird, und lassen Sie, Richter, sich nicht beschämen von dem Gerichteten!

THAYER. Gefühle in Ehren, Anwalt Thompson. Ich werde die Entscheidung treffen, die die Staatsräson erfordert.

Celestino Madeiros wird gefesselt vorgeführt.

Sie heißen Celestino Madeiros. Sie sind zu Anfang dieses Jahres wegen eines Raubmordes zum Tode verurteilt worden, und jetzt denken Sie, einmal kann einen der elektrische Stuhl nur töten, und neh men auch die Tat von South Braintree auf sich – wie?

MADEIROS. Das denke ich nicht. Es ist wahr, daß ich dabei war auf der Pearl Street.

THOMPSON. Es wird das beste sein, Sie erzählen den Hergang, wie Sie ihn am 20. Mai in Saccos Gegenwart zu Protokoll gegeben haben.

MADEIROS. Ich war neunzehn Jahre alt, da traf ich in Providence mit vier Italienern zusammen, zwei im Alter von fünfunddreißig bis vierzig, die beiden andern ungefähr zwanzig und fünfundzwanzig. Ich hörte später, das sei die Morellibande gewesen. Die redeten mir zu, ich sollte eine Sache mitmachen, bei der viel Geld zu holen wäre. Mein Logis war in Providence, 180 North Main Street. Von da holten mich die Italiener am 15. April 1920 morgens um vier Uhr in einem offenen Houdsonwagen ab. Der wurde dann in Randolph mit einem Buick-Auto vertauscht.

THOMPSON. Ich mache darauf aufmerksam, daß nach den Feststellungen der Polizei der Raub mit einem Buickwagen ausgeführt wurde.

THAYER. Weiter! Weiter!

MADEIROS. Wir fuhren erst nach Boston, von da nach Providence zurück und dann nach South Braintree, wo ich noch nie gewesen war. Dort kamen wir gegen Mittag an. In Boston waren die andern in ein Lokal gegangen, während ich im Auto wartete. Sie sagten, sie wollten sich  erkundigen, wieviel Lohngelder an dem Tage nach South Braintree geschickt würden. In Braintree gingen wir zuerst in ein Lokal, ungefähr zwei bis drei Kilometer von der Schuhfabrik entfernt. Zwei Italiener gingen voran. Dann hörten wir schießen, und als wir mit dem Auto heranfuhren, warfen sie uns Pakete zu und sprangen auf.

THOMPSON. Sacco und Vanzetti waren bestimmt nicht dabei?

MADEIROS. Nein, die hatten gar nichts damit zu tun. Weeks meint, die beiden, die die Tat ausgeführt haben, wären Joe und Mike Morelli gewesen.

THAYER. Wir wollen nicht hören, was andere meinen, sondern was Sie wissen.

MADEIROS. Ich hatte Weeks doch die Leute beschrieben, und der hat mit ihnen gearbeitet.

THOMPSON. Die Beschreibung paßt genau auf die Morellis; Crost alias Weeks hat ausgesagt, daß er Madeiros seit sechs Jahren kennt. Er wurde wegen des mit Madeiros gemeinsam begangenen Raubmordes in der Bank zu Wrentham zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Er hat erklärt, daß Madeiros mit ihm öfter von dem Raubmord in South Braintree gesprochen hat und daß es sich jedenfalls um die Morellibande von Providence handle. Damit stimmt überein, daß die Polizei in New Bredford, wo die Morellis gearbeitet hatten, gleich nach der Tat Verdacht auf diese Bande hatte. Sie ließ die Sache aber nach der Verhaftung von Sacco und Vanzetti fallen.

THAYER. Nun also, die Polizei hat den Verdacht fallengelassen.

THOMPSON. Es steht fest, daß Mike Morelli zu jener Zeit einen Buickwagen fuhr, der nach dem 15. April 1920 verschwand, und daß Joe Morelli einen 32er Coltrevolver hatte. Die Kugel, die Berardelli tötete, war aus solcher Waffe. Die andern fünf tödlichen Kugeln paßten im Typ und Kaliber zu dem Revolver, den Mike Morelli trug.

THAYER. Das sind doch alles ganz belanglose Sachen.

THOMPSON. Bei der Konstruktion der Indizien gegen Sacco und Vanzetti fand man das nicht.

THAYER. Weiter! Weiter!

MADEIROS. Der Raub von 15776 Dollar wurde unter uns sechs Teilnehmern aufgeteilt. Ich bekam 2800 Dollar, die ich auf die Bank brachte. Kurz nach der Tat wurde ich wegen eines kleinen Diebstahles fünf Monate eingesperrt. Als ich wieder draußen war, hob ich das Geld ab und machte dafür eine Vergnügungstour nach dem Westen und nach Mexiko.

THAYER. Schon gut. Wir werden das aus den Akten ersehen. Aber sagen Sie mal: woher kommt eigentlich Ihr plötzlicher Bekennerdrang? Sie konnten doch vorher so lange schweigen und haben noch nie zu erkennen gegeben, daß Ihr Gewissen von der Art ist, daß es Ihnen keine Ruhe läßt, bevor Sie nicht reumütig gebeichtet haben.

MADEIROS. Ach, ich hätte auch nie ein Geständnis abgelegt. Aber ich weiß doch auch von dem Todesurteil gegen Sacco und Vanzetti und von der Aufregung deswegen. Da sah ich jüngst Frau Sacco, wie sie zu Besuch kam, an der Hand den hübschen Jungen und das kleine Mädchen. Es tat mir um die Kinder leid – –

Vorhang.


*****************************************

9. Akt

9. April 1927.

Gerichtssaal in Dedham.

Thayer und die übrigen Richter stehend am Tisch. Davor die Verteidiger, zur Seite Sacco und Vanzetti unter Bewachung. Publikum, darunter Rosa.

THAYER. Der am 17. Juni 1926 eingebrachte Antrag für Wiederaufnahme des Verfahrens gegen die am 14. Juli 1921 zum Tode verurteilten Italiener Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti wurde am 25. Oktober 1926 vom Gerichtshof von Dedham verworfen. Die Berufung der Verteidiger gegen diesen Entscheid wurde dem Obersten Gerichtshof vorgelegt. Der Oberste Gerichtshof hat am 5. April 1927 die Berufung wegen der Revision des Prozesses zurückgewiesen. Somit, Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, verkünde ich Ihnen das rechtskräftige Urteil: Sie werden verurteilt, die Todesstrafe durch den elektrischen Stuhl zu erleiden innerhalb der Woche, welche beginnt am Sonntag, dem 10. Juli, im Jahre des Herrn Eintausendeinhundertundsiebenundzwanzig.

Dies ist das Urteil des Gerichts. Setzt sich.

ROSA stürzt vor. Das Urteil der Welt wird euch richten!

THOMPSON führt sie beruhigend auf ihren Platz zurück. Wir geben den Kampf nicht auf.

THAYER. Den Verurteilten steht das letzte Wort zu.

SACCO. Ich bin kein Redner und überlasse es meinem Freunde Vanzetti, ausführlich zu sprechen. Nur das will ich sagen, daß ich in der Geschichte nichts Brutaleres kenne als dieses Gericht. Ich weiß, daß sich hier zwei Klassen gegenüberstehen und daß zwischen diesen beiden Klassen immer Kampf sein wird. Wir gehören dem Volke an, Sie aber verfolgen, tyrannisieren und töten das Volk. Wir versuchten, das Volk geistig zu entwickeln, Sie nähren den Haß zwischen den Völkern. Weil ich zur unterdrückten Klasse gehöre, nur darum stehe ich hier vor Ihnen. Sie sind der Unterdrücker, Richter Thayer, das wissen Sie selbst. Sie kennen mein ganzes Leben, Sie wissen, warum ich hier stehe und warum Sie mich zum Tode verurteilen. Meinen Genossen Vanzetti haben Sie zweimal verurteilt, für Bridgewater und für South Braintree, und dabei wissen Sie genau, daß er unschuldig ist. Zum Zuhörerraum. Ich danke euch allen, meine Genossen, die ihr sieben Jahre für mich und Vanzetti eingetreten seid. Ich erkläre nochmals: Der Richter Thayer weiß, daß ich nicht schuldig bin, niemals schuldig war, weder heute noch je.

VANZETTI. Ich erkläre, ich bin unschuldig an dem Verbrechen von South Braintree und ebenso andern von Bridgewater, für das ich fünfzehn Jahre Zuchthaus erhielt. In meinem ganzen Leben habe ich niemals gestohlen, niemals getötet, niemals Blut vergossen. Nicht allein, daß ich nicht gestohlen, nicht getötet habe – ich habe mein Leben lang, seit ich meinen Verstand gebrauchen kann, dafür gekämpft, daß das Verbrechen auf der Erde ausgerottet werde. Nie habe ich nach Bequemlichkeit und guter Stellung gestrebt, denn ich finde, daß ein Mensch den andern nicht ausbeuten soll. Ich habe gekämpft, wohl auch gegen die Verbrechen, die sogar Gesetz und öffentliche Moral verurteilen, vor allem aber habe ich die Verbrechen bekämpft, die vom Gesetz und von der Kirche geheiligt werden: die Ausbeutung und die Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Und wenn es einen Grund gibt, daß man mich hier als Schuldigen verurteilt, so ist dies der Grund, kein anderer.

Sieben Jahre haben wir jetzt im Gefängnis zugebracht. Was wir in diesen sieben Jahren ausgestanden haben, das kann keine menschliche Zunge schildern. Aber ich stehe vor Ihnen und zittere nicht, erröte nicht, erblasse nicht, bin weder beschämt noch geängstigt. Mit den Beweisen, die einem amerikanischen Geschworenengericht zu unserer Verurteilung genügten, hätte man, hat Eugen Debs gesagt, nicht einmal einen Hund für überführt gehalten, daß er Hühner totgebissen habe. Auf der ganzen Welt gibt es keinen befangeneren, keinen roheren Richter als Sie, Richter Thayer. Man hat uns entrüstet vorgeworfen, daß wir gegen den Krieg waren. Unsere Überzeugung ist, daß der Krieg ein Verbrechen war, und heute, nach zehn Jahren, glauben wir das noch viel fester, denn jetzt erst übersehen wir vollständig die Folgen und Wirkungen des Krieges. Hier, am Fuße des Galgens, will ich es der Menschheit zurufen: Alles, was man euch versprach, war Lüge, Illusion, Betrug, Verbrechen. Sie versprachen euch die Freiheit – merkt ihr was von Freiheit? Sie versprachen euch den Wohlstand. Merkt ihr was von Wohlstand?

Noch eins laßt mich sagen: Ich wünsche keinem Hunde das, was ich erleiden mußte für Dinge, an denen ich kein bißchen Schuld trage. Ich mußte es leiden, weil ich ein Radikaler bin. Aber mein Recht wurzelt in mir – und Sie könnten mich zweimal hinrichten; gäbe es so etwas wie eine Wiederkunft, ich lebte dasselbe Leben noch einmal, das ich gelebt, täte genau dasselbe wieder, was ich im Leben getan habe.

THAYER. Die Verhandlung ist geschlossen. Mit den anderen Richtern ab.

ROSA. Nicola – nein, du wirst nicht sterben müssen!

SACCO. Tapfer sein, Rosa. Wir müssen tragen, was wir nicht ändern können. Niemals sollen sich unsere Kinder ihrer Eltern schämen müssen.

EIN ARBEITER. Noch drei Monate Frist! Wir werden kämpfen!

EIN ANDERER. Der Sturm unsres Protestes muß zum Orkan werden!

EIN DRITTER. Verliert den Mut nicht, meine Freunde!

VANZETTI. Unser Mut ist nicht zu brechen. Muß es sein, so werden wir auch zu sterben verstehen. Wir haben nicht vergebens gelitten und tragen unser Kreuz ohne Jammern. Die Zeit kommt, wo die Arbeitsbrüder der Welt keinen Krieg mehr gegeneinander führen werden. Dann werden keine Kinder mehr hinter Fabrikmauern siech werden und der Sonne und den grünen Feldern entzogen sein. Der Tag ist nicht mehr weit, da es Brot geben wird für jeden Mund, ein Dach über jedem Haupt und Glück in jedem Herzen.

EIN ARBEITER. Wir danken euch, Sacco und Vanzetti. Ihr leidet für uns – so werden wir für euch auf der Schanze stehen.

POLIZEIKOMMISSAR. Genug jetzt. Verlassen Sie den Saal!

Polizisten drängen die Arbeiter zum Ausgang.

ROSA zu Thompson. Gibt es denn jetzt keinen Weg mehr?

THOMPSON. Gouverneur Fuller muß eingreifen.

SACCO. Wenn das Proletariat nicht eingreift – –

EINE FRAU ruft vom Ausgang. Habt ihr keine Aufträge für uns, Genossen? Können wir euch einen Wunsch erfüllen?

VANZETTI. Verschafft meiner Schwester Luigia das Reisegeld nach Amerika. Ich möchte sie noch einmal umarmen.

STIMMEN AUS DEN ARBEITERN. Das versprechen wir dir, Genosse Vanzetti.

KOMMISSAR. Vorwärts! Vorwärts! – Führt die Gefangenen ab.

Die abgehenden Arbeiter stimmen die Internationale an.

Vorhang.


*****************************************

10. Akt

29. Juni 1927.

Amtszimmer des Gouverneurs Fuller in Boston.

Gouverneur Alvin Fuller. Ein Sekretär.

SEKRETÄR mit Akten. Hier sind weitere Erklärungen, Proteste, Petitionen, Drohbriefe und Eingaben verschiedenster Art, die an den Präsidenten Coolidge gerichtet waren und die aus dem Weißen Hause an uns weitergegeben sind.

FULLER. Die Angelegenheit dieser beiden Anarchisten nimmt nachgerade groteske Formen an. Ich ersticke bald in dem Papier, das die Leute in der ganzen Welt vollschreiben, um den höchsten Beamten des Staates Massachusetts über seine Pflichten aufzuklären.

SEKRETÄR. Einige Schreiben habe ich Ihnen, Gouverneur Fuller, zur besonderen Aufmerksamkeit zu empfehlen. Hier ist das Manifest eines französischen Schriftstellers Romain Rolland und hier ein Appell an das amerikanische Volk von einem seiner Kollegen, einem gewissen Anatole France. Es soll sich um angesehene Vertreter ihrer Nation handeln.

FULLER. Mögen die Leute sich mit ihren Schreibübungen um die Skandale im eigenen Lande bemühen. Es ist bald, als ob die Bostoner Regierung keine dringenderen Geschäfte hätte, als diese aufgebauschte Justizbagatelle zu behandeln, ja, als ob es in der ganzen Welt keine wichtigere Aufgabe gäbe, als zwei Schlingel von Staatsfeinden, Gesetzverächtern, Anarchisten, Deserteuren und lästigen Ausländern, die obendrein des schweren Raubmordes schuldig befunden sind, vor dem elektrischen Stuhl zu bewahren.

Lärm unter dem Fenster. »Heraus mit Sacco und Vanzetti! Nieder mit Richter Thayer! Gouverneur Fuller, handeln Sie!«

SEKRETÄR. Schon wieder eine Deputation.

FULLER. Und natürlich wieder in Begleitung des ganzen radikalen Pöbels. Sind die Wachen verstärkt?

SEKRETÄR. Das Gebäude ist gegen jede Gefahr vollkommen gesichert. Es ist ausgeschlossen, daß außer ihren erwählten Sprechern Demonstranten ins Haus gelassen werden.

EIN LAKAI. Eine Delegation des Verteidigungskomitees für Sacco und Vanzetti.

FULLER. Sind Ihnen die Mitglieder der Delegation bekannt?

LAKAI. Rechtsanwalt Thompson ist dabei und die Frau des Sacco mit noch einer Ausländerin, außer dem Mr. Musmanno und drei Arbeiter.

FULLER. Also gut, lassen Sie sie eintreten. Lakai ab. Man muß der Bestie Zucker geben.

Es treten ein Thompson, Musmanno, Rosa Sacco, Luigia Vanzetti, zwei italienische Arbeiter, ein amerikanischer Arbeiter.

Geht den Ankommenden entgegen, drückt Thompson, Rosa und Musmanno die Hand. Ich freue mich, Sie wieder bei mir zu sehen, und ich bewundere Ihre unverdrossene und opferfreudige Mühe für Ihre Schutzbefohlenen.

ROSA. Wir wollen von Ihnen keine Schmeicheleien hören, Gouverneur Fuller. Leben und Tod der Verurteilten liegt in Ihrer Hand. Sie haben die Macht, die schreckliche Maschine stillstehen zu lassen, die in zwölf Tagen meinen Mann und den Bruder dieser Frau morden soll. Ich stelle Ihnen Luigia Vanzetti vor.

FULLER gibt Luigia die Hand. Sie haben eine weite Reise gemacht aus liebender Sorge um Ihren Bruder. Seien Sie versichert, daß Sie in mir einen Mann vor sich haben, dem es nicht an menschlichem Verständnis für Ihre Gefühle fehlt.

LUIGIA. Und was können Sie mir für Hoffnungen geben?

FULLER. Ich überlege hin und her, gute Frau. Wären meine Hände nicht so sehr gebunden durch die Gesetze der Vereinigten Staaten –

EIN ITALIENISCHER ARBEITER. Aha, Sie verstecken sich hinter die Gesetze.

MUSMANNO. Gouverneur Fuller, es kann Ihnen nicht entgangen sein, daß die Affäre Sacco und Vanzetti die ganze zivilisierte Welt in ungeheure Aufregung versetzt. In allen Ländern Europas, auch in den großen Städten des Orients und Australiens finden gewaltige Meetings und Demonstrationen statt. Von der gereizten Stimmung der arbeitenden Bevölkerung Lateinamerikas gar nicht zu sprechen. Ich denke, Sie selbst müßten mit Resolutionen und Protesttelegrammen überschüttet werden.

FULLER. Allerdings, Mr. Musmanno, die Berichte der amerikanischen Botschafter in allen Ländern lassen keinen Zweifel darüber, daß der Fall die öffentliche Meinung des Auslandes stark bewegt – wie es scheint, mehr als in den Vereinigten Staaten selbst.

ITALIENISCHER ARBEITER. Die eingewanderten Arbeiter in den Staaten stehen ihren Klassengenossen anderswo gewiß nicht nach.

AMERIKANISCHER ARBEITER. Es ist wahr, daß das amerikanische Proletariat durch den Faschismus teilweise stumpf und indifferent geworden ist. Aber nicht allgemein, Gouverneur! Die Illusion des Wohlstandes, mit der die Bourgeoisie durch die Gewährung eines windigen Komforts das Elend des Proletariats zeitweilig zu verschleiern versteht, wird eines Tages zerreißen, und dann werden die Stimmen, die Ihr Staat verstummen machen will, aus den Gräbern die Massen zur Revolution rufen.

FULLER. Bürger! Sie dürfen den Hütern der amerikanischen Verfassung nicht drohen!

THOMPSON. Gouverneur Fuller, auch ich kenne gut die Gesetze des Staates und achte sie. Aber diese Gesetze sind in dem Rechtsfall Sacco und Vanzetti hundertfach verletzt worden. Ich klage den Richter Thayer an, daß er seine Entscheidungen nicht nach den wirklichen Ergebnissen der Untersuchung gefällt hat, sondern nach den Einflüsterungen interessierter Gruppen, die in politisch gefärbten Prozessen leider die Justiz des Landes zu beeinflussen vermögen, und nach seiner eigenen haßerfüllten Meinung gegen die Anarchisten.

FULLER. Ich kann und darf mir solche Unterstellungen nicht zu eigen machen. Der Richter hat unabhängig kraft seiner eignen Überzeugung zu handeln und ist nur seinem Gewissen verantwortlich. Ich habe nicht Partei zu nehmen. Ich bin Beamter, und meine Handlungen werden bestimmt von den Erfordernissen des Staatswohles und der Staatsautorität.

ROSA. Immer der Staat! Der Mensch gilt euch nichts!

FULLER. Ich bin nicht die maßgebende Instanz. Was das Gericht als Recht erkannt hat, muß ich vollziehen.

THOMPSON. Dann frage ich Sie: Durfte Richter Thayer die Geschworenen über ihre Pflichten belehren, wie er es getan hat? Er forderte die Jury auf, ihr Amt aufzufassen wie ein echter Soldat, der dem Geiste der höchsten amerikanischen Loyalität zu folgen habe. Kam es hier auf den Geist der Loyalität an oder darauf, ob Sacco und Vanzetti gemordet haben? Durfte Richter Thayer, um festzustellen, ob die Angeklagten Raubmörder seien, sie darüber zur Rede stellen, warum sie das Land nicht liebten, warum sie von seinen Einrichtungen enttäuscht seien, warum sie behaupteten, die Harvard-Universität werde nur von reichen Leuten besucht? Diente das der Feststellung der Wahrheit oder der Beeinflussung der Geschworenen?

FULLER. Ich bin nicht auf diesen Platz gestellt worden, um die Richter des Landes zu kritisieren.

LUIGIA. Aber wir kritisieren sie, wir, denen die Richter das Leben ihrer Nächsten stehlen.

MUSMANNO. Sehen Sie in die Zeitungen, Gouverneur. Den anarchistischen, den revolutionären Arbeiterblättern könnten Sie vielleicht vorwerfen, was wir dem Richter Thayer vorwerfen, daß sie statt nach den Tatsachen nach der politischen Opportunität urteilen. Aber hier haben Sie den konservativen »Boston Herald«, der jahrelang den Schuldspruch gebilligt hat. Er schreibt, nach der Selbstbezichtigung Madeiros' sei die Unschuld der Männer erwiesen und ihre Hinrichtung würde den Namen Amerikas für alle Zeiten mit Schande beflecken. So lauten Tausende von bürgerlichen Stimmen. Vielleicht ist es nützlich, wenn ich Sie auch an den wirtschaftlichen Schaden erinnere, der den Staaten droht, wenn Sie nicht Einhalt gebieten.

FULLER. Inwiefern wirtschaftlicher Schaden?

MUSMANNO. In Schweden hat sich ein Zweigkomitee des unseren für die Errettung Saccos und Vanzettis gebildet. Es hat den sozialistischen Rechtsanwalt Branting entsandt, um an Ort und Stelle den Sachverhalt zu studieren. Er befindet sich auf der Fahrt nach Boston. Die schwedischen Arbeiter sind entschlossen, wenn es sein muß, das Weltproletariat aufzurufen zum Boykott der amerikanischen Waren.

FULLER. Das sollte ich abwenden können? Mit allem kommt man zu mir! Ich bin da, um den Staat Massachusetts zu regieren in Übereinstimmung mit den Gesetzen, ohne den Stimmungen und Erregungen einzelner Kreise Rechnung zu tragen, ohne mich auch den Forderungen oder Drohungen des Auslandes zu beugen.

ROSA. Sie wollen nichts tun – das ist alles. Sie wollen wie Katzmann und Thayer, daß der Vater meiner Kinder sterben soll!

FULLER. Sie tun mir Unrecht, Frau Sacco. Auch von der anderen Seite versucht man, auf mich einzuwirken. Unter diesen Akten sind Hunderte von Briefen, die mich auffordern, stark zu bleiben und den Dingen ihren Lauf zu lassen.

ITALIENISCHER ARBEITER. Das glauben wir, daß die Dollardespoten nicht müßig sind!

FULLER. Wie soll ich es allen recht machen? Was ich auch tue und anordne – ein Teil ist immer unzufrieden und bürdet mir die Schuld an allen Folgen auf. Wie komme ich dazu?

ARBEITER. Pontius Pilatus! Er wäscht seine Hände in Unschuld.

LUIGIA. Wir wollen Klarheit! Wir wollen Gewißheit! Es geht um Menschenleben!

FULLER läuft unschlüssig auf und ab. Gut. – Ich bin nicht der Unmensch, für den Sie mich halten. Die Hinrichtung findet am zehnten Juli nicht statt!

LUIGIA. Rosa! – Rosa, hör doch: findet nicht statt!

ROSA. Still! Was werden Sie tun, Gouverneur? Begnadigen Sie?!

FULLER. Die Vollstreckung wird um einen Monat, bis zum 10. August, aufgeschoben.

ROSA bitter. Auf-ge-schoben! Wieder nur aufgeschoben! Wieder nur das fürchterliche Spiel der Katze mit der Maus verlängert!

Lärm auf der Straße:

»Heraus mit Sacco und Vanzetti!«

MUSMANNO. Sie hören, Gouverneur Fuller. Unsere Genossen, die uns zu Ihnen geschickt haben, werden ungeduldig. Was bedeutet der Aufschub?

FULLER. Das Urteil des Richters Thayer aufzuheben steht, wie Sie selbst wissen, nicht in meiner Macht. Alle Rechtsmittel sind bereits erschöpft. Dennoch soll ein übriges geschehen. Ich werde einen eignen Ausschuß aus drei unbefangenen Männern einsetzen, die bis jetzt amtlich mit der Sache nichts zu tun gehabt haben. Dieser Ausschuß soll das ganze Material prüfen, und kommt er zu dem Schluß, daß das Urteil anfechtbar ist – dann soll, dafür verbürge ich mich, an Sacco und Vanzetti kein Unrecht geschehen.

LUIGIA. Oh, Rosa – glaubst du?

ITALIENISCHER ARBEITER. Ein neuer Betrug, eine neue Finte!

MUSMANNO. Aus wem wird der Ausschuß bestehen? Wird er öffentlich tagen?

THOMPSON. Werden dem Ausschuß die Archive des Justizamtes geöffnet werden? Wird er die Geheimverhandlungen zwischen Washington und Boston kennenlernen?

FULLER. Lassen Sie mich alle diese Fragen noch überdenken und mit dem Ausschuß selbst darüber entscheiden. Es wird alles gewissenhaft  erwogen werden, und Sie dürfen das Vertrauen haben, daß das große Herz Amerikas für jeden Bedrängten offensteht.

ROSA. Vertrauen? – Nein, Gouverneur Fuller. Ich habe kein Vertrauen mehr. – Aber ich will trotzdem neue Hoffnung schöpfen, um daraus die Kräfte zu stärken, die ich in meinem Kampfe für Sacco und Vanzetti nötig habe. – Komm, Luigia.

MUSMANNO. Täuschen Sie nicht die Hoffnung, die Sie geweckt haben.

THOMPSON. Ich danke Ihnen, Gouverneur Fuller.

ITALIENISCHER ARBEITER. Wir erwarten nichts mehr von Ihrer Gerechtigkeit. Die Arbeiter werden fortfahren zu kämpfen.

FULLER. Leben Sie wohl. Gibt Thompson, Musmanno und den Frauen die Hand und folgt ihnen bis zur Tür. Von der Straße Getöse und Rufe.

FULLER zum Sekretär. Verständigen Sie sofort den früheren Richter Grand und die Professoren Lowell und Pratton; ich habe mit ihnen zu sprechen. Ich denke, das sind zuverlässige Patrioten, die wissen, was sie der Staatsräson schuldig sind.

Vorhang.


*****************************************

11. Akt

22. Juli 1927.

Zelle wie im 7. Bild. Sacco. Vanzetti.

SACCO. Mir ist todelend, Vanzetti.

VANZETTI. Wir sind den achten Tag ohne Nahrung. Langsames Sterben, denkt man, wenn man vom Hungerstreik hört. Für uns ist es die beschleunigte Methode, gemessen an der wahnwitzigen Folter des Hinhaltens.

SACCO. An und für sich ließe ich mich mit Freuden in der nächsten Stunde auf den Mordstuhl schnallen, daß diese grauenhafte Tortur einmal aufhört – und dann denke ich wieder an Rosa und die Kinder und sehe vor mir, wie schön alles wäre, in unserem kleinen Heim, in meinem eigenen Gärtchen, wir vier zusammen, glücklich und heiter – und die Sehnsucht wird so groß, daß sie zum Wunsch wird und zu einer ganz leisen Hoffnung, es könnte doch einmal Wahrheit werden.

VANZETTI. Hoffnung – das ist bei mir so gut wie abgestorben.

SACCO. Ja, ja. Aber wenn die Genossen kommen und berichten, wie überall gearbeitet und gekämpft wird für uns – – ob nicht die Kraft des Proletariats es zuwege bringen könnte? Aber, wenn sie auch noch nicht ausreicht – so war sie noch nie verbunden wie in der Abwehr dieses Justizmordes.

VANZETTI. Und das ist das Schöne: wir sind zwei gewöhnliche Proletarier wie sie alle, diese vielen Millionen, und haben nicht mehr geleistet als die große Mehrzahl von ihnen. Wir taten unsere Pflicht als gemeine Soldaten im Klassenkampf. Gerade darum fühlen sie, daß das, was uns getan wird, ihnen allen geschieht. Uns hat die Bourgeoisie wahllos herausgerissen aus der großen Armee des Weltproletariats; auf uns ist einfach das Los gefallen, daß die Reaktion ihre Macht über die Arbeiter aller Länder ausprobt.

SACCO. Doch nehmen sich auch viele Bürgerliche überall unserer Sache an. Fuller bekommt unzählige Aufforderungen, uns freizugeben, selbst von europäischen Behörden und Parlamenten.

VANZETTI. Das ist ganz zwecklos. Weißt du, was Staatsräson ist? Staatsräson ist Rechthaberei um der Einbildung einer Idee willen.

SACCO. Wieso Einbildung?

VANZETTI. Weil der Staat gar nicht auf einer Idee beruht. Er muß sie nur vortäuschen. Der Staat ist die nüchterne blutleere Maschinerie, die das Funktionieren der kapitalistischen Ausbeutung garantiert, sonst nichts. Seine Einrichtungen, Militär, Justiz, Polizei, selbst Schule und Kirche sind nur Hilfsmittel dieser einzigen Funktion des Staates. Aber sie werden mit dem Schimmer eines sittlichen Prinzips umkleidet, damit ihr Anspruch auf Autorität vor den unkritischen Massen geweiht scheint.

Pause.

SACCO. Ich habe so einen lieben, rührenden Brief von meiner kleinen Inès bekommen. Sie kann noch kaum die Buchstaben hinmalen mit ihren sieben Jahren, das süße Geschöpfchen, das seinen Vater nie anders gesehen hat als hinter Gittern.

VANZETTI. Als ich Luigia wiedersah und sie mir die Grüße meines Vaters brachte, da wachte meine eigne Kindheit wieder auf in mir – und dann das ganze Leben, das mich herumgeschleudert hat, bis ich hier gelandet bin. Ich habe angefangen, die Geschichte meines Lebens niederzuschreiben, alles genau wie es war. Das will ich den Klassengenossen hinterlassen. Ein Proletarierschicksal mit seinen großen Nöten und kleinen Freuden. Du wirst es lesen, Nicola, wenn ich es ins reine übertragen habe. Hoffentlich verläßt mich die Sammlung nicht, wenn ich an den letzten Abschnitt komme – diese Jahre der Marter und des unmenschlichen Leidens.

SACCO. Das Ende muß dann ein anderer nachtragen: gesetzlicher Mord oder Entkräftung durch den Hungerstreik. Pause.

VANZETTI. Sonderbar. Ich denke öfter an den Bridgewaterprozeß als an die große Mordverhandlung gegen uns beide. Nicht der geringste Funke von Menschlichkeit war in der Stimme des Richters Webster Thayer. Ich begriff gar nicht, warum er mich so haßte. Ich muß ihm vorgekommen sein wie ein seltsames Tier – so ein gewöhnlicher Arbeiter, dabei Ausländer und noch dazu Anarchist. Alle meine Zeugen, auch lauter einfache Proleten, die nur die Wahrheit sagten, wurden über die Achsel angesehen und verhöhnt. Sie waren ja auch bloß Ausländer. Wenn Menschen Zeugnis ablegen, kann man ihnen glauben – aber Ausländer, das sind keine Menschen – äh!

Pause.

Verdammt, diese Leere im Magen. Die Eingeweide sind wie ausgebrannt. Poltert an die Tür. He, hallo! Ruft euren Thayer her, euren Katzmann, euren Fuller! Sie sollen Schluß machen mit der Gemeinheit! Brüllt auf. Ich hab's satt!

SACCO. Es hat doch keinen Zweck, Vanzetti.

VANZETTI. Das weiß ich, aber es erleichtert.

Rasseln an der Tür.

AUFSEHER. Ruhe da! Was ist das für ein Skandal! Sie möchten wohl in die Gummizelle gesteckt werden! So, da habt ihr für heute Gesellschaft. Herein hier!

MADEIROS erscheint in der Tür. Sie haben mich zu euch gebracht. Wir sollen Besuch kriegen.

SACCO. Besuch – für uns drei zusammen?

MADEIROS. Ich weiß auch nichts. Aber ich sah, es ist ein Staatsauto vorgefahren. Irgendein hoher Herr. Er ließ sich zum Direktor führen.

SACCO. Am Ende Thayer?

VANZETTI. Den schmeiße ich mit Fäusten und Fußtritten zur Tür hinaus.

SACCO. Und wenn er gute Botschaften bringt?

VANZETTI. Keine Illusionen, Sacco! Was soll von dem Gutes kommen! Die Sorte hat für uns niemals Gutes – höchstens neue Lügen.

MADEIROS. Meint ihr, daß für mich auch die Begnadigung kommen kann?

VANZETTI. Für dich vielleicht eher als für uns. Hättest du weniger verbrochen und wärst mehr Revolutionär, stände es schlechter um dich.

MADEIROS. Ich hab hier drinnen auch über manches nachgedacht. Aber ihr müßt mich ja verachten. Ich bin wirklich ein Räuber und Mörder.

SACCO gibt ihm die Hand. Wir verachten dich nicht. Hier im Zuchthaus sind wir alle Kameraden, und die Reichen sind ärgere Räuber und Mörder als du. Im Kriege haben sie das ganze Volk zu Mördern gemacht.

VANZETTI. Wir haben dir viel zu danken, Madeiros. Ohne dein Geständnis wären bei manchen Menschen doch noch Zweifel an uns hängengeblieben.

MADEIROS. Man hätte euch vielleicht auch schon vor einem Jahr hingerichtet.

VANZETTI lacht. Wenn das alles ist, was du verhindert hast, könnten wir bloß deine gute Absicht loben. Eine Wohltat für uns war das letzte Jahr eben nicht.

SACCO. Jetzt werden wir wohl bald nach Charlestown übersiedeln müssen in die Todeszelle.

MADEIROS. Ich wahrscheinlich auch. Mir ist es schon gleich. Ob sie mich kaltmachen oder mich lebenslänglich in so einem Dreckloch verfaulen lassen, ist kein großer Unterschied.

Pause.

VANZETTI. Der Kopf tut mir weh. Das Hirn ist ganz leer.

SACCO. Ich spür's in den Knien.

MADEIROS. Ihr seht beide blaß aus. Darf ich euch nicht mein Brot geben?

SACCO. Danke, lieber Freund. Wir essen nicht.

MADEIROS. Ihr seid im Hungerstreik – schon lange?

SACCO. Eine gute Woche. Wir protestieren gegen die ewigen Galgenfristen und wollen endlich Bescheid wissen.

VANZETTI. Der Untersuchungsausschuß mit den drei Gentlemen, die sich Gouverneur Fuller verschrieben hat, ist der letzte Trick, um dem Proletariat Sand in die Augen zu streuen. Er soll den Schwindel aufdecken, der dahintersteckt. Darum hungern wir.

MADEIROS. Glaubst du, daß es Schwindel ist? Ich meinte, wenn sie euch begnadigen, lassen sie mich vielleicht mit durchkriechen.

SACCO. Du bist freilich auf die Gnade dieser Leute angewiesen. Wir wollen keine Gnade, wir wollen unser Recht!

VANZETTI. Nur werden sie nicht eingestehen wollen, daß man uns für eine Tat verurteilt hat, die wir nicht begangen haben.

Der Gefängnisdirektor tritt mit Gouverneur Fuller ein. Mehrere Aufseher.

DIREKTOR. Das sind die drei Verurteilten.

FULLER. Welcher ist Madeiros?

MADEIROS. Hier.

FULLER. Gut, gut, mein Lieber. Ihr Gnadengesuch ist bei mir eingetroffen. Sie werden bald Bescheid bekommen. Verlieren Sie den Mut nicht.

VANZETTI. Wer sind denn Sie, wenn man fragen darf?

FULLER. Ich bin der Gouverneur von Massachusetts, Alvin Fuller. Sie sind Vanzetti, wie ich mich aus Bildern erinnere – und Sie also Sacco. Ich höre, Sie verweigern die Nahrungsaufnahme.

SACCO. So lange, bis wir Gewißheit über unser Schicksal haben.

FULLER. Ich komme nicht als Ihr Feind.

VANZETTI. Sie kommen als Vertreter des Staates. Da werden Sie schon unser Freund nicht sein.

FULLER. Sie irren. Ich hoffe bestimmt, Sie werden sich von mir zureden lassen, Ihre Kräfte durch ein schmackhaftes Mittagessen wieder aufzufrischen. Ich habe angeordnet, daß Ihnen zuerst ein Glas Milch mit Zwieback gebracht wird. Nach einer Stunde bekommen Sie dann ein gutes Stück Fleisch und etwas Wein.

VANZETTI. Das schmeckt nach Henkersmahlzeit.

FULLER. Durchaus nicht. Vielleicht kann ich Ihnen sogar Hoffnung machen.

VANZETTI. Unser Hungerstreik wird wohl draußen einige Kommentare verursachen, und das ist Ihnen unangenehm. So erkläre ich mir die Ehre Ihres Besuches.

FULLER. Sie sollten doch nicht gar so argwöhnisch sein.

SACCO. Wir sind zu oft enttäuscht worden, um noch zu glauben. Können Sie uns bindende Zusagen machen?

FULLER. Das freilich noch nicht. Sie wissen selbst, welch ungeheures Material sich im Laufe der vielen Jahre angesammelt hat. Soll der Untersuchungsausschuß zu einem Ergebnis kommen, das möglicherweise den zum 10. August angesetzten Termin der Hinrichtung umstößt, so werden Sie zugeben, daß er alles Für und Wider auf das genaueste gegeneinander abwägen muß. Das braucht seine Zeit. Der Entscheidung sollen Sie zuletzt selber die Anerkennung nicht versagen müssen, daß Recht und Wahrhaftigkeit gewaltet haben.

SACCO. Wir hätten gewünscht, daß zu diesem Gespräch einer unserer Verteidiger zugezogen worden wäre.

FULLER. Dann hätte die Unterhaltung, glaube ich, einen gar zu formal-juristischen Charakter bekommen. Den wollte ich vermeiden, damit Sie deutlich sehen, daß man Gouverneur des Staates und doch zugleich ein Mensch mit fühlendem Herzen sein kann.

VANZETTI. Schön, Gouverneur, dann lassen Sie uns jetzt Milch und Zwieback kommen. Bist du einverstanden, Sacco, daß wir den Hungerstreik abbrechen?

SACCO. Ich bin noch keineswegs überzeugt, daß sich für uns etwas ändern wird.

VANZETTI. Ich auch nicht, verlaß dich darauf. Aber wir wollen nach den freundlichen Worten nicht halsstarrig scheinen, damit der Gouverneur nicht glaubt, sein geöffnetes Menschenherz wieder zuknöpfen zu müssen.

SACCO. Meinetwegen also.

DIREKTOR zum Aufseher. Lassen Sie Milch und Zwieback bringen.

FULLER. Auch für Madeiros.

MADEIROS. Ich danke Ihnen, Mister.

Ein Aufseher tritt sofort mit Milch und Zwieback ein.

VANZETTI nimmt einen Schluck. Sie muten uns zu, Gouverneur, uns mit Ihrem menschlichen Herzen und einem Trostspruch zu bescheiden. Mit Vertröstungen werden wir seit vollen sechs Jahren gepäppelt, aber bis jetzt war jede Hoffnung so schnell aufgezehrt, wie die Mahlzeit verzehrt sein wird, die uns nach acht Tagen Fasten in dieser Minute labt. Unser Mißtrauen ist durch Ihre Worte nicht geringer geworden.

FULLER. Aber es ist nicht berechtigt.

SACCO. Sie haben erst vor wenigen Tagen trotz vieler Bemühungen um die Verurteilten die Hinrichtung dreier junger Leute wegen Raubmordes geschehen lassen.

FULLER. Es waren wirklich überführte Schwerverbrecher. Das bedeutet keinen Präzedenzfall.

VANZETTI. Nun gut, da Sie auf Ihr empfindsames Menschenherz pochen, will ich einmal annehmen, sie hätten ein Herz, das für das Leid andrer Menschen Zugänge besitzt.

FULLER. Ich habe es, ich habe es wirklich.

VANZETTI. Dann bitte ich Sie, Ihre Vorstellungskraft zusammenzunehmen und sich einen Augenblick in die Lage derer zu versetzen, die Sie vor sich sehen. Ich spreche jetzt nicht von Madeiros. Zwar ist auch er ein Mensch mit menschlichem Fühlen und mit menschlichen Leidenschaften. Diese Leidenschaften haben ihn irren lassen, und er selbst ahnt kaum, wieviel weniger das sein Verschulden ist als die Schuld der sozialen Verhältnisse und der Einrichtungen der kapitalistischen Gesellschaft. Wenn Sie für ihn Gnade haben, so wird das Ihrem menschlichen Herzen nur Ehre antun. Anders aber liegt es bei uns, die wir nicht an Ihre Gnade appellieren, sondern uns an Ihr Rechtlichkeitsgefühl wenden und die Aufhebung eines ungerechten Urteils fordern. Wohl – Sie zweifeln daran, daß das Urteil ungerecht ist. Nehmen Sie es einmal als Hypothese an, nur solange Sie hier vor uns sitzen. Können Sie das?

FULLER. Gewiß. Bitte sprechen Sie sich aus.

VANZETTI. Dann vergegenwärtigen Sie sich jetzt die sieben Jahre, die wir unter der falschen Beschuldigung, um schnöden Gewinnes willen Menschen ermordet zu haben, zwischen den Kerkermauern zubringen mußten. Vergegenwärtigen Sie sich, sechs Jahre lang unschuldig mit einem von Richtern verhängten Todesurteil im Zuchthause zu vegetieren und Tag für Tag, Nacht für Nacht, Stunde für Stunde die Ankündigung zu erwarten, daß das Urteil nun vollstreckt werden wird. Wenn der Tag heraufzieht, fragst du dich: Wirst du den Abend noch sehen? Und kommt der Abend, fragst du: Wirst du dich morgen noch einmal niederlegen? Sechs Jahre – machen Sie sich die Zeit lebendig, Gouverneur. Denken Sie rückwärts und holen Sie ins Gedächtnis, was Sie in den sechs Jahren alles getan, gewollt, geschafft, erlebt, geplant haben. Wir haben in den sechs Jahren nichts andres erlebt als kalte Rache für ein Verbrechen, zu dem wir keinerlei Beziehung haben. Man hat uns gemartert, uns in Irrenzellen gesteckt, uns verhört und wieder verhört, man hat unsere Martern gesteigert mit allen Mitteln grausamer Erfindungskraft und hat uns Befriedigung und Spott gezeigt, wenn wir verrieten, daß wir Qualen leiden. Von allen Qualen die schlimmste ist aber die des Wartens, des Hingehaltenwerdens, des ewigen Wechsels von Hoffnung und Geprelltsein. Es ist, als ob wir zusehen müßten, jahraus, jahrein, tagaus, tagein, wieder elektrische Stuhl für uns geladen wird und wieder entladen, und wenn wir meinen, jetzt ist Ruhe, dann tritt der Ingenieur wieder heran und füllt die Batterien, und das Surren und Rasseln des höllischen Apparates beginnt von neuem. So haben wir nur eine Sehnsucht, ob wir wachen oder schlafen, ob wir essen oder miteinander reden, ob wir lesen oder schreiben oder an unsere Lieben denken: daß endlich Schluß sein möge mit dem allen – so oder so. Lassen Sie uns wieder atmen, Gouverneur Fuller, oder lassen Sie uns ein für allemal den Atem zuschnüren. Nur – machen Sie ein Ende!

FULLER. Ich danke Ihnen für diese Worte. Sie haben mich tief erschüttert.

SACCO. Vanzetti hat Ihnen gesagt, was ich ebenso empfinde. Lassen Sie sich seine Worte eingehen, aber wenn Sie wirklich mitfühlen können, dann denken Sie auch an die Leiden derer, die mit uns verbunden sind. Ich liebe meine Frau und ich liebe meine armen Kinder, die aufwachsen und nicht wissen, ob sie noch einen Vater haben. Sie werden glücklicher sein, ihren Vater im Grabe zu wissen als ruhelos eingesargt zwischen Tod und Leben, zwischen Henkerstuhl und Freiheit.

FULLER. Ich werde Ihre eindringliche Mahnung nicht vergessen, meine Freunde, ich werde für Sie tun, was in meiner Macht steht. – Und Sie, Madeiros, haben Sie mir auch noch etwas zu sagen?

MADEIROS. Nein, Mister, helfen Sie Sacco und Vanzetti!

FULLER. Nun, ich denke, Sie werden jetzt ein wenig froher sein als vorher. Ich freue mich, daß Sie wieder Nahrung annehmen wollen. So werden Sie rasch die Kräfte zurückgewinnen, die Sie hoffentlich im Leben doch wieder gebrauchen werden. Sie sind ganze Männer, und ich bitte Sie, mir zum Abschied einen Händedruck nicht zu versagen. Er schüttelt Sacco und Vanzetti die Hand. Leben Sie wohl und haben Sie Vertrauen! Winkt Madeiros zu. Glück auf, Madeiros! Mit dem Direktor ab.

SACCO. Was denkst du? – Ob er es ehrlich meint?

VANZETTI. Ich weiß es nicht. Hat er Komödie gespielt, dann ist er der verruchteste Schurke, den je die Sonne beschienen hat.

Vorhang.


*****************************************

12. Akt

9. August 1927.

Freier Platz in Boston. Später Abend. Gedränge.

RUFE. Nieder mit Fuller! Tod den Henkern! Es lebe die Revolution! Freiheit für Sacco und Vanzetti! Nieder mit dem Verräter Coolidge! Rache! Rache an Thayer! Tod Fuller und Thayer! Zum Gefängnis! Rettet Sacco und Vanzetti!

EIN ARBEITER. Ruhe, Genossen! Schwenkt ein Extrablatt.

VIELE. Ruhe! Neue Nachrichten!

1. ARBEITER. In Buenos Aires und Rosario haben die syndikalistischen Gewerkschaften den Generalstreik proklamiert!

RUFE. Bravo! Es lebe der Generalstreik!

1. ARBEITER. In Mexiko nehmen die Demonstrationen turbulenten Charakter an. Die Erregung der Massen ist unbeschreiblich. – In Paris, London, Brüssel, Berlin, Hamburg, Stockholm, Oslo, Kopenhagen demonstrieren Syndikalisten, Kommunisten und Anarchisten gemeinsam für Sacco und Vanzetti!

RUFE. Es lebe die proletarische Solidarität!

1. ARBEITER. In vielen Hauptstädten fühlen sich die amerikanischen Gesandten bedroht und fordern polizeilichen Schutz an.

RUFE. Bravo! Nieder mit der Reaktion! Nieder mit der Dollarjustiz!

2. ARBEITER. Genossen! Hört mich an!

VIELE. Ruhe! Laßt ihn sprechen!

2. ARBEITER. Wir jubeln über die Kundgebungen des internationalen Proletariats, statt selber zu handeln. Es ist bald elf Uhr. In knapp anderthalb Stunden soll das Todesurteil vollstreckt werden!

VIELE. Nein! Rettet Sacco und Vanzetti!

STIMMEN. Was sollen wir tun?

3. ARBEITER. Stürmt das Gefängnis! Holt sie heraus!

Großer Beifall.

4. ARBEITER. Wir kommen nicht hin. Die Straße nach Charlestown ist abgesperrt. Überall Bewaffnete.

EINE FRAU. Zum Gouverneur!

Zustimmung.

2. ARBEITER. Er ist nicht da. Er hat sich auf sein Landgut gedrückt. Das ist eine kleine Insel, und die Wege dorthin sind mit Militär umstellt.

VIELE. Pfui! Der Feigling! Nieder mit Fuller!

2. ARBEITER. Auch Coolidge und viele Senatoren haben sich aufs Land verzogen und lassen sich bewachen.

RUFE. Die Lumpen! Feige Mörder! Tod Coolidge und Fuller!

Rosa und Luigia kommen weinend gelaufen.

ROSA. Genossen! Wir haben Abschied genommen. Wir kommen aus der Todeszelle.

STIMMEN. Still! Saccos Frau, Vanzettis Schwester! Sprich, Genossin.

ROSA. Wir durften nicht länger bleiben.

4. ARBEITER. Ist keine Aussicht mehr?

LUIGIA. Direktor Hendry hat gesagt, bevor er von Fuller keinen Telefonanruf hat, unternimmt er nichts. Er meint, es würde noch Gegenbefehl kommen.

3. ARBEITER. Glaubt den Lumpen nicht. Es sind alle Mörder!

VIELE. Nieder mit Fuller! Nieder mit Thayer!

FRAU. Solange Sacco und Vanzetti noch atmen, müssen wir noch hoffen.

ROSA. Ja, Genossin. Ich will noch nicht verzweifeln. Ihr wißt nicht, was für eine Nacht ich mit meinen Kindern durchlebt habe. Sie hatten uns wieder Mut gemacht. Am 22. Juli war Fuller selbst bei ihnen in der Zelle – sie waren im Hungerstreik. Er hat ihnen zugeredet, hat versprochen, er wolle sich für sie einsetzen, und hat sie dazu gebracht, den Hungerstreik aufzugeben. Zum Abschied hat er beiden die Hand gedrückt.

STIMMEN. Rache an dem Heuchler!

ROSA. Sie wollten es nicht eingestehen, daß sie wieder Vertrauen faßten. Aber wir lasen es in ihren Augen. Und dann eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Am 3. August hat derselbe Fuller das Todesurteil bestätigt!

VIELE. Pfui! Nieder mit dem Gouverneur!

ROSA. Drei Tage danach kam der Bericht des Dreimännerausschusses: Schuldig!

1. ARBEITER. Sie haben heimlich hinter verschlossenen Türen verhandelt. Ein abgekarteter Betrug!

4. ARBEITER. Fuller wollte für sich und Thayer nur Deckung haben. Sie haben sich die drei Schurken selbst ausgesucht.

2. ARBEITER. Genossen, wie lange wollen wir hier schreien? Die Reaktion in Charlestown handelt!

LUIGIA. Freunde, Brüder, tut, was möglich ist!

5. ARBEITER. Ruhe! Eine wichtige Neuigkeit!

VIELE. Still! Ruhe! Was ist geschehen, Genosse?

5. ARBEITER. In der Untergrundbahn in New York ist eine Bombe explodiert. Große Verwüstungen. Mehrere Tote, viele Verletzte. Ungeheure Erregung in der Stadt.

VIELE. Bravo! Recht so! Tod der Reaktion!

EINE STIMME. Spitzelwerk!

1. ARBEITER. Wir können es nicht wissen.

2. ARBEITER. Genossen, laßt uns noch einen Versuch machen!

VIELE. Ja, ja – welchen?

2. ARBEITER. Laßt uns noch Deputationen absenden, eine im Auto zu Fuller, eine zweite direkt nach Charlestown.

VIELE. Ja, richtig! Bildet zwei Deputationen! Wer soll sie führen?

EINE FRAU. Eine Rosa Sacco und die andere Luigia Vanzetti!

VIELE. Bravo, Genossin. – Schnell, Genossin Rosa! Genossin Luigia! Jede mit fünf Arbeitern.

STIMME. Platz! Ruhe! Macht Platz für Genossen Musmanno!

VIELE. Ruhe! Platz da! Der Vorsitzende des Verteidigungskomitees, Genosse Musmanno!

MUSMANNO schwingt ein Papier. Aufgeschoben! Gouverneur Fuller hat einen Aufschub bewilligt!

LUIGIA. Aufschub! Rosa – höre doch! Ein Aufschub!

ROSA. Haltet mich, Genossen – ich kann nicht mehr.

Wird aufgefangen.

STIMMEN. Lies vor, Genosse Musmanno!

MUSMANNO. Die Bekanntmachung Fullers lautet:

»Die Gerichtshöfe der Republik sind eifrig damit beschäftigt, Beschwerdeschriften und Petitionen, die von den Juristen eingereicht werden, zu behandeln und Beschlüsse zu fassen. Die Gerichtshöfe selbst haben nicht die Macht, Aufschub zu gewähren. Um ihnen jedoch Gelegenheit zu geben, die Anklage gegen Sacco und Vanzetti zu behandeln, und damit sie auf ihre neuen Erwägungen Beschlüsse gründen können, habe ich dem Exekutivrate empfohlen, die Vollstreckung der Urteile an Sacco, Vanzetti und Madeiros um zwölf Tage bis zum 22. August zu verschieben. Der Rat hat einstimmig so beschlossen. Bevor dieser Beschluß gefaßt wurde, hatte auch die Oberstaatsanwaltschaft denselben Vorschlag unterbreitet.«

Genossen! Freunde! Ich war bei den Kameraden in der Todeszelle und habe ihnen die Nachricht gebracht. Sie hatten keine Kraft mehr sich zu freuen.

EINE FRAU. Die Armen!

MUSMANNO. Ihre Köpfe waren schon rasiert, damit der Metallrand des elektrischen Stuhles sicherer wirken könne.

LUIGIA. Entsetzlich! – Bartolomeo!

MUSMANNO. In vierzig Minuten sollten sie sterben.

RUFE. Nieder mit Thayer! Nieder mit der Dollarjustiz!

MUSMANNO. Sie hatten mit allem abgeschlossen.

ROSA. Oh, nicht das erste Mal.

MUSMANNO. Nun heißt es weiter arbeiten! Wir haben zwölf Tage gewonnen. Das ist eine kurze Zeit, aber guter Wille und revolutionäre Kraft können viel schaffen!

2. ARBEITER. Was wird jetzt weiter geschehen, Genosse Musmanno?

MUSMANNO. Sacco und Vanzetti werden noch heute nacht von der Todeszelle ins Gefängnis zurückgebracht.

3. ARBEITER. Zu neuen Todesqualen!

MUSMANNO. Der Oberste Gerichtshof muß noch einmal die Anträge auf ein Wiederaufnahmeverfahren prüfen.

ROSA. Immer derselbe Kreislauf.

3. ARBEITER. Die Schufte stecken ja doch alle unter derselben Decke.

MUSMANNO. Ihr müßt weiter demonstrieren! Jeden Tag auf die Straße!

4. ARBEITER. Das wollen wir. Und wenn der Oberste Gerichtshof wieder nein sagt?

MUSMANNO. Dann bleibt noch der Weg zum Höchsten Gerichtshof in New York und ein Appell an den Präsidenten Coolidge.

3. ARBEITER. Der hat sich schon unsichtbar gemacht.

MUSMANNO. Der Appell an den Höchsten Gerichtshof ist erst zulässig, wenn das Oberste Gericht von Massachusetts versagt hat, und auch dann nur, wenn wir die Unterschrift eines Mitglieds des Bundesgerichts selbst dazu erlangen. Wenn sein Vorsitzender Holmes die Unterschrift nicht gibt, wird Rechtsanwalt Thompson den früheren Präsidenten, Oberrichter Taft, auffordern. Vor allen Dingen muß erreicht werden, daß das Justizministerium seine Akten über den Fall veröffentlicht. Dann wäre der Beweis erbracht, daß die Behörden untereinander gesetzwidrig konspiriert haben.

2. ARBEITER. Das wissen wir doch. Aber keiner wird den anderen ins Unrecht setzen.

4. ARBEITER. Die Staatsräson geht ihnen allen über das Recht.

1. ARBEITER. Ruhe, Genossen! Wieder eine Meldung!

VIELE. Ruhe! Ruhe!

1. ARBEITER. In San Francisco hat heute abend in einer Kirche eine Explosion stattgefunden.

2. ARBEITER. Das ist die Stimme des beleidigten Proletariats.

MUSMANNO. Genossen! Wir müssen natürlich alle gesetzlichen Wege benutzen. Aber es geht nicht um bürgerliches Recht, nicht um Anwendung von Paragraphen und juristischen Formeln. Wir stehen in der schwersten Schlacht des Klassenkrieges. Das internationale Kapital hat das internationale Proletariat herausgefordert. Die Genossen Sacco und Vanzetti, unsere Freunde, sind die vorgeschobenen Posten in diesem Kampf. Wenn sie noch etwas retten kann, so nur die aktive Solidarität ihrer Arbeitsbrüder. Proletarier, vorwärts! Es lebe der revolutionäre Klassenkampf des Proletariats!

GESANG. Brüder zur Sonne zur Freiheit! –

Vorhang.


*****************************************

13. Akt

22. August 1927, abends.

Zimmer auf dem Landsitz des Gouverneurs Fuller.

Fuller, Thayer, Katzmann, Richter, Beamte.

FULLER. Gentlemen, ich habe Sie zu mir in mein Landhaus gebeten, um in der letzten Stunde Ihr Einverständnis festzustellen, daß diese leidige und langwierige Angelegenheit der beiden italienischen Anarchisten jetzt unwiderruflich zum Abschluß gebracht wird. Die mir am 9. August unter dem Drucke, ich möchte sagen, physischen Zwanges mit Beschwörungen, Drohungen, unmittelbaren Ankündigungen von Attentaten und Racheakten herausgepreßte Aussetzung der Hinrichtung bis zur heutigen Nacht muß nach meiner Meinung, die von allen zu Rate gezogenen Instanzen geteilt wird, die endgültig letzte Verzögerung gewesen sein. Wir dürfen keine Schwäche mehr zeigen. Die Frist ist abgelaufen, und der Gerechtigkeit wird, falls Sie nicht anderer Auffassung geworden sein sollten, gleich nach Mitternacht Genüge geschehen.

THAYER sieht nach der Uhr. Dann haben die Banditen noch vier Stunden zu schnaufen.

FULLER. Ich gebe Ihnen nun kurz den Bericht über den Fortgang der Dinge in den letzten Tagen, da nach werde ich dann Ihre formelle Zustimmung zu der Exekution erbitten.

KATZMANN. Ein Anschlag der Radikalen auf unsere Sitzung ist doch nicht zu befürchten?

FULLER. Sie können unbesorgt sein, Staatsanwalt Katzmann. Die Lage des Landgutes auf einer Insel würde einen Überfall ohnehin sehr schwierig machen. Es befinden sich aber zur Bewachung im Hause, im Park und an der Zufahrtsstraße auf dem Festlande neunhundert Soldaten, davon sechs Kompanien Infanterie und zwei Maschinengewehrabteilungen. Die Delegationen, die von Boston und von überall her die ganzen letzten Tage fortwährend ankamen und die ich aus wohlerwogenen Gründen nicht abweisen kann, werden selbstverständlich, noch ehe sie das Motorboot zur Überfahrt betreten, gründlich auf Waffen durchsucht. Es kann nichts passieren.

THAYER. Zuzutrauen ist dem aufgepeitschten Gesindel viel. Nach den Bombenwürfen in New York und San Francisco jetzt die Explosionen in Buenos Aires: das revolutionäre Pack hängt in der ganzen Welt zusammen wie Kletten.

FULLER. Die Generalausstände an vielen Orten, besonders auch in Südamerika, dann die Massendemonstrationen in den europäischen Großstädten, die größten, die bis jetzt erlebt wurden, wie die diplomatischen Vertreter melden, müssen unsere Ansicht befestigen, daß sich der Fall Sacco und Vanzetti zu einer Prestigefrage für die amerikanische Staatsautorität ausgewachsen hat.

KATZMANN. Jedes weitere Zurückweichen würde als Feigheit gedeutet werden. – Doch, noch eine Frage, Gouverneur Fuller: sind auch die Vorkehrungen in Boston selbst, vor allem im Umkreise des Gerichtsgebäudes und des Staatsgefängnisses von Charlestown ausreichend und allen Eventualitäten gewachsen?

FULLER. Über die Oststaaten Nordamerikas ist der Belagerungszustand verhängt. Alle verfügbaren Kräfte des Militärs und der Polizei sind in Alarmbereitschaft. Die Regierungsgebäude sind durch besondere Militärformationen mit den schwersten Waffen beschützt. Es ist für Panzerwagen gesorgt, vor dem Gefängnis sind Barrikaden errichtet, und die Polizei ist mit Gasbomben ausgerüstet. Kriminalbeamte und Vigilanten sind überall zu vielen Hunderten tätig, und jede geringste Unbotmäßigkeit wird durch Verhaftungen und nötigenfalls schärfere Maßnahmen unterdrückt werden.

THAYER. Sehr gut, sehr notwendig. Zu denken, daß die Radikalen in Genf nicht davor zurückgeschreckt sind, den berühmten Glassaal des Völkerbundpalastes zu zertrümmern!

EIN RICHTER. Die geheiligte Stätte des Weltfriedens!

KATZMANN. In Paris und Hamburg ist es zu regulären Straßenkämpfen zwischen dem Pöbel und der Polizei gekommen. In allen europäischen Häfen weigern sich die Arbeiter, unsere Schiffe zu löschen. In Norwegen ist der Generalstreik proklamiert. Das ist denn doch schon der international organisierte Aufruhr!

THAYER. Das alles wegen zweier Nichtsnutze von italienischen Kriegsdienstverweigerern! Nur jetzt kein Zaudern mehr.

EIN BEAMTER. Nein, wir müssen Energie zeigen.

FULLER. Ich sehe mit Genugtuung, daß Ihre Stimmung meiner Auffassung entspricht. Ich bitte nun um Ihre Aufmerksamkeit: Nach dem Spruch des Dreimännerkollegiums rief die Verteidigung das Oberste Gericht von Massachusetts an. Am 19. August ist dessen Votum ergangen; der Oberste Gerichtshof hat sich, wie zu erwarten war, geweigert, sich über den Schuldspruch der Geschworenen überhaupt auszusprechen. Die angeblichen Beweise der Verteidigung für die Voreingenommenheit des Richters Thayer hat er nicht geglaubt würdigen zu sollen.

THAYER. Eine unverschämte Bande, diese Advokaten!

FULLER. Hierauf machte die Verteidigung den Versuch, einen Appell an den Höchsten Gerichtshof der Vereinigten Staaten zu richten, um den nunmehr endgültig festgesetzten Hinrichtungstermin durch die höchste Instanz aufheben zu lassen. Der Versuch ist indessen gescheitert. Ein solches Schriftstück muß, wie Sie wissen, die Unterschrift eines Mitglieds des Höchsten Gerichts selbst tragen. Der Vorsitzende Holmes weigerte sich, diese Unterschrift zu geben. Der Oberrichter Taft konnte rechtzeitig verständigt werden, daß man ihn für den Zweck weich machen wolle. Er reiste schleunigst ab und befindet sich jetzt in Kanada. Heiterer Beifall. Ebenso gelang es den Freunden der Anarchisten nicht, den Senator Borah oder sonst eines der in Betracht kommenden Mitglieder des Bundesgerichts zu erreichen. Zwar glückte es den Verteidigern, die ihnen zur Erschwerung ihrer Aktion gestellte Bedingung zu erfüllen, die fehlenden Akten beim Büro des Bundesgerichts in den wenigen zur Verfügung stehenden Stunden nachzuliefern, doch konnten ihre Pläne von einer anderen Seite her erfolgreich durchkreuzt werden. Es war ja denkbar, daß sich nach der Einreichung des Gesuches ein Bundesrichter aus Mitleid oder aus anderen Gründen noch zur nachträglichen Unterzeichnung hätte bewegen lassen. Aber zur vorgeschriebenen Fassung einer solchen Eingabe gehört die Beifügung sämtlicher Prozeßakten. Diese Akten befinden sich beim Justizamt, und so brauchte sich diese Behörde nur zu sträuben, sie herauszugeben, – –

KATZMANN. – – was selbstverständlich geschehen ist!

FULLER. – und die Gerichtsbeamten hatten den formellen Grund, die Weiterleitung des Gesuches, da es der vorgeschriebenen Fassung nicht entsprach, abzulehnen. Damit war dank der Aufmerksamkeit aller in Betracht kommenden Faktoren auch die letzte Chance, mit juristischen Mitteln zum Ziel zu kommen, fehlgeschlagen, und es blieb nur die Möglichkeit eines Gnadenaktes durch mich oder den Präsidenten Coolidge. Bekanntlich ist der Präsident, um den Unannehmlichkeiten der ganzen Angelegenheit enthoben zu sein, schon vor einiger Zeit aufs Land gereist, wo er mit keinerlei Amtsgeschäften behelligt sein will. Ich meinerseits möchte jedoch nicht gern dem Begnadigungsrecht des Präsidenten der Vereinigten Staaten in den Weg treten, zumal die Schwere des Verbrechens und die unsympathischen Persönlichkeiten der Verurteilten eine übergroße Milde in diesem Falle kaum gerechtfertigt erscheinen lassen. Rechtsanwalt Thompson besteht nun auf der nochmaligen Gewährung einer Frist, binnen welcher er – –

THAYER. Wie oft denn noch? Unter keinen Umständen!

FULLER. Ich sagte bereits, ich bin nicht mehr geneigt, den Fall noch weiter in die Länge zu ziehen. Der Tumult wegen der Affäre in der ganzen Welt, die Zeitungshetze zugunsten der Verurteilten, die gänzlich unpassende Einmischung Europas in die interne amerikanische Angelegenheit, an der sich leider sogar staatliche Organe beteiligen, stellt Amerika vor die gebieterische Pflicht, den Gordischen Knoten mit entschlossenem Hieb zu durchhauen. Dieses Land hat eine Geschichte, in der die Tugenden der Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit unauslöschlich leuchten. Hiervon vermag das Geschrei von Phrasen und Verleumdungen umnebelter Ordnungsfeinde nichts zu verkleinern. Dieses Land steht aber im Augenblick in einer Situation, in der es gegenüber einer wüsten Agitation destruktiver Elemente seine Reputation wahren muß. Es darf nicht sein, daß Amerika vor dem Gebot des Auslands einen kleinsten Schritt zurückweicht. Selbst ein Gnadenerweis, schon die Umwandlung der Todesstrafe in Zuchthaus auf Lebenszeit, würde als Rückzug aufgefaßt werden und schlösse überdies die Gefahr in sich, daß der Kampf um die Befreiung Saccos und Vanzettis lärmend und die Staatsräson schädigend weiter toben würde, wie wir das ja im Falle der anarchistischen Bombenwerfer Mooney und Billings tatsächlich erlebt haben. Möge die Vollstreckung des Urteils im ersten Affekt die öffentliche Erhitzung zum Sieden steigern – sind die Mörder erst einmal tot, dann ist der Propaganda gegen unsere Rechtsinstitutionen das konkrete Objekt genommen und die Sicherheit des Rechtslebens, die geregelte Ordnung unseres Staatswesens wird einen Triumph über das gärende Element der unteren Volksschichten errungen haben, der für lange Zeit den revolutionären Wühlern im Inland wie im Ausland die Lust benehmen wird, sich am Staatsbewußtsein Amerikas zu messen. Ich bitte Sie daher, mich zu ermächtigen, alle weiteren Bitten und Beschwerden zurückzuweisen. Die Verteidiger werden um zehn Uhr hier sein, um den definitiven Bescheid auf ihren letzten Einspruch einzuholen. Beauftragen Sie mich, ihnen die Unabänderlichkeit des Beschlusses zu verkünden, und geben Sie mir auf, das Urteil zur festgesetzten Stunde vollstrecken zu lassen.

KATZMANN. Ich glaube aussprechen zu dürfen, daß wir die überzeugenden Darlegungen des Gouverneurs Fuller ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen haben, daß seine Argumente keine Einwendungen erlauben und daß wir seiner Absicht, die Affäre heute noch zu bereinigen, mit Befriedigung zustimmen.

THAYER. Niemand kann Ihnen, Gouverneur, niemand kann uns Richtern oder den Staatsanwälten vorwerfen, daß wir nicht alles getan hätten, um der Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen. Wir können die Verantwortung für die Hinrichtung der beiden Schädlinge leichten Herzens auf uns nehmen, zumal sie von allen übergeordneten Stellen mit getragen wird.

FULLER. Ich danke Ihnen, Gentlemen. Morgen wird es keinen Fall Sacco und Vanzetti mehr geben.

Alle ab außer Fuller und dem Sekretär.

Ist noch etwas zu erledigen?

SEKRETÄR. Die Frau von Sacco und die Schwester von Vanzetti warten draußen.

FULLER. Weibertränen auch noch! – Gott sei Dank, daß das jetzt alles mal ein Ende nimmt. Also lassen Sie sie hereinkommen.

Rosa und Luigia treten ein.

FULLER geht ihnen entgegen, gibt ihnen die Hand. Arme Frauen, wie Sie mir leid tun!

ROSA. Helfen Sie, Gouverneur, Sie können es!

FULLER. Ich habe das Äußerste versucht, um das Unglück abzuwenden. Leider war alles vergeblich.

LUIGIA. Können Sie denn gar keine Hoffnung mehr geben?

FULLER. Wir Staatsbeamte sind nicht so allmächtig, wie Sie annehmen. Unser Handeln ist durch bittere und harte Pflichten vorgezeichnet.

ROSA. Wir haben bis jetzt unser Recht gefordert, jetzt kommen wir nur noch und bitten um Barmherzigkeit.

LUIGIA. Wir flehen Sie an – begnadigen Sie meinen unglücklichen Bruder und den armen Sacco!

FULLER. Es ist schwer, mehr als schwer, Sie nicht trösten zu können. Meine Pflicht ist mir vom Gesetz vorgeschrieben. Ich kann nicht darüber hinaus – so gern ich wollte.

ROSA. Doch: Sie können – wenn Sie nur wirklich wollen, können Sie auch. Ich weiß es.

LUIGIA fällt vor ihm nieder. Gouverneur Fuller! Noch nie habe ich mich vor einem Menschen gedemütigt, noch nie einen Menschen angebettelt. Ich tue es – für zwei Unschuldige, die sterben sollen! Haben Sie Mitleid! Haben Sie Erbarmen! Gnade! Gnade!

FULLER. Um Gottes willen, stehen Sie auf, beste Frau! Sie treiben mir die Tränen in die Augen. Wenn ich nur helfen könnte – wie gerne täte ich es.

ROSA. Sie selbst sind Vater. Sie haben Kinder wie Nicola Sacco! Fühlen Sie doch einmal, wie ein Vater fühlt. Denken Sie sich Ihre Kinder in der Lage der unseren. Bitte, Gouverneur, bitte, handeln Sie, wie ein guter Vater handelt. Das ist besser, als blindlings die Buchstaben steinerner Gesetze zu erfüllen. Um der Kinder willen – bitte!

FULLER. Arme Frau, liebe arme Frau. Ihr Schmerz drückt mir das Herz ab – gehen Sie, gehen Sie! Ich kann nicht helfen!

Er läuft ins Nebenzimmer.

ROSA. Nichts – nichts. Luigia, rasch, komm, daß wir sie noch sehen!

Vorhang.


*****************************************

14. Akt

22./23. August 1927, nachts.

Die Todeszelle in Charlestown. Die Bühne wird durch einen zweiten Vorhang hinten abgeschlossen.

Vanzetti schreibt. Sacco liest.

VANZETTI. Was liest du, Sacco?

SACCO. Briefe von Lincoln. Es war ein anderer Geist in Amerika.

VANZETTI. Das Bürgertum lebte noch in revolutionären Erinnerungen und hatte daher Ideale.

SACCO. Und du, Vanzetti – was schreibst du?

VANZETTI. Einen Brief an meinen Vater. Luigia hat viel Heimweh geweckt.

SACCO. Das war ein sonderbarer Tag heute. Hast du morgens gedacht, daß wir am Abend noch leben würden?

VANZETTI. Das habe ich seit Jahren fast keinen Morgen mehr gedacht.

SACCO. Trotzdem – ich hoffte heute, es würde ernst sein, jetzt läßt Fuller diesen 22. August auch wieder vorübergehen.

VANZETTI. Er soll es machen wie er will. Noch einmal das erleben wie vor zwölf Tagen, den inneren Menschen gewappnet, Hirn und Herz vorbereitet, die Bilanz abgeschlossen – um dann, mit rasiertem Schädel, vierzig Minuten vor der Prozedur von neuem auf Wartezeit gesetzt zu werden – nein, das mache ich nicht noch mal mit. Mir ist dieser 22. August heute vergangen wie jeder Tag seit sechs Jahren.

SACCO. Mir eigentlich auch – nur, als heute mittag Rosa da war mit den Kindern und ich beim Abschied doch denken mußte – nie wieder! ich will's dir eingestehen, wie ich das kleine Mädel auf den Arm nahm, da habe ich geweint, zum ersten Mal seit langer Zeit.

VANZETTI. Brauchst dich nicht zu schämen, Freund. Ich wünschte, ich hätte noch Tränen.

SACCO. Es muß doch schon spät sein, Vanzetti. Sie lassen heute lange das Licht brennen.

VANZETTI. Ja, merkwürdig. Um so besser. So können wir uns noch etwas beschäftigen.

Vanzetti schreibt weiter;

Sacco liest. Schritte.

Thompson und Musmanno werden eingelassen.

SACCO. Nanu! Jetzt noch, zu so später Nachtzeit! – Schweigen.

VANZETTI. Ah – ich verstehe.

THOMPSON. Uns fällt die schmerzliche Aufgabe zu, Ihnen mitzuteilen, daß Sie um zwölf Uhr sterben müssen.

SACCO. Das Ende. – Endlich!

MUSMANNO. Genossen, wir haben alles versucht – alles – Schlägt die Hände vors Gesicht.

VANZETTI. Wir wissen, was ihr für uns getan habt.

SACCO. Uns genügt, daß ihr wißt, daß wir unschuldig sind.

THOMPSON. Davon sind wir überzeugt. Sonst hätten wir den Kampf längst aufgegeben.

MUSMANNO. Alle elektrischen Stühle und Galgen der Welt werden der Welt die Überzeugung nicht nehmen, daß an euch ein grauenhafter Mord verübt wird.

VANZETTI. Wie erfuhren Sie es, Rechtsanwalt?

THOMPSON. Ich war mit McAnarney abends um zehn Uhr zum Gouverneur auf sein Landgut bestellt, und jetzt komme ich direkt mit dem Auto von dort her.

SACCO. Und du, Musmanno?

MUSMANNO. Ich wurde nicht mehr mit vorgelassen zu Fuller. Ich mußte im Flur warten, von 10 Augen bei jeder Bewegung beargwöhnt. Das Verteidigungskomitee wird nicht mehr anerkannt.

VANZETTI. Werdet ihr es auflösen?

MUSMANNO. Wie kannst du das denken? Für uns werdet ihr nie tot sein – und der Kampf für euch geht weiter – erst recht!

VANZETTI. Vielleicht werden wir im Tode dem Proletariat auch noch nützlich sein.

SACCO. Bei dem Gedanken stirbt sich's leicht. – Aber, Freund Thompson, erzählen Sie von Fuller. War er mit Ihnen so scheinheilig wie mit uns?

THOMPSON. O nein. Er erklärte schneidend und kalt, er habe sich entschieden, daß Sie und Madeiros hingerichtet werden. Dann zeigte er uns einen Brief des Generalstaatsanwalts, der ihm riet, keinen Aufschub mehr zu gewähren. Auch hätte er heute abend alle beteiligten Beamten, Richter und Staatsanwälte bei sich gesehen, und der Beschluß ist von denen einstimmig gebilligt worden.

VANZETTI. Der Gouverneur Fuller ist ein Mörder, ebenso wie Thayer und Katzmann, die gekauften Zeugen und alle, die an diesem Verbrechen teilhaben.

SACCO. Die Mitteilung, daß es aus ist, kann uns nicht mehr überraschen. Der Kapitalismus ist hart und erbarmungslos gegen die treuen Soldaten der Revolution. Sag den Genossen, Musmanno, daß wir stolz sind, so zu sterben und zu fallen, wie es Anarchisten zukommt.

MUSMANNO. Ich kann jetzt nichts erwidern – verzeiht mir. Ich will den Kameraden noch Grüße und Wünsche sagen. Und sorge dich nicht um deine Kinder. Ihnen wird nichts fehlen.

Er wendet sich ab.

SACCO. Danke, Freund.

THOMPSON. Von Ihren Nächsten haben Sie Abschied genommen?

VANZETTI. Es war wohl ein Abschied – aber wir sagten doch noch auf Wiedersehen!

Aufseher schließt auf.

AUFSEHER. Die beiden Frauen sind da. Sollen sie warten?

THOMPSON. Nein – wir gehen. Leben Sie wohl, seien Sie stark. Wir wissen, daß Sie unschuldig sterben.

VANZETTI. Dank für alle Mühe und Sorge für uns – leben Sie wohl.

SACCO. Sie waren unser guter Geist bei den Verhandlungen. Dank und alles Gute für Sie.

Thompson rasch ab.

Musmanno umarmt beide.

Leb wohl, Musmanno!

VANZETTI. Sag den Genossen, wir sterben gern, wenn es der Sache dient. Leb wohl.

Musmanno ab.

Rosa und Luigia werden eingelassen. Rosa umarmt Sacco, Luigia Vanzetti. Langes Schweigen.

Ja, gute Luigia, es ist soweit.

Luigia bemüht sich, etwas zu sagen, schluchzt.

Bricht in Tränen aus. Sieh nur, Sacco – jetzt weine ich auch.

SACCO. Rosa, meine Geliebte. Sei mutig, für die Kinder.

ROSA. Nicola, du sollst mich in dieser Stunde nicht schwach sehen. So wie ich dich liebe, hasse ich deine Mörder.

SACCO. Gut, daß du die Kinder nicht noch einmal hergebracht hast. Es wäre zu schwer gewesen.

ROSA. Wir waren bei Gouverneur Fuller und sind von da mit der Straßenbahn gekommen.

VANZETTI. Ihr wart noch bei Fuller?

LUIGIA. Wir haben für euch gebeten. Er schien ergriffen zu sein – aber es war alles vergeblich.

VANZETTI. Ergriffen! Mit dem geschwungenen Mörderbeil in der Hand spielen sie noch die Sanftmütigen!

SACCO. Laß uns jetzt nicht mit den Feinden rechten, Vanzetti. Die wenigen Minuten noch ganz unseren Lieben.

VANZETTI. Komm hierher, Luigia. Lassen wir Nicola und Rosa ohne Zeugen sprechen.

SACCO. Küsse unsere süße kleine Inès, Rosa, und unserem Sohn sage dies von seinem Vater; er soll es wie mein Testament hüten. Dante ist jetzt vierzehn Jahre alt, da muß er stark sein und seine Mutter zu trösten verstehen. Wenn du in trüben Gedanken bist, soll er dich hinausführen ins Freie, wie ich es sonst getan habe, soll mit dir Blumen pflücken, unter dem Schatten der Bäume ausruhen und Freude und Erholung in der Natur finden. Vor allem schärfe ihm ein, daß er nie allein an sein Glück denken darf, sondern daß er den Schwachen und Hilflosen beistehen und den Verfolgten helfen muß. Nur die Armen sind seine wahren Freunde, nur die Genossen, die bereit sind zu kämpfen und zu fallen, wie sein Vater und Bartolomeo gefallen sind im Kampf um Freude und Freiheit für das Proletariat. Wäre er nicht so jung, so hätte ich gewünscht, er sähe die Hinrichtung seines Vaters mit an. Es wäre eine schreckliche Erinnerung, aber er könnte sie morgen gebrauchen, um der Welt die Schande des Jahrhunderts vorzuwerfen, die sich in der Grausamkeit unseres ungerechten Todes offenbart. Später wird Dante begreifen, daß dies ein Kampf ist zwischen Reich und Arm, zwischen Gesetz und Freiheit. Ich sage ihm das aus dem Hause des Todes. Er möge dies Haus zertrümmern helfen mit den Hämmern des Sozialismus und der Anarchie und daran arbeiten, daß an die Stellen der Gefängnisse und Richtstätten Werkstätten freier Arbeit und Schulen der Wahrheit für Waisen und Unmündige errichtet werden.

ROSA. Ich will alles behalten, was du mir aufgetragen hast, und ich will deinen Kindern eine gute Mutter bleiben und sie in deinem Geiste erziehen, Nicola.

VANZETTI. Grüße den Vater, Luigia, grüße deine Kinder, Rosa. Dankt unseren Genossen für alles, was sie für uns getan haben. Daß wir sterben müssen, nimmt unserer Dankbarkeit nichts von ihrer Stärke. Aber sie müssen zusammenstehen, die Arbeiter, und, was auch komme, ein Herz und eine Seele sein. Wir sind nur zwei, die aus ihrer Mitte gerissen werden. Aber unsere Ideen, die revolutionären Ideen des Weltproletariats werden in Millionen Hirnen weiterleben. Sie können nicht besiegt und nicht zerstört werden. Mögen unsere Schmerzen, unsere Sorgen und auch unsere Fehler und Niederlagen, unsere ganze Leidensgeschichte Waffen werden für die künftigen Kämpfe und für die Befreiung der Menschheit. Sagt von uns allen Kameraden der Arbeit und des Kampfes ein letztes Lebewohl mit traurigem, aber von Liebe erfülltem Herzen. Sagt ihnen, wir bitten sie in dieser düstern Stunde nur um eines: Einigkeit! Grüßt sie und sie sollen Mut haben. Wir bleiben die ihrigen im Leben wie im Tode!

SACCO. Jetzt geht. Ihr sollt nicht mehr hier sein, wenn sie uns abführen. Lange Umarmung.

Beide Frauen ab. Sacco und Vanzetti gehen aufeinander zu und drücken sich die Hände.

AUFSEHER tritt ein. Der Direktor läßt fragen, ob wir Ihnen irgendwelche Wünsche erfüllen können.

VANZETTI. Danke, wir brauchen nichts.

AUFSEHER bleibt stehen. Ich – wir alle – möchten es Ihnen gern erleichtern.

SACCO. Wir wissen, Sie sind ein guter Mensch.

AUFSEHER. Meine Kollegen wollen hereinkommen, Abschied nehmen.

VANZETTI. Lassen Sie sie doch kommen.

Drei weitere Aufseher treten ein. Bleiben befangen und traurig stehen.

2. AUFSEHER. Wir haben erfahren – Sie haben den Tod nicht verdient, wir wissen es.

VANZETTI. Sie haben keine Schuld an dem, was uns geschieht.

1. AUFSEHER. Wir glauben alle, daß Sie unschuldig sind.

2. AUFSEHER. Wir lernen hier drinnen unterscheiden zwischen guten und schlechten Menschen.

SACCO. Auch wir haben unterscheiden gelernt in den sieben Jahren zwischen denen, die Menschen verleumden und ermorden um des Staates willen, und Menschen, die, wenn sie auch im Staatsdienst stehen, ihre Pflicht mit Erbarmen und Güte zu erfüllen suchen.

2. AUFSEHER. O ja, wir haben auch Aufseher in den amerikanischen Gefängnissen, die ohne Herz sind für die Gefangenen.

3. AUFSEHER. Aber Sie beide haben uns alle auf Ihrer Seite.

VANZETTI. Wir sind Ihnen dankbar für alle die kleinen Gefälligkeiten, die Sie uns erwiesen haben.

4. AUFSEHER. Menschen wie Sie! Wenn unsere Vorgesetzten solche Menschen wären!

3. AUFSEHER. Wenn wir Sie fliehen lassen könnten – wir täten es.

SACCO. Wir glauben es Ihnen. Auch ihr seid Unglückliche, auch ihr seid Ausgebeutete und Vergewaltigte.

1. AUFSEHER. Wir haben viel von Ihnen gelernt in der kurzen Zeit, die Sie hier waren, und wir werden Ihr Andenken in Liebe bewahren.

SACCO. Lehren Sie Ihre Kinder gute Menschen sein – und die Freiheit lieben.

VANZETTI. Seien Sie gewiß, daß wir ohne Groll gegen Sie sterben. Sie haben getan, was Sie konnten, um uns die letzten Tage zu erleichtern.

2. AUFSEHER geht auf sie zu, gibt ihnen die Hand. Ich hatte geglaubt, der Gerechtigkeit zu dienen in diesem Hause. Jetzt weiß ich es besser.

4. AUFSEHER. Ich verspreche es Ihnen, wir wollen von jetzt ab in allen Gefangenen nur noch Unglückliche sehen.

3. AUFSEHER. Und ihnen helfen.

SACCO. Wie hat Madeiros die Nachricht aufgenommen?

1. AUFSEHER. Er liegt nebenan in der Zelle und schläft. Wir sollen ihn erst wecken, wenn es soweit ist. Ich werde jetzt einmal hineinsehen. – Leben Sie wohl, glauben Sie uns, daß wir Sie bewundern und um Sie trauern.

Die Aufseher wischen sich die Augen. Sacco und Vanzetti drücken ihnen die Hand.

SACCO. Wir danken Ihnen für alles.

Die Aufseher ab.

VANZETTI. Sie haben kein frohes Leben mit ihrem Dienst. Es sind arme Menschen.

SACCO. Und gute Menschen. – Auch Madeiros tut mir leid.

VANZETTI. Ihn tröstet nicht einmal der Gedanke, für eine gute Sache zu sterben.

SACCO. Und doch glaube ich, ihm ist eine Ahnung aufgegangen, daß auch er nur ein Opfer des Kapitalismus ist.

VANZETTI. Wie er an uns gehandelt hat, das war eine gute Tat, das weiß er auch, und das gibt ihm die Befriedigung, die ihn vor dem Tode noch ruhig schlafen läßt.

SACCO. Sie lassen Madeiros mit uns zusammen hinrichten, um durch diese Geste den Zusammenhang unseres Todes mit dem Raubmord zu betonen.

VANZETTI. Ja – aber sie erreichen höchstens, daß vor den Augen des Weltproletariats ein gewöhnlicher Bandit mit uns für die Sache der Freiheit stirbt.

SACCO. Sein Tod heiligt sein Leben. Er gehört jetzt zu uns, und sein Name wird neben den unseren in der Geschichte der Märtyrer der revolutionären Bewegung fortleben.

VANZETTI. Wir sterben, ohne Blut vergossen zu haben. Aber wir wollen uns nicht erheben über die Armen, die der Kampf ums Dasein zu Verbrechern gemacht hat. Es gibt keine Klasse unter dem Proletariat.

SACCO. Wenn die Arbeiter das einmal begriffen haben werden, dann werden sie alle ins Heerlager der Revolution strömen, die die Not am tiefsten entwürdigt hat, die sogar an der Seele Schaden gelitten haben!

Pause.

VANZETTI. Mir ist ganz frei und wohl zumute.

SACCO. Mir auch, Vanzetti. Das Ende ist leicht, wenn auch der Abschied eben schwer war.

VANZETTI. Weißt du, wie lange sie uns auf das Ende haben warten lassen? Sieben Jahre, drei Monate und siebzehn Tage.

SACCO. Ich wünsche es nicht einmal unseren Quälgeistern, daß sie das durchmachen müßten. Sie sind alle nur die Vollstrecker eines schlechten Prinzips.

VANZETTI. Der Staatsräson.

Gefängnisdirektor Hendry tritt ein.

HENDRY stockend. Ich habe die Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Ihre Stunde gekommen ist.

Sacco und Vanzetti umarmen sich.

SACCO. Bruder!

VANZETTI. Bruder! Sie folgen wortlos dem Direktor.

Die Szene verdunkelt sich. Der hintere Vorhang geht auf. Im Hintergrund, etwas erhöht, im Halbdunkel der elektrische Stuhl. Daneben steht rechts und links je ein Henker. Die Bühne (vor dem Stuhl) bleibt einen Augenblick leer. Dann erscheinen Direktor Hendry, fünf Wärter, vier Ärzte, der Sheriff und ein

Journalist.

HENDRY. Sheriff, wollen Sie hier Aufstellung nehmen, die Ärzte hier, Sie sind der zugelassene Vertreter der Presse?

JOURNALIST. Ja.

HENDRY weist jedem seinen Platz an. So setzen Sie sich hierher. Zu den Wärtern. Sie werden jetzt die Delinquenten vorführen. Nachdem ich ihnen den Beschluß des Gouverneurs mitgeteilt haben werde, bringen Sie Sacco und Vanzetti in die getrennten Zellen nebenan zurück. Madeiros wird zuerst hingerichtet.

Wärter ab, kommen mit Sacco, Vanzetti und Madeiros zurück.

Sie, Nicola Sacco, Bartolomeo Vanzetti und Celestino Madeiros, sind durch rechtskräftigen Rechtsspruch zum Tode durch den elektrischen Stuhl verurteilt worden. Das Urteil ist vom Gouverneur des Staates Massachusetts bestätigt worden. Ich eröffne Ihnen, daß Sie jetzt Ihre Strafe empfangen sollen.

Ein Geistlicher tritt ein.

GEISTLICHER. Auf dem schweren Wege, den Sie zu gehen im Begriffe sind, will die Kirche Sie nicht ohne Beistand lassen.

VANZETTI. Geben Sie sich mit uns keine Mühe, guter Mann.

GEISTLICHER. Gott verzeiht auch den Sündern.

SACCO. Wir bedürfen Ihres Beistandes wirklich nicht.

GEISTLICHER zu Madeiros. Aber Sie, mein Sohn, wollen doch den kirchlichen Trost in dieser Stunde nicht von sich weisen.

MADEIROS apathisch. Lassen Sie mich in Frieden.

GEISTLICHER. Bedenken Sie doch – auch wenn Sie mit Ihrem Heiland zerfallen sind –

SACCO. Wir wünschen zu sterben, wie wir gelebt haben.

VANZETTI. Und wir haben unser Leben außerhalb der frommen Einrichtungen Ihrer Gesellschaftsordnung zugebracht.

GEISTLICHER. So sei Gott euern armen Seelen gnädig. Ab.

SHERIFF. Führen Sie die Verurteilten Sacco und Vanzetti in ihre Zellen. Madeiros bleibt hier.

Sacco und Vanzetti drücken Madeiros die Hand und werden abgeführt.

HENDRY. Scharfrichter, walten Sie Ihres Amtes!

Die Henker führen Madeiros auf den elektrischen Stuhl, stülpen ihm die Maske auf. Handbewegung des Direktors. Dunkelheit. Man hört die Maschine surren. Es wird Licht. Die Ärzte sind über Madeiros

Leiche gebeugt.

EIN ARZT. Er ist tot. Die Leiche wird beiseite getragen.

SHERIFF. Nicola Sacco!

SACCO erscheint in Begleitung der Wärter. Es lebe die Anarchie! Er geht auf den Stuhl zu. Während er angeschnallt wird. Leb wohl, mein Weib! Lebt wohl, meine Kinder! Und alle meine Freunde! Dunkelheit. Ich bin unschuldig! – Mutter! Man hört die Maschine surren. Licht. Ärzte über die Leiche gebeugt.

EIN ARZT. Er ist tot. Die Leiche wird beiseite getragen.

SHERIFF. Bartolomeo Vanzetti!

VANZETTI erscheint in Begleitung der Wärter, geht auf den Stuhl zu, schüttelt den beiden Henkern die Hand. Bleibt vor dem Stuhl stehen. Ich wiederhole hier im Angesicht des Todes: Ich bin unschuldig. Ich habe wohl manches Unrecht begangen, aber nie ein Verbrechen. Ich danke allen, die für uns gekämpft haben. Ich bin ein unschuldiger Mann, ebenso wie mein Schicksalsgenosse Sacco unschuldig war. Setzt sich auf den Stuhl. Dunkelheit. Ich verzeihe den Männern, die mir dies antaten. Man hört die Maschine surren. Licht. Ärzte stehen über die Leiche gebeugt.

EIN ARZT. Er ist tot. Die Leiche wird zu den an dern getragen.

HENDRY. Nach dem Gesetz erkläre ich euch für tot. Damit ist der Spruch des Gerichtes gesetzmäßig ausgeführt.

STIMMEN. Von außen Rache! Nieder der Staat! Es lebe die Revolution!

Vorhang.


*****************************************

15. Akt

Sacco und Vanzetti liegen aufgebahrt zwischen Blumen. Kinder senken rote und schwarze Fahnen über sie.

Chor von Männern, Frauen und Kindern.

Brüder, euer Name lebt
unsern Fahnen eingewebt
ewig unvergänglich.
Wenn die rote Freiheitsflamme loht,
soll ihr Glanz der Welt verkünden
euern Kampf und euern Tod.

Treue euerm kühnen Geist,
der den Weg der Zukunft weist.
Brüder, wir geloben:
Was euch leiden ließ der Mörder Staat,
jede Stunde eurer Qualen
sei ein Hebel unsrer Tat.

Kampf sei euer Dank und Lohn,
Kampf dem Staat, der Reaktion,
Kampf bis zu dem Tage,
da der Spuk der Macht in Staub zerrinnt,
wenn in jedem Land auf Erden
sich das Arbeitsvolk besinnt.

Brüder, die ihr für uns starbt,
euer Blut fließt unvernarbt,
bis die Massen siegen.
Klassenkampf und Solidarität
geben in die Hand des Volkes
Land, Fabrik und Feldgerät.

Eure Sehnsucht, eure Pein
soll uns Stern und Geißel sein,
Sacco und Vanzetti!
Euer Beispiel stirbt der Menschheit nie.
Freie Welt sei euer Denkmal,
Sozialismus, Anarchie!


Quelle: Erich Mühsam - Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978.

Originaltext: http://www.zeno.org/Literatur/M/M%C3%BChsam,+Erich/Dramen/Staatsr%C3%A4son.+Ein+Denkmal+f%C3%BCr+Sacco+und+Vanzetti


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email