Rudolf Rocker - Konterrevolutionäre Tätigkeit der russischen Anarchisten? (1921)
Wie sieht es (...) mit der angeblichen "konterrevolutionären" Tätigkeit der russischen Anarchisten aus? Es genügt, die Rolle der Anarchisten in der russischen Revolution nur etwas in Augenschein zu nehmen, um sich zu überzeugen, daß die von den Bolschewiki gegen sie erhobene Beschuldigung jeder wirklichen Grundlage entbehrt und nur auf böswillige Verleumdung aus politischen Gründen zurückzuführen ist.
Als die Revolution ausbrach, spielten die Anarchisten eine bedeutende Rolle und gehörten mit zu den aktivsten Elementen der allgemeinen revolutionären Bewegung. Sie verfügten damals über eine große Anzahl täglicher Zeitungen, und ihre Propaganda war tief in die Massen eingedrungen. In Kronstadt, Odessa, Jekatarinaburg und vielen anderen bedeutenden Städten hatten sie die ganzen Arbeitermassen hinter sich. Von den verschiedenen Richtungen waren die Kommunistischen Anarchisten und die Anarcho-Syndikalisten die einflußreichsten.
Die Anarchisten waren die ersten, die gegen die Provisorische Regierung Sturm liefen und zwar in einer Zeit, als Lenin und die Bolschewiki noch der Nationalversammlung das Wort redeten. Ebenso hatten sie das Motto: "Alle Macht den Räten!" schon auf ihre Fahne geschrieben, als die Bolschewiki überhaupt noch nicht wußten, welche Stellung sie einnehmen sollten.
Als der offene Kampf gegen die Regierung Kerenski einsetzte, waren die Anarchisten die ersten auf dem Plan, um die Massen in Bewegung zu setzen. Noch ehe der Aufstand in Moskau und Petrograd ausbrach, hatten sich die anarchistischen Arbeiterin Jekaterinaburg bereits erhoben. Aber auch in Moskau und Petrograd standen sie mit an der Spitze der Bewegung. Es war der Anarchist Anatol Gregorewitsch Zelesniakow, der an der Spitze der Kronstädter Matrosen in das Parlament eindrang und die Deputierten nach Hause schickte. (…)
Es ist eine unumstößliche historische Tatsache, daß ohne die tatkräftige Hilfe der Anarchisten die Bolschewiki niemals ans Ruder gekommen wären. Sie kämpften überall an den gefährlichsten Orten. So nahmen sie in Moskau, wo die Weißen Garden sich mit den Mörderbanden der "Schwarzen Hundert" verbunden und im Hotel Metropol verschanzt hatten, dieses Bollwerk im Sturm nach einem blutigen Kampfe, der drei volle Tage währte. (…)
Dies alles geschah in einer Zeit, als die Bolschewiki mit der nächsten Zukunft noch nicht sicher waren, als noch von allen Seiten Gefahren drohten und die gegenrevolutionären Elemente sich in allen Winkeln des Landes ans Werk machten. (...) Jene Spanne Zeit war für die Bolschewiki äußerst kritisch. Doch die Anarchisten erwiesen sich ihnen als eine gute Stütze, und die Bolschewiki zögerten nicht, von dieser Kraft Gebrauch zu machen, solange sie sich selbst in Gefahr befanden. (…)
Als die Gefahren überwunden waren, begannen die Bolschewiki mit mißtrauischen Augen auf die anarchistischen Organisationen zu blicken. Sie sahen in ihnen gefährliche Feinde, gefährlicher noch als die Konterrevolutionäre, denn die Anarchisten gewannen täglich mehr Fuß unter den Bauern und Arbeitern und organisierten überall gewerkschaftliche Verbände und Dorfgemeinden in ihrem Sinne. Allein die bolschewistische Regierung wagte es zunächst nicht, gegen sie vorzugehen, da sie noch immer auf sehr unsicheren Füßen stand. Doch begann bereits in der bolschewistischen Presse ein versteckter Kampf gegen die Anarchisten.
Nach dem Waffenstillstand mit den Deutschen machte sich das Elend unter den Massen sehr stark bemerkbar. Doch die sogenannten Volkskommissare wußten dem Übel nicht anders zu begegnen, als daß sie Dekrete über Dekrete veröffentlichten, die natürlich keinerlei Wirkung auslösen konnten. Die Anarchisten, ebenso wie alle anderen ernsten Revolutionäre, die nun einsehen mußten, wohin das Treiben der Bolschewiki führte, konnten natürlich nicht gleichgültig bleiben, angesichts des allgemeinen Ruins, der das Land und die ganze Bevölkerung bedrohte. Zusammen mit den linksstehenden Sozialisten-Revolutionären fingen sie an, auf das Treiben der Bolschewiki zu reagieren. Ihr erstes Werk war, Volksküchen und Heimstätten für die hungernde und obdachlose Bevölkerung zu schaffen. Vor allem aber versuchten sie, die Arbeiter der Städte und Dörfer gewerkschaftlich zusammenzufassen und kommunistische Dorfgemeinden ins Leben zu rufen.
Graf von Mirbach, der Vertreter der deutschen Regierung in Moskau, gab Lenin zu verstehen, daß ein Staat, der etwas auf sich halte, das Treiben solcher Leute wie die Anarchisten unmöglich tolerieren dürfe. Dies gab Lenin den Vorwand, gegen die Anarchisten vorzugehen. Er befahl, die Lokale der Anarchisten mit Gewalt zu nehmen und zu besetzen. In der Nacht vom 14. Mai 1918 umzingelte man alle Häuser, wo die Anarchisten zusammenzukommen pflegten. Man fuhr Kanonen und Maschinengewehre auf und setzte sie in Aktion. Das Bombardement dauerte die ganze Nacht und die Schlacht war so heftig, daß man glaubte, eine fremde Armee versuche, die Stadt zu nehmen. Am anderen Morgen boten die Stadtviertel, in denen der Kampf gewütet hatte, einen grauenhaften Anblick. Die Häuser waren zur Hälfte in Trümmer geschossen. Zwischen zertrümmerten Möbeln und eingestürzten Mauern, in den Höfen und auf dem Pflaster lagen die Leichen herum. Überall sah man blutige Stücke zerfetzten Menschenfleisches herumliegen, Köpfe, Arme, Gedärme, Ohren. Das Blut floß in den Straßenrinnen. Die bolschewistische Regierung hatte triumphiert. Bela Kun, der spätere Diktator Ungarns, der das Blutbad leitete, blieb Sieger.
Aus: Rudolf Rocker. Der Bankerott des russischen Staatskommunismus, Anarsch-Verlag, Berlin 1968, S. 13-16
Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at