Bernd Kramer - Einleitung zu Leben - Idee - Kampf. Louise Michel und die Pariser Kommune

Im Gegensatz zur Ignoranz der herrschenden Geschichtsschreibung gegenüber den Kämpfen der Frauen in unzähligen Rebellionen und Revolutionen, ist es Max Nettlau, Historiker und Chronist der anarchistischen und anarchosyndikalistischen Bewegungen, der Louise Michel zumindest erwähnt ; er zitiert aus ihren Mémoires, La Commune und bringt Auszüge aus einem Brief von Louise Michel, die auf die Frage Nettlaus, ob sie und ihre Mitkämpfer um 1870 Kontakt zu Michael Bakunin gehabt hätten, schreibt: "... die Zeit fehlte, man lebte wie in einem Glutofen, wie am Vorabend des Kampfes. Man wußte eher mündlich von Bakunin und Herzen. Alle, die ein menschliches Herz hatten, waren an jenen Tagen aufrecht. Man begriff die Notwendigkeit, daß die Welt gegen all das war, was Bakunin so erbitterte [...], er hatte gefühlt, daß, wenn die Revolution den Staat nicht abschafft, man immer wieder von vorne beginnen müsse..." Und im III. Band der Geschichte der Anarchie charakterisiert Max Nettlau Louise Michel: "Soviel ich sie zu beurteilen versuche, verstand sie alles, konnte aber auch über alles hinwegsehen, was Personen und ihren Wert und öffentliche Angelegenheiten und das meiste andere betrifft. Das Unfaßbare, in allen Wolken schweifende ihrer meisten Reden und Schriften war vielleicht nur eine Rettung in die Phantasie und das Sentiment vor dem zu bitteren und traurigen Tatsächlichen, das sie scharfsinnig sah, auch bei ihren Genossen, und dem sie entgehen wollte. [...] Sie sah all die Männer der Commune, die vom besten Willen beseelt waren, als Regierung so unfähig wie jede Regierung und schloß, daß die alten Einrichtungen ein Ganzes bilden, das ganz fallen muß, wenn eine neue Zukunft erblühen soll. Sie sah die Sterne des Weltalls ihre eigenen Bahnen gehen und den natürlichen Anziehungskräften folgen und daß einen solchen natürlichen Zustand für die Menschheit nur die Anarchie anstrebt und alle autoritären Mächte ihn verweigern." Außer weiteren Details, die mehr auf eine lückenlose Chronologie des Lebens von Louise Michel angelegt sind, erfahren wir von Max Nettlau aber nichts über sie, über ihr Denken und Handeln. Er umgeht, "vergißt" die Taten und Bemühungen der Frauenclubs, gibt keine Auskunft über deren Wirken und Ziele.

Michael Bakunin verwandte den Begriff politischer Revolutionär und meinte damit all jene, die nach der Revolution die Leidenschaften und Emotionen ins ordentliche politische Leben kanalisieren wollen, jene, die die Widersprüche und Unvollkommenheiten als störend und schädlich für Gleichmaß und maßvolle Kontinuität ansahen. Um so erstaunter war ich, als ich die verschiedenen Schriften Bakunins zur Pariser Kommune nochmals las. Sicher, seine Einschätzungen und Schlußfolgerungen weichen von den vorherrschenden Interpretationen ab, aber nirgends geht Bakunin – ähnlich wie Nettlau – ausführlicher auf die Aktivitäten der Frauen ein. In seinem Aufsatz Die Commune von Paris und der Staatsbegriff ruft und beteuert er: "Ich bin ein leidenschaftlicher Liebhaber der Freiheit, die ich für das einzige Milieu halte, in welchem die Intelligenz, die Würde des Menschen und das Glück der Menschen sich entwickeln und wachsen können..." Die Menschen, das sind Frauen und Männer, das sind ALLE, die gegen Unterdrückung und Beherrschung kämpfen. Für uns heute ist diese Aussage Bakunins mehr oder minder eine politische Absichtserklärung; denn die Spannungen und Probleme, die zum Beispiel in dem kurzen Artikel Der doppelte Kampf der Frauen angesprochen werden, finden bei ihm keinen Niederschlag.

Auch Peter Kropotkin berichtet über die Pariser Kommunardinnen nichts ; er spricht vom Volk, von den Massen, vom revolutionären Proletariat.

Lavrov erwähnt Louise Michel in seiner Schrift Die Pariser Kommune vom 18. März 1871 und meint, Louise Michel sei "eine der lautersten und anziehendsten Persönlichkeiten..." der revolutionären 72 Tage gewesen. Mehr berichtet er uns nicht, und die L´Union des Femmes scheint für ihn unbedeutend und nicht erwähnenswert gewesen zu sein.

Von den Libertären, die die Pariser Kommune beschrieben, analysiert und den Versuch unternommen haben, die vielfältigen politischen, kulturellen und sozialen Impulse herauszufinden und darzustellen, ist Heinrich Koechlin zu nennen. In seinem Buch Die Pariser Commune von 1871 im Bewußtsein ihrer Anhänger, beschreibt er Louise Michel als "... eine originelle und anziehende Persönlichkeit" und stellt fest – auf die beiden Bücher von Louise Michel verweisend: "Beiden Werken fehlt jede logische und chronologische Komposition. [...] An die Schilderungen auf den Vorwerken von Paris schließen sich Schilderungen der Naturschönheiten Neukaledoniens oder Erzählungen von den persönlichen Schicksalen von Menschen aus ihrem Bekanntenkreis; oft schweift die Verfasserin ab auf das Gebiet der Botanik oder der Zoologie. [...] Als einen Kampf um das Leben faßt Louise Michel auch die Commune auf. Der Schauplatz ihrer Erzählungen ist nicht das Rathaus mit seinen Phrasen, Intrigen und Spaltungen, sondern der Außenposten, die Barrikade, die Orte des Heroismus und der aufopfernden Solidarität, an denen, wie sie glaubt, die Kleinigkeiten des Lebens verschwinden. Doch fehlt es in den Büchern, deren Verfasserin durch das Erlebnis der Revolution aus einer Patriotin zur Internationalistin, aus einer Kämpferin für die republikanische Regierungsform zur Anarchistin geworden war, nicht an scharfer Kritik der revolutionären Konzeption der Communezeit." – [...] "Oft geht sie in Männerkleidern in Versammlungen, zu denen der Zutritt den Frauen versagt ist. Ihr unbändiger Freiheitswille, ihre Verachtung aller Knechtschaft, ihr Hass gegen alle moralische und physische Unterdrückung lässt die Revolutionärin selbst vor den Mitteln des Terrors nicht zurückschrecken."

Noch eine Schrift zur Pariser Kommune verdient erwähnt zu werden, weil hier Louise Michel und ihre Freundinnen und Mitkämpferinnen – zumindest auf einigen Seiten – Beachtung finden.

Jean Villain läßt einen Korrespondenten zu Wort kommen, der über "eine der größten Frauengestalten der Kommune" schreibt: "Unsere Freundin Louise Michel von der Gesellschaft zur Erkämpfung der Frauenrechte steht wohl schon seit einem Monat in Neuilly. Sie ist ein Mensch von einer Einfachheit, Sanftmut, Bescheidenheit und Selbstverleugnung, die sich so manch ein Parteigänger des Vereins der Nacheiferer Christi zum Vorbild nehmen könnte. Hinter ihrer Demut freilich verbirgt sich ein unbezwingbarer Wille – sie ist eine Löwin im Schafspelz. Früher, als sie nichts anderes als ihre Studien im Kopf hatte und sich sonst kaum die kleinste Kleinigkeit gönnte, wirkte sie traurig und melancholisch. Jetzt dagegen, seit sie alle möglichen Strapazen auf sich nimmt, [...] seitdem sie hundertmal in vierundzwanzig Stunden ihr Leben aufs Spiel setzt, wird sie von Tag zu Tag schöner, charmanter und fröhlicher. [...] Wir waren während mehrerer Momente in ihrer Nähe, ohne mehr als ein vages Gefühl des Wohlwollens für sie zu empfinden. Wir hatten sie verkannt, wie sie sich selbst verkannt hatte; jetzt erst, inmitten großer Ereignisse, zeigt sich, wie groß sie ist."

Alle anderen Schriften über die Pariser Kommune widmen weder Louise Michel im Besonderen noch den Frauenclubs im Allgemeinen die wünschenswerte Aufmerksamkeit.

Louise Michel - ein Mann-Weib!? oder Die edle Jungfrau!?

Fand ich in der Geschichtsschreibung wenig Material über Louise Michel und über die Pariser Kommunardinnen, so sind die Charakterisierungen Michels noch spärlicher. Die einen sehen in ihr die heroische, verzichtübende Jungfrau, die anderen glorifizieren sie zur männlichen Revolutionärin mit Kampf- und Schaffenskraft. Typisch ist die Erklärung eines Korrespondenten der Zeitung Le Droit: "Paris verdankt seine aufrechte männliche Haltung seinen Frauen..."

Karl Freiherr von Levetzow stellt sich die Frage: "Ist es ein Mann? ein Weib?: Nebel; vielleicht beides! Vielleicht muß er beides sein; denn es ist ein Mensch, ein ganzer Mensch, ein Repräsentant-Mensch, und vielleicht muß ein solcher von allem an sich haben. Ein solcher Nebel lag auch über unserer Zeit, denn sie war eine Werde-Zeit. Er liegt noch; nur langsam beginnen sich einige Schleier zu heben; denn noch ist erst so weniges geworden von dem, was werden muß... Und eine solche Gestalt ist auch Louise Michel. Eine problematische, seltsam schillernde Gestalt – im Nebel, wie ein Rätsel. Die Frage drängt auch hier sich auf die Lippen: Ist es ein Mann, ist es ein Weib? Und wieder wird die Antwort des Verständigen lauten: vielleicht beides zugleich – und vielleicht mußte sie beides zugleich sein, von beidem an sich haben, um gerade ein solcher Mensch zu ein, wie sie war."

Wo immer wir auf eine Charakterisierung stoßen, der Vergleich mit männlichen Attributen scheint unumgänglich. Unbedingt erwähnenswert, weil hier in krassester und dümmster Betrachtungsweise eine Beurteilung vorgenommen wird, die alle männliche Arroganz repräsentiert, ist Theophil Zolling: "Die hohe, nervige, überschlanke Gestalt, mit dem großen, energischen Kopfe will nicht zum Frauengewande passen. Die platte Brust scheint des Mieders zu spotten, welches die grobe Taille nicht im geringsten zusammenschnürt. Das Kleid aus schwarzem Kaschmir ist zu eng für ihren weit ausgreifenden Schritt, und die doppelsohligen Schuhe sind zu bequem für den beinahe feinen Fuß. In ihrem Angesichte erinnern höchstens die verschnittenen Locken, welche, in der Mitte gescheitelt und hinter die Ohren gestrichen, in ziemlich dichten, bereits ins Graue spielenden Ringeln rückwärts auf das schwarze Halstuch fallen, und etwa das kleine, charakterlose Kinn (??) an ihr Geschlecht. Starke Backenknochen begrenzen den breitgeschlitzten Mund, dessen dicke, blasse, aufgesprungene Lippen keineswegs zum Kusse einladen, und verdecken die kleinen, eisigen Augen, die hinter buschigen Brauen lauern. Unter der kräftig und nicht unedel geschnittenen Nase schattiert sich ein Schnurrbärtchen, das den Neid eines Gymnasiasten erwecken würde. [...] Das Gesamtbild dieser Züge ist vulgär, trotzig, abstoßend, hart, mumienhaft, wird aber vermenschlicht durch den Ausdruck physischen und psychischen Leidens, der darüber ausgegossen ist, und den Strahl der Begeisterung, welcher im Affekt in den grauen Augen phosphoresziert und das sonnenverbrannte, vorzeitig gealterte Antlitz verklärt. Man sieht, daß man vor einer Intelligenz, einem Willen und einer Überzeugung steht, die bis zur Schwärmerei und zum Verbrechen gehen kann."

In einem Artikel über den ersten Prozeß gegen Louise Michel in der Gazette des tribunaux (16. Dezember 1871) lesen wir: "... Louise Michel ist sechsunddreißig Jahre alt, klein, brünett und hat eine stark ausgeprägte, plötzlich fliehende Stirn; die Nase und der untere Teil des Gesichtes treten stark hervor; ihre Züge zeigen eine außergewöhnliche Härte..."

Entfernen wir uns von diesen steckbriefartigen, physiologisch-pathologischen Niederträchtigkeiten.

Rudolf Rocker: "Diese außergewöhnliche Frau, deren Bild in der reaktionären Presse häufig bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wurde und die in der ganzen Welt als Petroleuse verschrien war, war in Wirklichkeit ein Mensch von unbeschreiblicher Herzensgüte und Reinheit und Gesinnung. [...] Als sie im Dezember 1871 vor dem Blutgericht in Versailles erschien, schleuderte sie mit unermüdlichem Mute den Richtern die Worte ins Gesicht: ´Da es scheint, daß jedes Herz, das für die Freiheit schlägt, nur Anrecht auf ein Stückchen Blei besitzt, so fordere ich meinen Teil. Wenn sie mich leben lassen, werde ich nie aufhören, nach Rache zu schreien und die feigen Mörder meiner Brüder an den Pranger zu stellen!´ [...] Sie war nun Anarchistin, denn in den langen Jahren der Gefangenschaft hatte sie genug Gelegenheit, über die unvermeidlichen Folgen politischer Machtbestrebungen nachzudenken. ´Ich erkannte, daß jede wie immer geartete Macht sich zu einem Fluche auswirken mußte, deshalb bekenne ich mich zum Anarchismus.´"

Das Lexikon linker Leitfiguren erwähnt Louise Michel nicht. – Aber in Sie waren die ersten. Frauen in der Arbeiterbewegung lesen wir: "Sie wird nicht müde zu wiederholen: ´Ja, ich barbarisches Geschöpf liebe den Kanonendonner, den Pulvergeruch, die Kartätschenschüsse in der Luft, aber leidenschaftlich verliebt bin ich vor allem in die Revolution.´ [...]

An Victor Hugo schickte sie das Poem Schwarze Marseillaise:

Hört ihr den Donner der Kanonen?
Zurück, wer wankt!
Morgen wird der Feigling verraten!
Auf die Berge, auf die Klippen voran!
Voran! Wir säen der Freiheit Samen.
Der Gewittersturm trägt uns fort,
Gehen wir, lebendige Marseillaise.
Gehen wir, gegen wir weit über die Meere, durch die dunklen Täler.
Gehen wir, gehen wir; es falle das reife Korn in die Furchen.

[...] ´Ich weiß nicht, wo der Kampf zwischen der alten und neuen Gesellschaft stattfinden wird, das ist unwichtig, aber ich werde dabeisein.´"

Und sie fand ihren Platz und war dabei: "Als in der letzten Maiwoche Regierungstruppen den Angriff auf die Hauptstadt beginnen, kommandiert die ´rote Jungfrau´ ein Frauenbataillon; unerschrocken wie je, weiß sie sich einer Waffe zu bedienen. Das Amtsblatt der Kommune rühmt ihre Truppe, die vier Stunden unter feindlichem Feuer ihre Barrikade verteidigt habe, ´bis Verstärkung kam, mehrere Frauen wurden schwer verletzt´. Auch inmitten der Trümmer, als die Armee Straße um Straße Paris erobert, kennt die Kämpferin kein Nachgeben: ´Wir glaubten an den Sieg.´ "

In Frauen Literatur Geschichte wird aus der Kämpferin eine Schriftstellerin: "Zur Zeit der Commune schrieb Louise Michel Texte und komponierte Melodien, die in den ´iedschatz´ der Arbeiterbewegung eingegangen sind. Sie aktualisierte noch einmal die politische Romantik der ersten Stunde. [...] Ihr enthusiastisches Engagement für die Revolution bewahrt sie jedoch gegen jede Form des bürgerlich-sozialen Mitleids. Im Gefängnis oder in der Verbannung entstanden, appellieren die Gedichte an die Solidarität der Besiegten und Unterdrückten, denen sie immer wieder ins Gedächtnis ruft: Nie Dieux ni Maîtres!

Einleitung aus Bernd Kramer (Hg.): Leben - Ideen - Kampf. Louise Michel und die Pariser Kommune von 1871, Karin Kramer Verlag

Originaltext: http://www.karin-kramer-verlag.de/lp/263-6-lp.html#ein


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