Victor Serge - Die Anarchisten; Machno

Aus der Nähe verfolgte ich vor allem das Drama des Anarchismus, das mit den Unruhen in Kronstadt geschichtliche Bedeutung erlangte. Während des II. Kongresses der Internationalen hatte ich an den Verhandlungen Lenins mit Wenjamin Markowitsch Alejnnikow teilgenommen, einem ehemaligen Emigranten, Mathematiker, sowjetischen Businessman in Holland und intelligenten Anarchisten; es handelte sich um die Zusammenarbeit mit den Anarchisten. Lenin zeigte sich wohlwollend; er hatte kürzlich Nestor Machno empfangen; Trotzki hat später, viel später (ich glaube 1938) berichtet, daß Lenin und er selbst daran dachten, den anarchistischen Bauern der Ukraine, deren militärischer Führer Machno war, ein autonomes Territorium einzuräumen. Das wäre gerecht und klug gewesen, und vielleicht hätte diese großzügige Lösung der Revolution die Tragödie erspart, der wir entgegengingen. Zwei aktive und fähige prosowjetische Anarchisten arbeiteten im Kommissariat für auswärtige Angelegenheiten mit Tschitscherin zusammen: Hermann Sandomirsky, einst in Warschau zum Tode verurteilt, ein ehemaliger Sträfling und junger Gelehrter, und Alexander Schapiro, ein kritischer und gemäßigter Geist. Kamenew, der Präsident des Moskauer Sowjets, bot ihnen die vollkommene Legalisierung der Bewegung mit ihrer Presse, ihren Clubs, ihren Buchhandlungen an, unter der Bedingung, daß sich die Anarchisten selbst kontrollieren, daß sie den Kreis ihrer Anhänger säubern sollten, unter denen es von Aufgeregten, Unkontrollierbaren, Halbverrückten und einigen schlecht getarnten echten Konterrevolutionären wimmelte. Die Mehrzahl der Anarchisten wies diesen Gedanken einer Organisation und einer Kontrolle mit Abscheu zurück: „Was, wir sollen auch so eine Art Partei bilden?“ Lieber wollten sie verschwinden, ihre Presse und ihre Lokale verlieren. Von ihren Führern im stürmischen Jahr 1918 hatte einer eine neue einsilbige Weltsprache erfunden, das Ao; ein anderer, Jartschuk, der unter den Matrosen von Kronstadt berühmt geworden war, saß in Butirky im Gefängnis, wo ihm der Skorbut zusetzte; ein dritter, Nikolaj Bogdajew, leitete in Turkestan die sowjetische Propaganda; ein vierter, Nowomirski, ein ehemaliger Terrorist und Sträfling, war in die Partei eingetreten und arbeitete bei mir, wobei er gegenüber Sinowjew einen seltsamen Neophyteneifer an den Tag legte; ein fünfter, einst (1906) der Theoretiker des „Terrorismus ohne Motiv“, der das Ancien Regime überall und zu jeder Stunde schlagen wollte, Grosman-Rostschin, der Syndikalist geworden war, ein Freund Lenins und Lunatscharskis, arbeitete eine Theorie der anarchistischen Diktatur des Proletariats aus; endlich mein alter Freund Appolon Karelin, ein bewundernswerter Greis, den ich in Paris in einem Kämmerchen über der Rue d'Ulm kennengelernt hatte, wo er die Probleme des Genossenschaftswesens studierte; er war Mitglied der allrussischen Exekutive der Sowjets, lebte jetzt mit seiner weißhaarigen Gefährtin in einem Kämmerchen des Nationalhotels (des Hauses der Sowjets), vom Alter gebrochen, er sah nicht mehr gut, trug einen breiten weißen Bart und schrieb mit einem Finger auf einer uralten Schreibmaschine ein großes Buch „Gegen die Todesstrafe“, wobei er die Föderation der freien Gemeinden vertrat. Die mit dem Kommunismus beinahe vereinigte Gruppe erfand den „universalistischen Anarchismus“ (Askarow); eine andere, die Kropotkinsche (Atabekian), sah nur im freien Genossenschaftswesen eine Lösung. Boris Wolin, der im Gefängnis saß, lehnte die Leitung des Unterrichtswesens in der Ukraine ab, die ihm die bolschewistische Führung anbot. „Ich werde nie“, antwortete er, „mit der Autokratie der Kommissare paktieren!“ Im ganzen ein beklagenswertes Chaos von sektiererischem guten Willen. Im Grunde kam diese Doktrin viel mehr aus dem Affekt als aus dem Verstand. Wenn diese Menschen zusammenkamen, verkündeten sie einfach: „Wir kämpfen für die Beseitigung der Staatsgrenzen. Wir fordern: die ganze Erde allen Völkern!“ (Konferenz der anarchistischen Union in Moskau, Dezember 1919). Hätte ihre Freiheit des Denkens und der Meinungsäußerung das Sowjetregime in Gefahr gebracht? Es wäre verrückt, das zu behaupten. Nur betrachtete eben die Mehrheit der Bolschewiken, getreu der marxistischen Tradition, sie als „kleinbürgerliche Utopisten“, die mit der Entwicklung des „wissenschaftlichen Sozialismus“ unvereinbar seien. In den Hirnen der Tschekisten und gewisser, in einer Autoritätspsychose verfangener Bürokraten, wurden diese „Kleinbürger“ zu einem Schwarm von Konterrevolutionären wider Willen, mit denen Schluß gemacht werden mußte.

Gorki wiederholte es oft: Der Charakter des russischen Volkes, geprägt durch Widerstand und Unterwerfung unter den Despotismus, enthält einen Anti-Autoritäts-Komplex, das heißt ein mächtiges Element eines spontanen Anarchismus, der im Laufe der Geschichte periodisch zu Ausbrüchen geführt hat. Bei den ukrainischen Bauern hatte der Geist der Rebellion, die Fähigkeit zur Selbstorganisierung, die Notwendigkeit, nur mit sich selbst zu rechnen, wenn sie sich gegen die Weißen, die Deutschen, die Gelb-Blau-Nationalisten, die oft harten und unwissenden Moskauer Kommissare verteidigten, die immer wieder Requisitionen ankündigten, eine ungewöhnlich lebendige und kraftvolle Bewegung, die der „Aufständischen Bauernarmee“, hervorgerufen, die ein anarchistischer Lehrer, der aus dem Zuchthaus kam, Nestor Machno, in der Umgebung von Guljaj-Polne gegründet hatte. Mit Boris Wolin und Aaron Baron gab die anarchistische „Konföderation der Sturmglocke“ (Nabat) dieser Bewegung eine Ideologie: die der dritten anarchistischen Revolution, und eine Fahne: die schwarze Fahne. Diese Bauern bewiesen eine wahrhaft heldenhafte Fähigkeit zu organisieren und zu kämpfen. Nestor Machno, ein Säufer und Draufgänger, ungebildet, idealistisch, erwies sich als geborener Stratege. Er verfügte zeitweise über mehrere zehntausend Kämpfer. Seine Waffen holte er sich bei dem Feind. Seine Aufständischen zogen manchmal mit einem Gewehr auf zwei oder drei Mann in die Schlacht; und das Gewehr ging dann aus der Hand des Sterbenden in die des Lebenden über, der darauf wartete. Machno erfand eine Infanterie auf Bauernkarren, die sehr beweglich war. Er kam auf den Gedanken, die Waffen zu vergraben und seine Streitkräfte für den Augenblick zu entlassen, die dann waffenlos die Feuerlinien durchquerten und anderswo, wo man sie nicht erwartete, andere Maschinengewehre ausgruben und den Aufstand erneuerten. Im September 1919 bereitete er in Uman dem General Denikin eine Niederlage, von der sich dieser nicht mehr erholen sollte. Er war der „batko“ das Väterchen, der Chef. Den Eisenbahnern von Jekaterinoslawl (Dnjepropetrowsk), die ihn um Auszahlung der Löhne baten, antwortete er: „Organisiert euch und betreibt die Eisenbahnen selbst. Ich brauche sie nicht.“ Er war in Rußland sehr populär und ist es geblieben, trotz gewisser Grausamkeiten, die seine Banden begingen, und trotz der dauernden Verleumdung durch die Kommunistische Partei, die soweit ging, daß man ihn beschuldigte, er paktiere mit den Weißen - und das gerade in dem Augenblick, in dem er mit ihnen auf Leben und Tod kämpfte. Im Oktober 1920, als der Baron Wrangel noch die Krim hielt, wurde ein Bündnisvertrag zwischen dieser schwarzen und der roten Armee geschlossen. Für die Roten unterzeichneten Bela-Kun, Frunse und Grusew. Der Vertrag sah eine Amnestie für die Anarchisten in Rußland vor, die Legalisierung der Bewegung und die Abhaltung eines anarchistischen Kongresses in Charkow. Die schwarze Kavallerie durchbrach die Linien der Weißen und drang in die Krim ein; dieser Sieg entschied, parallel zu dem, den Frunse und Blücher in Perekop errangen, über das Schicksal der weißen Armee, die kurz vorher erst von Großbritannien und Frankreich anerkannt worden war.

In Petrograd und Moskau bereiteten die Anarchisten ihren Kongreß vor. Aber kaum war der gemeinsame Sieg erkämpft, wurden sie plötzlich (im November 1920) in Massen von der Tscheka verhaftet. Die durch Verrat verhafteten schwarzen Sieger der Krim, Karetnik, Gawrilenko und andere wurden erschossen. Machno war in Guljaj-Polje eingeschlossen und verteidigte sich wie ein Rasender; er bahnte sich einen Weg nach draußen und setzte seinen Widerstand bis in den August 1921 fort. (Er sollte, nachdem er in Rumänien, in Polen und in Danzig interniert worden war, sein Leben als Fabrikarbeiter in Paris beenden.) Dieses unbegreifliche Verhalten der bolschewistischen Macht, die ihre eigenen Verpflichtungen gegenüber einer revolutionären Bauernminderheit von grenzenlosem Mut zerriß, hatte eine furchtbar demoralisierende Wirkung; ich sehe hier einen der tiefsten Gründe des Kronstadter Aufstandes. Der Bürgerkrieg ging zu Ende; und die Bauern, durch die Requisitionen erbittert, kamen zu dem Schluß, daß mit den „Kommissaren“ keinerlei Verständigung möglich sei.

Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Nach: Beruf: Revolutionär. Erinnerungen 1901/1917-1941. Aus dem Französischen von Cajetan Freund. Frankfurt/M. 1967,S. 138-41

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

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