Peter Kropotkin - Die Pariser Kommune
I.
Am 18. März 1871 erhob sich das Volk von Paris gegen eine allgemein verachtete und verabscheute Regierung und erklärte Paris für eine unabhängige, freie, sich selbst verwaltende Stadt. (1)
Dieser Umsturz der zentralistischen Staatsmacht vollzog sich ohne die bei einer Revolution gewöhnlichen Erscheinungen, ohne Flintenschüsse und Ströme von Blut, die auf den Barrikaden vergossen werden. Die Gewalthaber flüchteten vor dem bewaffnet in den Straßen erschienenen Volke, die Truppen räumten die Stadt, die Beamten machten sich in aller Eile auf den Weg nach Versailles, indem sie zugleich alles mitschleppten, was sie nur forttragen konnten. Die Regierung verschwand wie eine Pfütze stinkenden, faulen Wassers beim Wehen des Frühlingswindes, und am Morgen des 19. März fand sich Paris von dem Schmutze befreit, der die große Stadt verpestet hatte.
Dergestalt eröffnete diese Revolution einen neuen Abschnitt in der Reihenfolge der Umwälzungen, durch welchen die Völker ihren Weg von der Sklaverei zur Freiheit bahnen. Mit dem Worte "Pariser Kommune" wurde eine neue Idee geboren, eine Idee, die dazu berufen war, die Ausgangsbasis zukünftiger Revolutionen zu werden.
Wie es stets bei großen Ideen der Fall ist, so war auch diese nicht das Resultat des Nachdenkens irgendeines Philosophen, eines einzelnen Individuums, sondern sie wurde von der allgemeinen Zeitrichtung geboren, sie ging aus dem Herzen des ganzen Volkes hervor. Aber sie war anfangs verschwommen, und selbst unter denen, die sie in Wirklichkeit umsetzten und ihr Leben für sie hingaben, war sie im Beginn nicht in der Klarheit vertreten, in welcher wir sie heute auffassen. Jene Kämpfer waren sich selbst nicht klar, weder über das Wesen der Revolution, die sie ins Werk setzten, noch über die Fruchtbarkeit des neuen Prinzips, welches sie zu realisieren suchten. Erst seit jenem praktischen Versuche kam man dazu, die künftige Ausdehnung des Begriffs zu übersehen, und erst durch die Arbeit der Gedanken, welche seit jener Zeit vor sich ging, wurde das neue Prinzip mehr und mehr geklärt und genau formuliert, so daß es in seiner ganzen Schärfe, Schönheit und Gerechtigkeit erschien und die ganze Wichtigkeit seiner Konsequenzen überschauen ließ.
Seitdem der Sozialismus in den fünf oder sechs Jahren vor der Kommune einen neuen Schwung bekommen hatte, beschäftigte vor allem eine Frage die Propagandisten der nächsten sozialen Revolution. Es war die Frage, in welcher Weise die politischen Verbände der Gesellschaft am besten der großen wirtschaftlichen Umwälzung anzupassen seien, welche in Folge der modernen Entwicklung in der Industrie unserer Generation bevorsteht; und weiter, wer die Abschaffung des Privateigentums vollziehen und an dessen Stelle den Gemeinbesitz des ganzen, uns von unseren Vorfahren überkommenen gesellschaftlichen Reichtums setzen solle.
Die Internationale Arbeiter-Assoziation beantwortete diese Frage. Die Vereinigung, sagte sie, darf sich nicht auf eine Nation allein beschränken, sie muß sich über die künstlich gezogenen Grenzen hinausarbeiten. Und bald drang dieser Gedanke in die Herzen der Völker ein und machte sich die Geister zu eigen. Seitdem hat die Internationale trotz aller Verfolgungen der vereinigten Reaktionsmeute gelebt, und wenn eines Tages die Hindernisse, die man ihr in den Weg gelegt hat, durch die Völker beseitigt worden sind, so wird sie stärker als jemals aufs neue in die Erscheinung treten.
Welches sind nun die Bestandteile, die wir heute noch von dieser großen Vereinigung vorfinden? Zwei mächtige Ideenströmungen antworten auf diese Frage, die eine nennt sich Herrschaft durch das Volk, Volksstaat, die andere Anarchie.
Nach der Ansicht der deutschen Sozialisten muß der Staat von dem gesamten gesellschaftlichen Reichtum Besitz ergreifen und ihn unter die Arbeiter-Assoziationen verteilen, er muß die Produktion und den Austausch in die Hand nehmen und über die persönliche Sicherheit wie über die Existenzbedingungen der Gesellschaft wachen.
Dagegen behaupten die Sozialisten der romanischen Länder auf Grund ihrer Erfahrung, daß ein solcher Staat, ganz abgesehen davon, daß sein Bestehen überhaupt unmöglich sei, die schlimmste Tyrannei sein würde, und sie stellen dem Ideal, das der Vergangenheit entnommen ist, ein neues gegenüber: die Anarchie. Dieses Wort bedeutet die vollständige Abschaffung der Staaten und die Ersetzung derselben durch die freien Vereinigungen der Volkskräfte, der Produzenten und Konsumenten.
Selbst einige Etatisten, Anhänger der Staatsidee, die weniger von Herrschafts-Vorurteilen beeinflußt waren, gestanden zu, daß die Anarchie eine idealere Organisation darstelle als diejenige, welche durch den Volksstaat zu erreichen sei. Aber, fahren sie fort, die Möglichkeit, das anarchistische Ideal zu verwirklichen, liegt in so weiter Ferne, daß es sinnlos ist, sich schon heute damit zu beschäftigen.
Andererseits aber fehlt es der anarchistischen Theorie an einer greifbaren und zugleich einfachen Form, um ihren Ausgangspunkt festzulegen, um ihrem Gedankenreichtum Gestalt verleihen zu können, und um zu zeigen, daß sich diese Gedanken auf eine im Volke bereits existierende Bewegung stützen. Die Organisation von Produktions- und Konsumgenossenschaften, die sich über die vorgezeichneten Grenzen hinaus verbrüdern und sich außerhalb des bestehenden Staates stellen, erschien noch zu unbestimmt, zu wenig mit den tatsächlichen Verhältnissen übereinstimmend; zugleich war es sehr leicht einzusehen, daß eine solche Organisation unmöglich die Vielfältigkeit menschlicher Beziehungen in sich begreifen könne. Es mußte daher eine Form geschaffen werden, die klarer, abgerundeter und einleuchtender war, die aber auch ihre wichtigsten Elemente aus der Tatsächlichkeit des Vorhandenen gewinnt.
Natürlich, wenn es sich um nichts anderes gehandelt hätte als darum, eine Theorie auszuhecken, fürwahr, wir hätten gesagt: Bloße Theorien haben nur geringen Wert. Aber solange eine neue Idee nicht ihren klaren Ausdruck gefunden hat, bestimmt umschrieben und mit dem Bestehenden rechnend, kann sie sich nicht der Geister bemächtigen oder gar dieselben zu einem Entscheidungskampfe anfeuern. Das Volk wirft sich nicht ins Unbekannte, ohne sich auf eine bestimmte und klar formulierte Idee stützen zu können, die ihm, sozusagen, an seinem Ausgangspunkte als Sprungbrett dient.
Und dieser Ausgangspunkt wird uns vom Leben selbst gewiesen.
Fünf Monate lang war Paris durch die Belagerung seitens der deutschen Armee von der Außenwelt abgeschnitten, einzig auf sich selbst angewiesen, und seine Bevölkerung hatte erkennen gelernt, über welche ökonomischen, moralischen und geistigen Hilfsquellen sie verfügen konnte: ja, das Volk hatte seine Macht klar erkannt und üben gelernt. Gleichzeitig war es aber auch zur Einsicht gekommen, daß die Horde blöder Schwätzer, die sich die Macht anmaßte, nichts ins Werk zu setzen imstande war, weder die Verteidigung Frankreichs noch die Förderung der inneren Entwicklung. Das Volk sah, wie die Regierung sich allem, was durch die Intelligenz einer großen Stadt hätte zur Blüte gebracht werden können, entgegenstellte. Es hatte noch wichtigeres eingesehen: es erkannte die Ohnmacht und Unfähigkeit jeglicher Regierung, ein großes Unglück abzuwehren und die Entwicklung zu fördern. Es hatte während der Belagerung unter den entsetzlichsten Zuständen gelitten, unter dem Elend der Arbeiter und Verteidiger der Stadt, die einem protzenhaften Luxus gegenüberstanden, und dank der Regierung mußte es alle Versuche, diesem schändlichen Regimente ein Ende zu machen, fehlschlagen sehen. Sooft das Volk im Begriffe war, einer freiheitlichen Bewegung zu folgen, legte ihm die Regierung Fesseln auf, und so wurde ganz von selbst die Idee laut, Paris als unabhängige Kommune zu konstituieren und innerhalb seiner Mauern nur das ins Werk zu setzen, was der Volksgeist diktierte.
So schwebte das Wort "Kommune" auf aller Lippen.
Die Kommune von 1871 konnte nichts anderes sein als ein erster schwacher Versuch: Entstanden am Ausgange eines Krieges, bedroht von zwei Armeen, die bereit waren, sich zu verbinden, um das Volk zu unterjochen, wagte sie nicht, sich vollständig auf das ökonomische Gebiet zu werfen. Sie erklärte sich nicht als sozialistisch und schritt weder zur Expropriation des Kapitals noch zur Organisation der Arbeit, ja auch nicht einmal zur gründlichen Untersuchung der Hilfsquellen der Stadt. Sie brach nicht einmal mit der Tradition des Staates oder der Repräsentativ-Regierung und versuchte nicht, diese Organisation der Einfachheit im großen zu verwirklichen, die sie damit versprach, daß sie die völlige Unabhängigkeit und das freie Zusammenwirken der einzelnen Kommunen verkündete.
Aber es ist gewiß, daß die Kommune von Paris, wenn sie einige Monate länger gelebt hätte, sich naturnotwendig, durch die Gewalt der Verhältnisse, diesen Zielen zugewendet hätte. Vergessen wir nicht, daß die Bourgeoisie volle vier Jahrzehnte fortdauernder Revolutionen gebrauchte, um aus einer gemäßigten Monarchie in eine bürgerliche Republik zu gelangen, und wir können nicht erstaunt sein darüber, daß das Volk von Paris nicht mit einem Sprunge jenen Zeitraum durchmessen konnte, der die anarchistische Kommune von der der Staatsbanditen trennt. Aber wir wissen auch, daß die nächste Revolution in Frankreich, die in Frankreich und ebenso bestimmt in Spanien rein kommunistisch sein wird, das Werk der Kommune von Paris wieder dort aufnehmen wird, wo es durch die meuchlerischen Überfälle der Versailler abgebrochen wurde.
Die Kommune unterlag, und die Bourgeoisie rächte sich - wir wissen wie - für die Furcht, die das Volk ihr eingeflößt hatte, indem es das Joch der Regierenden abschüttelte. Sie bewies deutlich, daß die moderne Gesellschaft sich in zwei Klassen teilt: auf der einen Seite der Arbeiter, der dem Unternehmer mehr als die Hälfte seiner Produkte geben muß und der sich trotz alledem noch viel zu leicht über die Verbrechen seines Arbeitgebers hinwegsetzt; auf der anderen Seite der Faulenzer, der Schmarotzer, von den tierischen Instinkten geleitet, der seine Sklaven haßt und bereit ist, sie zu zerfleischen wie ein Beutetier.
Nachdem diese letztere Klasse das Volk von Paris eingeschlossen und jeden Ausgang verrammelt hatte, ließ sie die durch das Kasernenleben und reichlichen Weingenuß vertierten Soldaten aufziehen und sagte ihnen: "Tötet diese Wölfe samt ihren Wölfinnen und ihrer jungen Brut!" Und zum Volke sagten sie: "Was immer Ihr auch tut, Ihr müßt sterben! Wenn Ihr die Waffen in die Hände nehmt - Ihr müßt sterben! Wenn Ihr uns die Waffen abliefert - Ihr müßt sterben! Ob Ihr dreinschlagt oder um Gnade fleht - Ihr müßt sterben! Nach welcher Seite Ihr blicken mögt, nach rechts oder links, nach vorne oder hinten, in die Höhe oder zur Erde - Ihr müßt sterben! Ihr steht nicht nur außerhalb aller Gesetze, sondern auch außerhalb der Menschlichkeit, und weder Alter noch Geschlecht werden Euch retten, weder Euch noch die Eurigen - Ihr müßt sterben! Aber vorher müßt Ihr noch den Vorgeschmack davon bekommen, indem Ihr Eure Weiber, Schwestern, Mütter, Eure Töchter und Söhne, selbst die in der Wiege dahinsterben seht. Man wird hingehen und die Verwundeten aus dem Lazarett holen, um sie vor Euren Augen mit dem Bajonette in Stücke zu zerhacken und mit dem Gewehrkolben in Stücke zu zerstampfen. Dann wird man sie, noch lebend, am zersplitterten Beine oder am blutenden Arme hervorziehen und in den Straßengraben werfen, wie blutigen Kehricht. - Ihr müßt sterben, sterben, sterben!" (2)
Wird das Volk, das in der grausamsten Weise zu Tausenden dahingeschlachtet wurde durch Foltern, Hunger und alle erdenklichen Raffiniertheiten einer zügellosen Rachsucht, wird dieses Volk diese Großtaten der blutgierigen Gemeinheit jemals vergessen?
Damals wohl zu Boden geworfen, aber nicht besiegt, wird die Kommune dereinst Wiedererstehen. Und das ist nicht mehr bloß der Traum Besiegter, die in ihrer Phantasie ein schönes Trugbild der Hoffnung liebkosen; nein! Die Kommune wird zum sichtbaren, scharf umrissenen Ziel. Der Gedanke durchdringt die Massen, er gibt ihnen ein Banner, und wir erwarten zuversichtlich, daß die jetzige Generation der unwürdigen bourgeoisen Ausbeutung ein Ende machen, den Völkern die staatliche Bevormundung vom Halse schaffen, in der Entwicklung der menschlichen Art eine Ära der Freiheit, der Gleichheit, der Solidarität inaugurieren wird.
II.
Schon 35 Jahre trennen uns von dem Tage, an dem das Volk von Paris jene Regierung von Verrätern stürzte, die sich seit dem Fall des Kaiserreichs der Gewalt bemächtigt hatten, sich als Kommune konstituierte und seine absolute Unabhängigkeit verkündete. Und doch richten sich unsere Blicke immer noch auf jenen Tag des 18. März 1871, an ihn knüpfen sich unsere besten Erinnerungen; das Proletariat beider Welten ist gewillt, die jährliche Wiederkehr dieses denkwürdigen Tages feierlich zu begehen, und in der Erinnerung an diesen Tag werden Hunderttausende von Arbeiterherzen im Einklang schlagen, sich über Grenzen und Weltmeere verbrüdern, in Europa, in den Vereinigten Staaten, in Südamerika, der Erhebung des Pariser Proletariats gedenkend.
Denn der Gedanke, für welchen das französische Proletariat von Paris sein Blut verspritzte, für den es an den Küsten Neu-Kaledoniens (3) gelitten hat, ist einer jener Gedanken, die in sich allein schon eine ganze Revolution bergen, ein Gedanke, unter dessen Banner Raum ist für alle revolutionären Bestrebungen der ihrer Freiheit entgegengehenden Völker.
Allerdings, wenn wir uns ausschließlich an die wirklichen und greifbaren Taten der Kommune halten würden, dann müssen wir sagen, daß dieser Gedanke nicht umfassend genug war, daß er nur einen einzigen Teil des revolutionären Programmes enthielt. Aber wenn wir uns hingegen an den revolutionären Geist halten, welcher die Volksmassen seit der Erhebung des 18. März beseelte, an die Tendenzen, welche sich zur Geltung zu bringen strebten und keine Zeit hatten, zu Tatsachen zu werden, weil sie schon in der Knospe unter Bergen von Leichen erstickt wurden - dann werden wir die ganze Tragweite jener Erhebung und die Sympathien verstehen, welche sie den Arbeitermassen beider Welten einflößt. Die Kommune begeistert die Herzen nicht durch das, was sie getan hat, sondern durch das, was sie dereinst zu tun imstande ist.
Woher stammt jene unwiderstehliche Kraft, welche die Sympathien aller unterdrückten Massen auf die Erhebung von 1871 lenkt? Welchen Gedanken vertritt die Kommune von Paris? Und warum ist dieser Gedanke so anziehend für die Proletarier aller Länder, aller Völker?
Die Antwort ist leicht. Die Revolution von 1871 war in hervorragendem Maße eine volkstümliche Bewegung. Vom Volke selbst in Szene gesetzt und aus dessen Innerstem geboren, fand diese Bewegung auch in der breiten Volksmasse ihre Vorkämpfer, ihre Helden und ihre Märtyrer - und dieses "niederträchtige" Benehmen wird die Bourgeoisie dem Volke niemals vergeben. Die Idee, die diese Revolution gebar - damals noch zu unklar, vielleicht noch ganz unbewußt, jedoch nichtsdestoweniger aus jedem Akte erkennbar -, ist der Gedanke der sozialen Revolution, der nach so vielen Jahrhunderten des Kampfes endlich allen die volle Freiheit und die wahre Gleichheit bringen soll.
Das war die Revolution des "niederträchtigen" Volkes, das für die Eroberung seiner Rechte auszog. Man suchte - und es ist wahr - man sucht noch den wahren Inhalt dieser Revolution zu entstellen und diese als den einfachen Versuch zu deuten, die Unabhängigkeit von Paris zu erkämpfen und so einen kleinen Staat im Staate Frankreich zu gründen. Aber nichts entspricht den Tatsachen weniger. Paris wollte sich nicht von Frankreich ablösen, ebensowenig wie es dasselbe mit den Waffen erobern wollte; es strebte nicht danach, sich in seinen Mauern eingeschlossen zu halten etwa wie ein Mönch in seiner Klause; es trieb keine Kirch-Einmischung der Zentralgewalt in seine Angelegenheiten abwehren turm-Politik. Wenn es seine Unabhängigkeit forderte, wenn es die wollte, so geschah es, weil es in dieser Unabhängigkeit die Möglichkeit erblickte, die Grundlagen einer zukünftigen Gesellschaftsform auszuarbeiten und so in seinem Innern die soziale Revolution zu verwirklichen. Die Beziehungen der Produktion und des Austausches hätten eine durchgreifende Änderung erfahren, indem sie auf der gerechten Verteilung basiert worden wären, die Beziehungen der Menschen zu einander hätten einen anderen Ausdruck angenommen, da sie auf Gleichheit begründet worden wären, und die Moral unserer Gesellschaft wäre neu erstanden auf der gesunden Basis der Gleichheit und der Solidarität.
Die kommunale Unabhängigkeit war also für das Volk von Paris nur ein Mittel, die soziale Revolution aber sein Ziel.
Dieses Ziel wäre sicher erreicht worden, wenn die Revolution des 18. März ihren natürlichen Gang hätte gehen können, wenn das Volk von Paris nicht niedergemetzelt worden wäre von den Mördern von Versailles. In der Tat verfolgte das Volk von Paris vom ersten Tage seiner Unabhängigkeit an die Aufgabe, eine klare, übersichtliche und alle Welt verständliche Idee zu finden, die, in wenige Worte zusammengefaßt, sagt, was zur Vollendung des Revolutionswerkes geschehen müßte. Allein eine wahrhaft große Idee wächst sich nicht an einem einzigen Tage aus, wie schnell auch immer die Ausbreitung und Verbreitung von neuen Ideen während revolutionärer Perioden sei. Stets brauchten Ideen eine gewisse Zeit, um sich zu entwickeln, um in die Massen einzudringen, um sich in Taten umzusetzen - und diese Zeit fehlte der Pariser Kommune. Sie fehlte ihr um so mehr, als vor zehn Jahren die Ideen des modernen Sozialismus selbst eine Wandlung durchzumachen hatten.
Die Kommune erstand sozusagen zwischen zwei Entwicklungs-Epochen des modernen Sozialismus.
Im Jahre 1871 hatte der autoritäre, mehr oder weniger religiöse Staatssozialismus keinen Einfluß mehr auf die praktischen und freiheitlichen Geister unserer Epoche. Wo wäre heute der Pariser zu finden, der willens wäre, sich in ein kasemenartiges Phalansterium (4) einsperren zu lassen? Andererseits blieb der Kollektivismus, der die Entlohnung des Produzenten mit dem Kollektiv-Eigentum vereinen will, durchaus unverstanden, und durch die Schwierigkeiten, die sich seiner praktischen Anwendung entgegenstellten, zog er nur wenige an. Und der freie Kommunismus trat damals kaum zutage; denn noch konnte er es nicht wagen, sich den Angriffen der Bewunderer des Herrschaftssystems auszusetzen.
So herrschte Unentschiedenheit unter den Geistern, und selbst die Sozialisten hatten nicht den Mut, sich an die Vernichtung des Privateigentums zu machen, da sie kein klares, festes Ziel vor Augen hatten. Und darum ließ man sich von dem Glauben irreführen, welchen die Leichtgläubigen nun schon seit Jahrhunderten hegen: "Wenn wir nur erst gesiegt haben; dann werden wir schon sehen, was weiter zu machen ist."
Zuerst siegen und dann erst sehen! Wie wenn es überhaupt möglich wäre, eine freie Kommune zu konstituieren, ohne das Privateigentum anzutasten! Als ob es denkbar wäre, die Feinde zu besiegen, ohne daß die große Masse direkt an den Erfolgen der Revolution interessiert ist, indem es den materiellen, geistigen und moralischen Nutzen für alle klar vor Augen hat. Man suchte zuerst die Kommune sicherzustellen, um später auf die soziale Revolution zurückzukommen, während der einzige richtige Weg der gewesen wäre, die Kommune durch die soziale Revolution zu sichern!
Ganz ebenso stand es um das Herrschaftsprinzip. Mit der freien Kommune proklamierte das Volk von Paris ein wesentlich anarchistisches Prinzip; aber nachdem in jener Epoche die anarchistischen Ideen nur sehr spärlich in die Geister eingedrungen waren, blieb man auf halbem Wege stehen und leistete im Innern der Kommune noch dem autoritären Prinzip Vorschub, indem man sich einen Kommunalrat gab.
Wenn wir in der Tat zugeben, daß eine oberste Regierung für die Regelungen der Beziehungen der Kommunen untereinander absolut entbehrlich ist, warum dann die Notwendigkeit einer Regelung der wechselseitigen Beziehungen jener Gruppen behaupten, die doch die Kommune bilden? Und wenn wir es der freien Initiative der einzelnen Kommunen anheimstellen, sich untereinander über jene Unternehmungen zu verständigen, die mehrere Städte zugleich betreffen, warum dann diese selbe freie Initiative innerhalb der Gruppen, aus welchen sich eine Kommune zusammensetzt, verneinen? Eine Regierung in der Kommune hat nicht mehr Existenzberechtigung als eine Regierung außerhalb derselben.
Allein im Jahre 1871 machte das Volk von Paris, welches schon so viele Regierungsformen gestürzt hatte, den ersten Versuch, gegen das Regierungssystem als solches zu revoltieren: es ließ sich aber leicht wieder vom Regierungs-Aberglauben hinreißen und gab sich selbst eine Regierung. Die Konsequenzen davon sind sattsam bekannt. Es sandte seine ihm ergebenen Männer nach dem Rathause. Dort, unter Stößen beschriebenen Papieres zur Untätigkeit verdammt, waren diese gezwungen zu regieren, während ihr Instinkt ihnen befahl, mit dem Volke zu sein und vorwärts zu schreiten. Gezwungen, zu debattieren, wo Handeln notgetan hätte, verloren sie die Fühlung mit der Masse und sahen sich schließlich unfähig, etwas zu leisten. Lahmgelegt durch ihre Trennung von dem Volke, dem Herde der Revolution, legten sie selbst gar bald die Initiative des Volkes lahm.
Entstanden während einer Übergangsperiode, in welcher die Ideen des Sozialismus und des Autoritätsprinzipes eine gründliche Änderung erleiden mußten; am Ausgang eines Krieges unter den preußischen Kanonen ins Leben gerufen, mußte die Pariser Kommune unterliegen.
Allein durch ihren hervorragend volkstümlichen Charakter war sie berufen, eine neue Ära in der Reihe der Revolutionen einzuleiten, und durch die in ihr lebendig gewordenen Ideen ward sie zum Vorläufer der großen sozialen Revolution. Die unerhörten grausamen Metzeleien, mit welchen die Bourgeoisie den Fall der Kommune feierte, die niedrige Rache, welche diese Henker durch neun Jahre an ihren Gefangenen übten, dieses Wühlen in Menschenfleisch hat eine Kluft zwischen Bourgeoisie und Proletariat errichtet, die niemals wieder überbrückt werden kann. In der nächsten Revolution wird das französische Volk wissen, was es zu tun hat; es wird wissen, was seiner harrt, wenn es den Sieg nicht zu einem entscheidenden macht, und es wird danach handeln!
Wir wissen nun, daß an dem Tage, an welchem in Frankreich die Kommunen revoltieren werden, sich das Volk keine Regierung wird wählen dürfen, um von derselben die Anordnung revolutionärer Maßnahmen zu erwarten. Nachdem die gefräßigen Parasiten unschädlich gemacht sein werden, wird sich das Volk des ganzen gesellschaftlichen Reichtums bemächtigen, um denselben nach den Prinzipien des kommunistischen Anarchismus zum Gemeineigentum zu machen. Und nachdem es mit Privateigentum, Staat und Regierung vollständig aufgeräumt haben wird, muß es sich frei organisieren, nur jener Notwendigkeit gehorchend, die das Leben selbst diktiert. So ihre Ketten und falschen Götter in Trümmer brechend, wird die Menschheit einer herrlichen Zukunft entgegengehen, sie wird fernerhin weder Herren noch Sklaven kennen und keine Verehrung für Personen hegen, als für die edlen Märtyrer allein, die jene ersten Emanzipations-Versuche mit ihrem Blute und ihren tausendfachen Leiden bezahlten und die uns auf dem Wege zur Erringung der Freiheit so herrlich voranleuchteten.
III.
Die öffentlichen Veranstaltungen und Versammlungen, die am 18. März an allen Orten, in welchen es sozialistische Verbindungen gibt, stattfinden, verdienen unsere volle Beachtung nicht nur als eine Kundgebung der proletarischen Armee, sondern ebensosehr als ein Ausdruck der Gefühle, welche die Sozialisten beider Erdhälften beseelen. Auf diese Art kann man besser als durch alle denkbaren Aufzählungen Heerschau halten und Bestrebungen frei formulieren, ohne sich von den Einwendungen der Wahltaktik beeinflussen lassen zu müssen.
Und in der Tat beschränken sich die an diesem Tage versammelten Proletarier nicht darauf, sich in Lobpreisungen des Heldenmutes des Pariser Proletariates zu ergehen oder nach Rache zu schreien für die Massenmetzeleien des Mai 1871. Indem sie die Erinnerungen an den heldenmütigen Kampf der Pariser austauschen, gehen sie gleichzeitig weiter. Sie diskutieren die Lehren, die aus der Kommune von 1871 gezogen werden müssen. Sie forschen nach den Fehlem der Kommune, und zwar nicht deshalb, um an den Menschen Kritik zu üben, sondern um klarzustellen, wie die Vorurteile, die damals im Innern der proletarischen Organisationen über das Eigentum und die Autorität herrschten, die revolutionäre Idee daran hinderten, sich zu entfalten, auszureifen und die ganze Welt mit ihren lebenspendenden Strahlen zu erhellen.
Die Belehrung von 1871 hat dem Proletariat der ganzen Welt genützt, und, mit den alten Vorurteilen brechend, haben die Proletarier bereits klipp und klar gesagt, was sie unter ihrer Revolution verstehen.
Es ist sicher, daß die nächste Erhebung der Kommunen in Frankreich nicht, mehr eine bloß kommunalistische Bewegung sein wird. Diejenigen, die noch immer glauben, man müsse eine unabhängige Kommune schaffen und dann innerhalb derselben Versuche wirtschaftlicher Reformen anstellen, sind von der Entwicklung des Volksgeistes überholt worden. Wir wissen, daß die Kommunen der nächsten Geschichtsepoche nur durch revolutionäre, sozialistische Maßnahmen, nach Abschaffung des Privat-Eigentums, sich befestigen und ihre Unabhängigkeit behaupten können werden.
An dem Tage, an dem infolge der Entwicklung die Regierung hinweggefegt sein und im Lager der Bourgeoisie, die sich nur unter dem Schutze des Staates zu halten vermag, die kopfloseste Verwirrung Einzug halten wird, an dem Tage wird das Volk nicht mehr erwarten, daß irgendeine Regierung in ihrer großartigen Weisheit komme und wirtschaftliche Reformen dekretiere. Das Volk selbst wird das Privateigentum durch Expropriation abschaffen und im Namen des gesamten Volkes vom ganzen gesellschaftlichen Reichtum Besitz ergreifen, den vorhergegangene Geschlechter durch ihre Arbeit aufstapelten. Es wird sich nicht damit begnügen, die unrechtmäßigen Aneigner des gesellschaftlichen Kapitals durch ein Dekret, das nur ein totes Aktenstück bleibt, zu expropriieren; es wird auf der Stelle Besitz ergreifen und seine Rechte geltend machen, indem es das vorhandene gesellschaftliche Kapital ohne Verzug in Gebrauch nimmt. Es wird sich selbst in der Werkstätte einrichten, um dieselbe in Betrieb zu setzen.
Die elende Hütte wird es mit einer gesunden Wohnung vertauschen. Es wird unverzüglich Vorkehrungen treffen, um sich des ganzen, in den einzelnen Städten aufgehäuften Reichtums zu bedienen, und es wird von diesen Reichtümern Besitz nehmen, als ob sie ihm niemals von der Bourgeoisie gestohlen worden wären. Und ist erst einmal der Industriebaron, der dem Arbeiter die Früchte seines Fleißes wegnimmt, aus seinem angemaßten Platze verdrängt, dann kann die Produktion ungestört ihren Fortgang nehmen, indem sie sich, dem Impulse der freien Arbeit folgend, den Anforderungen des Augenblicks anpaßt. "Niemals noch wurde in Frankreich so intensiv gearbeitet wie im Jahre 1793, nachdem die Erde den Händen der Feudalherren entrissen worden war", sagt Michelet. (5) Niemals noch wurde so gearbeitet, als man arbeiten wird am Tage, an dem die Arbeit endlich frei geworden sein wird und von dem ab jeder Fortschritt des Arbeiters eine Quelle des Wohlbefindens für die Kommune bedeutet.
In bezug auf den sozialen Reichtum hat man versucht, eine Unterscheidung zu machen, ja, man ist selbst dahin gekommen, die sozialistische Partei mit Hilfe dieser Unterscheidung in zwei Lager zu teilen. Diejenige Schule, die sich heute die kollektivistische nennt, indem sie an die Stelle des Kollektivismus der alten "Intemationale" (die darunter nichts anderes als den anti-autoritären Kommunismus verstand) eine Art doktrinären Kollektivismus setzt, sucht eine Unterscheidung zu treffen zwischen dem Kapital, welches der Produktion dient, und dem Reichtum, der die Bedürfnisse des Lebens befriedigt. Die Maschinen, Fabrikgebäude, Rohstoffe, Verkehrswege und Grund und Boden gehören der einen, die Wohnungen, fertige Produkte, Kleider und Lebensmittel der anderen Kategorie an. Die ersteren werden Kollektiv-Eigentum, die letzteren aber haben, nach den Lehren dieser Schule, Privateigentum zu bleiben.
Aber der gesunde Sinn des Volkes kam gar bald zu der Einsicht, daß diese Unterscheidung illusorisch und ganz unmöglich ist. Mangelhaft schon in der Theorie, muß sie im praktischen Leben ganz und gar dahinfallen. Die Arbeiter erkannten, daß das Haus, das wir bewohnen, die Kohle und das Gas, die wir brennen, die Nahrung, die unsere menschliche Maschine verbraucht, um unser Leben zu erhalten, die Kleidung, mit der der Mensch sich bedeckt, um seinen Körper zu schützen, das Buch, das er liest, um sich Belehrung zu holen, ja selbst die Luxusgegenstände, mit denen er sich umgibt, ebenso unumgänglich notwendige Erfordernisse für seine Existenz und ebenso unentbehrlich für den Ertrag der Produktion und für die fortschreitende Entwicklung des Menschengeschlechtes sind wie die Maschinen, Fabriken, Rohstoffe und alle anderen Produktionsmittel. Sie wissen, daß ein Beibehalten des Privat-Eigentums für jene Reichtümer auch die Fortdauer der Ungleichheit, der Unterdrückung, der Ausbeutung bedeutet, wodurch von vorneherein die Resultate der vorangegangenen Expropriation zunichte würden. Über die Absonderlichkeiten des Kollektivismus der Theoretiker hinweggehend, gelangen sie geraden Weges zu der einfachen und praktischen Form des antiautoritären Kommunismus.
Und tatsächlich sprechen die revolutionären Proletarier in ihren Versammlungen klipp und klar von ihrem Anrechte an dem ganzen sozialen Reichtum und von der Notwendigkeit, das Privat-Eigentum sowohl für die Gebrauchs- als für die Produktions-Werte aufzuheben. "Am Tage der Revolution werden wir uns aller Reichtümer und aller in den Städten vorhandenen Vorräte bemächtigen und sie zum Gemeingut aller machen!" sagen die führenden Stimmen der Arbeiterschaft, und die Zuhörer bestätigen es durch einhellige Zustimmung.
"Nehme jeder aus den Vorräten, was er nötig hat, und halten wir uns versichert, daß die Komläden unserer Städte genug Nahrungsmittel enthalten, um alle bis zu dem Tage zu speisen, an welchem die freie Produktion ihren Anfang nehmen wird. In den Kleidermagazinen der Städte ist Vorrat genug, um alle zu bekleiden, während derselbe jetzt, angesichts des allgemeinen Elends, keinen Absatz finden kann. Ja sogar genügend Luxusgegenstände sind vorhanden, um jedermann nach seinem Geschmacke Auswahl zu gestatten."
So stellt sich, nach dem, was in den Versammlungen gesprochen wird, zu urteilen, das Proletariat den Verlauf der Revolution vor: sofortige Einführung des kommunistischen Anarchismus und freie Organisation der Güter-Erzeugung. Das sind die beiden deutlich fixierten Punkte, und in dieser Hinsicht werden die Kommunen der Zukunft sicherlich nicht in die Fehler ihrer Vorgänger verfallen.
Bezüglich eines anderen, nicht weniger gewichtigen Punktes in der Frage der Regierung, herrscht diese Einigkeit der Meinungen noch nicht, obwohl der Zeitpunkt, da dies der Fall sein wird, nicht so ferne liegt.
Es ist bekannt, daß gegenwärtig bezüglich dieser Frage zwei grundverschiedene Meinungen existieren. "Wir müssen", sagen die einen, "am Tage der Revolution eine Regierung einsetzen, die alle Macht an sich nimmt. Diese starke, mächtige und entschlossene Regierung wird die Revolution dadurch vollbringen, daß sie dies und jenes dekretiert und ihren Anordnungen mit Gewalt Gehorsam erzwingt."
"Traurige Täuschung", sagen die anderen. "Jede Zentralgewalt, die bestimmt ist, ein Volk zu regieren, ist unglücklicherweise aus ganz verschiedenen Elementen zusammengesetzt, und da eine solche auf Grund des Herrschaftsprinzipes stets verknöchernd wirkt, kann sie für die Revolution nur ein großes Hindernis bedeuten. Sie kann der Revolution in jenen Kommunen, die bereit sind, vorwärts zu gehen, nur schädlich sein, ohne dagegen imstande zu sein, den zurückgebliebeneren Gemeinden den revolutionären Geist einzuhauchen.
Ähnlich hinderlich wird ihr Wirken in einer bereits aufständischen Kommune sein. Entweder wird die kommunale Regierung sich darauf beschränken, bereits geschehene Akte formell zu bestätigen: dann ist sie eine höchst überflüssige und gefährliche Institution, oder aber sie wird in allem vorangehen wollen, und dann wird sie Dinge anordnen, die sich erst im Volke selbst frei entwickeln müßten, um lebensfähig zu sein. Sie wird dort Theorien anwenden, wo die ganze Gesellschaft neue Formen für das gesellschaftliche Leben finden muß aus jener schöpferischen Kraft heraus, welche im gesellschaftlichen Organismus lebendig wird, nachdem er seine Ketten zerbrochen hat und sich seinen Augen neue, weite Horizonte eröffnen. Die Leute von der Regierung würden diesem Aufschwünge nur hinderlich sein, ohne auch nur das Geringste von dem zu leisten, was sie selbst zu leisten imstande gewesen, wenn sie selbst im Volke verblieben wären, um mit ihm gemeinschaftlich die neue Organisation auszuarbeiten, anstatt sich in Amtsstuben einzuschließen und in unfruchtbaren Debatten zu erschöpfen. So wäre diese Regierung ein Hindernis und eine Gefahr: unvermögend für das Gute, erschrecklich für das Schlechte, und darum hat sie kein Recht zu existieren."
So richtig und natürlich auch dieser Einwand ist, er verstößt zu sehr gegen Jahrhunderte alte Vorurteile, die von jenen genährt und bekräftigt wurden, die ein Interesse an dem Fortbestehen des Regierungs-Aberglaubens, zusammen mit dem Eigentums- und Gottes- Aberglauben, haben.
Dieses Vorurteil - das letzte in der Reihe: Gott, Eigentum, Regierung - besteht noch immer und bildet eine große Gefahr für den Fortschritt des Sozialismus. Aber man kann bereits beobachten, wie es mehr und mehr ins Wanken gerät. "Wir wollen unsere Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, ohne die Befehle einer Regierung abzuwarten, und werden über die Köpfe jener hinweg schreiten, die sich uns gegenüber als Pfaffen, Kapitalisten und Regierungsleute aufspielen wollen", sagen heute bereits die Proletarier.
Wenn die Anarchisten fortfahren, den Aberglauben in die Regierungs-Einrichtungen zu bekämpfen, und dabei nicht selbst von ihrem Wege abkommen, indem sie sich in Kämpfe um die Regierungsmacht einlassen, dann steht zu hoffen, daß in wenigen Jahren das Vorurteil einer Staatsoberhoheit genügend erschüttert sein wird, um nicht mehr imstande zu sein, die Proletarier auf einen unrichtigen Weg zu leiten.
Fußnoten:
1.) Im Sommer 1871 war Kropotkin in die Schweiz gereist, wo er in Neuchatel die Bekanntschaft des ehemaligen Kommunemitglieds Benoit Malon (s. Bd. II, Anm. 170) machte. Malon arbeitete damals gerade an seinem Buch über "Die dritte Niederlage des französischen Proletariats" (La troisiéme défaite du prolétariat francais, Neuchatel 1871) und erzählte Kroptokin von seinen Erlebnissen. Von dieser Reise kehrte Kropotkin als Anarchist nach Rußland zurück. (Vgl. Fürst Peter Kropotkin, Memoiren eines russischen Revolutionärs. Mit einem Vorwort von Georg Brandes, Stuttgart 1913, 2. Teil, S. 55 ff).
Vorliegende Schrift erschien erstmals in englischer Sprache: Peter Kropotkin, The Paris Commune, London 1891. Die hier verwendete deutsche Ausgabe erschien 1906 in dem Berliner Verlag "Anarchist" (Otto Weidt). Die Darstellung Kropotkins stützt sich im wesentlichen auf die Arbeit von Arthur Arnould, Histoire populaire et parlementaire de la Commune de Paris, 3 Bde., Brüssel 1878.
2.) Diese vorstehenden Zeilen sind der "Geschichte der Kommune" von Arthur Arnould entnommen. [Kropotkin]
3.) Neu-Kaledonien (frz. Nouvelle-Calédonie) ist eine Südsee-Insel östlich von Australien, auf die bis zum 1. Juli 1875 nach den Angaben Lissagarays (Prosper Lissagaray, Geschichte der Kommune von 1871, Berlin [Ost] 1956, S. 371) 3609 Pariser Kommunarden deportiert worden waren. Das "kaledonische Grab" (Lissagaray) ist eindringlich beschrieben worden von zwei ehemaligen Kommunemitgliedern, denen es gelang, von der Insel zu fliehen: Paschal Grousset et francois Jourde, Die Märtyrer der Commune in Neu-Caledonien. Bericht zweier Entwichenen, Leipzig 1876.
4.) Wohnung und Arbeitsanstalt für 400 Familien nach dem System des autoritären Sozialisten Fourier. [Kropotkin]
5.) Michelet, Jules(1798-1874), liberaler französischer Historiker; schrieb umfassend über die Geschichte Frankreichs und insbesondere der Französischen Revolution.
Originaltext: Schneider, Dieter Marc (Hg.). Pariser Kommune 1871, Band 1. Bakunin, Kropotkin, Lavrov. rororo 1971 (Reihe rororoklassiker - Texte des Sozialismus und Anarchismus). Digitalisiert und bearbeitet (Neunummerierung der Fußnoten etc.) von www.anarchismus.at