Anmerkungen zur deutschen Ausgabe von Thomas Kleinspehn

"Ja, die Anarchisten haben immer gerne von der freien Liebe gesprochen. Aber schließlich waren sie Spanier, und es ist komisch, wenn Spanier von so etwas reden. Es paßt gar nicht zu ihrem Temperament. Sie hatten das nur aus ihren Büchern. Die Spanier hatten nie etwas übrig für die Befreiung der Frau. Nicht die Bohne. Ich kenne sie in- und auswendig, und ich sage Ihnen: Die Vorurteile, die sie störten, sind sie recht rasch losgeworden, aber die ihnen paßten, haben sie sorgfältig gehütet. Die Frau gehört an den Herd! Von dieser Weisheit haben sie viel gehalten. Ein alter Genosse hat einmal zu mir gesagt: 'Das ist ja ganz schön und gut mit Euren Theorien, aber die Anarchie ist eine Sache und die Familie eine andere. So ist es, und so bleibt es auch.' Mit Buenaventura habe ich allerdings Glück gehabt. Er war nicht so unterentwickelt wie die anderen. Aber er wußte ja schließlich auch, mit wem er es zu tun hatte." (Emilienne Morin, Witwe von Buenaventura Durruti, in: H.M. Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie, Frankfurt/M. 1972, 96)

Zum ersten Mal bin ich im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam auf "Mujeres Libres" gestoßen. Damals war ich auf der Suche nach dem Alltag der spanischen Revolution. Die umfangreiche Literatur zum Bürgerkrieg, zur Selbstverwaltung, zur Organisation der Produktion und Konsumtion vermittelt nur ein sehr begrenztes Bild über den Alltag im republikanischen Spanien zwischen 1936-1939. Zwar wissen wir einiges über die Kollektivierung in Industrie und Landwirtschaft, doch über die Veränderungen von Verkehrsformen, von Subjektivität können wir nur einiges ahnen - von einer Revolution sicherlich, die in den knapp drei Jahren alles andere zu tun hatte, als ihre Erfahrungen aufzuschreiben.

Die Texte von "Mujeres Libres" sind eine der wenigen textlichen Überlieferungen, die uns mehr als äußere Momente vermitteln, so wichtig diese auch sonst sein mögen. Es mag überraschen, daß eine revolutionäre Bewegung, wie die anarchosyndikalistische in Spanien, die angetreten war, die Gesellschaft von der Basis her zu revolutionieren - und dies auch in einer Form getan hat, wie wir sie sonst kaum in Europa finden -, daß diese Bewegung gegenüber einer konsequenten Radikalisierung der Verkehrsformen versagte. Es überrascht aber nicht, daß erst eine feministische und zugleich anarchistische Bewegung, die diese Revolution mit getragen hat, sie in letzter Konsequenz auf die "private" Ebene hin radikalisiert hat: auf die von den Herrschaftsmechanismen ebenso durchdrungenen Verkehrsformen, auf die Familie, die Sexualität, das Körperempfinden etc. hin. Hier zeigt es sich erst wirklich, daß Veränderungsprozesse mehr bedeuten als die Abschaffung des Privateigentums.

"Mujeres Libres" steht in der Tradition der anarchistischen Bewegung, die zurückgeht auf die libertäre Utopie des 19. Jahrhunderts und die ohne den Wunsch nach der Befreiung der Frau nicht denkbar gewesen wäre (Fourier, Saint-Simon; vgl. z.B. L. Elhadad, Femmes prenommees: les proletaires Saint-Siminiennes redactrices de 'La Femme Libre', 1832-1834, in: Les revoltes logiques, no. 4 u. 5). Innerhalb des spanischen Anarchismus hatte der Feminismus zwar bereits seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eine bedeutende, aber nie eine autonome Position inne. Die Grundsatzerklärung des zweiten Kongresses der Regionalen Spanischen Föderation der Ersten Internationale von 1872 enthielt einen Abschnitt zur Befreiung der Frau, betonte aber ausdrücklich die Notwendigkeit der Integration in die gesamte Arbeiterbewegung (vgl. dazu vor allem das Kapitel "feminismo, familia, amor libre", in: J. Alvarez Junco, La Ideologia politica del anarquismo espanol (1868-1910), Madrid 1976, S. 281 ff.).

Erst mit der zunehmenden Bedeutung der Frauenarbeit in der Industrie erhielt auch die Frau innerhalb der anarchosyndikalistischen Arbeiterbewegung einen anderen Stellenwert. Gerade in Katalonien, wo der Anarchismus unter Industriearbeitern besonders stark war, wäre der Aufbau der Industrie ohne die Frauenarbeit in diesem Maße nicht denkbar gewesen (vgl. A. Balcells, Trabajo industrial y organizacion obrera en la Cataluna contemporanea (1900-1936), Barcelona 1974, S. 9 ff.). So traf in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts in Spanien eine erstarkende Frauenbewegung mit einer selbst auf weitgehende Autonomie bauenden anarchosyndikalistischen Bewegung zusammen. Hierin lag letztlich, trotz aller auch in diesem Band zur Sprache kommenden Kritik von Seiten der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung, die Stärke und die Chance der Gruppe "Mujeres Libres". Die Gruppe war nicht von vornherein nur den Versuchen ausgesetzt, in eine Gesamtbewegung vollkommen integriert oder einer Parteidoktrin subsumiert zu werden, sondern hatte durchaus noch die Chance, zwischen Autonomie und Zusammenarbeit zu existieren. Die Gruppe konnte auch auf die Tradition des anarchistischen Individualismus und das Postulat der Eigenständigkeit eines jeden fußen.

In diesem Punkt ist ein noch weiter zu vertiefender Zusammenhang zu dem heute vor allem in der französischen Frauenbewegung wichtigen Konzept der Differenz zu sehen: "An Stelle von Oppositionen wie Körper-Kopf, männlich-weiblich, aktiv-passiv, was ein Herrschaftsbezug ist, stets zur Vernichtung des einen zu Gunsten des anderen aufruft, wird Leben in der Differenz, im (sich) verändernden Anderssein begriffen. ... Eine jede unterscheidet sich durch ihre Familiengeschichte, ihre Anlagen, ihre Verausgabungen und Ängste. Jede einzelne ist einzig. Das macht Solidarität, das macht Liebe möglich. Das macht die Vielfältigkeit der Fragestellungen, der Kämpfe, der stets anderen Begegnungen und die Dynamik der Bewegung aus." (Maren Seil, in: Trennung. Ein Gespräch mit Helene Cixous und Maren Seil, Schwarze Botin, Nr. 2, 1977, S. 18).

Gerade aber die Konflikte, die daraus resultieren, daß "Mujeres Libres" vorhandene verbale Postulate nach Eigenständigkeit radikalisierten und für sich in Anspruch nahmen, verweisen auf die Labilität dieser Ansprüche selbst. Die Verunsicherung und das Konfliktpotential konnte zwar noch mit dem Hinweis auf eine Integration aller unter die Gesamtbewegung, um zunächst den Sieg im Bürgerkrieg zu erringen, kaschiert werden, sie lebten aber stets in den strategischen Diskussionen auf allen Ebenen wieder auf: in der Frage um die Regierungsbeteiligung gleichermaßen wie in der Frage um den Stellenwert der Kollektivierung und möglicher antizipatorischer Momente vor dem Sieg über die Truppen Francos.

Dieser Widerspruch lebt im Grunde heute innerhalb der libertären Bewegung Spaniens fort. Er zeigte sich im Unverständnis der "alten" Anarchosyndikalisten gegenüber der Bewegung des Mai '68 in Frankreich, er zeigt sich jetzt im Unverständnis gegenüber den "acratas", den autonomen Gruppen von Frauen, Homosexuellen, Studenten, Stadtteilbewohnern etc. im heutigen Spanien.

In diesem Zusammenhang ist auch die vehemente Polemik von "ajoblanco", einer der bekanntesten Zeitschriften aus der "acrata"-Bewegung, gegen Teile der C.N.T. zu verstehen. Unter der Überschrift "anarquia y buenas costumbres" (Anarchie und die guten Sitten) wird beispielsweise in der März-Nummer 1978 der Zeitschrift vor allem gegen das bekannte Mitglied der C.N.T. aus den Tagen des Bürgerkrieges, Federica Montseny, polemisiert, die in einem Interview Homosexuelle als "pervers und krank" bezeichnet und die feministische Bewegung als einen "Trick der Bourgeoisie" interpretiert hat, "um die Arbeiterin von ihrer Klasse zu trennen". Nachdem er noch einige moralisierende Äußerungen von C.N.T.-Angehörigen über "Hippies" und andere zitiert, lautet der Artikel weiter: "Bis heute hatte ich geglaubt, daß der Anarchismus (acracia) eine mögliche Lebensform sei (ohne jeden fatalen Determinismus, nur ein Vorschlag), in der Absicht, die Genußmöglichkeiten des Individuums und des Kollektivs weitestgehend auszudehnen. Der Anarchismus bedeutete für mich zugleich eine Möglichkeit, diese Freiheiten mit Mitteln zu erobern, die ihm entsprachen, d.h. mit libertären Mitteln (was die Anwendung von terroristischer Gewalt ausschließt, ...). Aber nein, jetzt stellt sich plötzlich heraus, daß ich mich sehr getäuscht habe, daß ich Freiheit mit 'Zügellosigkeit' verwechselt habe. Es stellt sich heraus, daß der Anarchismus das Königreich der Moral und der guten Sitten werden soll, wo die Heterosexualität, das monogame Paar, das Eigentumsrecht, das Gut-Gekleidet-, Gut-Gekämmt- und Rasiert-Sein die herrschenden Werte sein werden.

Trotz des Vorhergehenden ... ziehe ich es aber im Moment noch vor, zu glauben, daß das libertäre Denken (dieses Denken, das im Unterschied zum Marxismus niemals sagen kann: hier ist ein für alle Mal die Vulgata) noch geformt werden muß, daß das, was wir von Bakunin, Malatesta, Mella oder Urales geerbt haben, noch ein Vor-Anarchismus ist, der zwar voller brillanter Einfälle auf dem politisch-sozialen Gebiet ist (man verzeihe mir den Ausdruck), aber auf dem ethischen Gebiet sich noch im Obskurantismus und der Barbarei befindet. Niemals werde ich mich mit der Vorstellung vom Anarchismus als einem Sieg der guten Sitten abfinden, die die Familie und die Schule mir haben beibringen wollen." (ajoblanco, no. 31, Marzo 1978, S. 54)

Genau dieser ungelöste Widerspruch zwischen der "politisch-sozialen" und der "ethischen" Ebene oder - um es anders auszudrücken - zwischen Politik und Alltag und der fehlenden Verbindung beider bestimmte die Diskussion um "Mujeres Libres" in den 30er Jahren und steht heute gleichermaßen in der libertären Bewegung Spaniens im Vordergrund - aber nicht nur dort.

Die Texte in diesem Buch (Anm.: Mary Nash - Mujeres Libres. Die freien Frauen in Spanien 1936-1978, siehe weitere Texte in dieser Textsammlung) basieren im ersten Teil auf einer von Mary Nash für den spanischen Verlag Tusquets besorgten Auswahl (Mary Nash, ed., "Mujeres Libres". Espana 1936-1939, Barcelona 1976). Wir haben ca. zwei Drittel der dort abgedruckten Artikel übernommen. Die übersetzten Artikel sind in sich im wesentlichen ungekürzt, entfallen sind dagegen Texte, die sich in ihrer Argumentation wiederholten. Zusätzlich zu dieser Ausgabe von Mary Nash enthält dieser Band noch einen zweiten Teil, in dem Artikel aus den ersten vier Heften der nach Francos Tod in Spanien wieder gegründeten Zeitschrift "Mujeres Libres" zusammengestellt sind. Der Auswahl lag der Versuch zugrunde, eine repräsentative Themenauswahl zu erreichen. Für diesen Band nicht berücksichtigt wurde dagegen die in der Emigration in Frankreich zeitweilig erschienene Zeitschrift mit gleichem Namen, die sich als Fortsetzung von "Mujeres Libres" im Exil verstand, da uns die Bedingungen zu unterschiedlich erschienen.

Über die bei Mary Nash erwähnte Literatur hinaus seien hier noch einige wichtige Texte für diesen Themenzusammenhang kurz erwähnt:

  • Karin Buselmeier, Frauen in der spanischen Revolution, mamas pfirsiche - Frauen und Literatur 9/10, Herbst 1978 (u.a. Interviews mit Clara Thalmann, Emilienne Morin und Lola Iturbe);
  • Lola Iturbe, La mujer en la lucha social. La guerra civil de Espaha, Mexico 1974 (mit Biografien verschiedener an der Frauenbewegung beteiligten Frauen);
  • die Gegenposition der bereits erwähnten, zwar mit "Mujeres Libres" sympathisierenden, aber eine autonome Frauenbewegung ablehnende spanische Anarchistin und Ex-Ministerin in der Volksfrontregierung enthält: August! Pons, Converses amb Frederica Montseny, Barcelona 1977 (zu "Mujeres Libres" nur unter anderem).


Wichtige Angaben zu einigen Aspekten der anarchistischen Frauenbewegung in Spanien sind außerdem enthalten u.a. in der englischen feministischen Zeitschrift "Zero", no. 1, June 1977; bei Robert W. Kern, Red Years/Black Years, A Political History of Spanish Anarchism, 1911-1937, Philadelphia 1978; sowie zu den Problemen des Feminismus in Spanien allgemein (nicht anarchistisch) : Amparo Moreno, Mujeres en lucha. El movimiento feminista en Espana, Barcelona 1977; Martine Weiler, Mujeres activas. Sociologia de la mujer trabajadora en Espaha, Madrid 1977.

Originaltext: Mary Nash: Mujeres Libres. Die freien Frauen in Spanien 1936 - 1978. Karin Kramer Verlag, Berlin 1979. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Freundeskreis Karin Kramer Verlag. Das Copyright des Textes liegt weiterhin beim Karin Kramer Verlag, der Text darf ohne Rückfrage nicht weiter kopiert oder gedruckt werden. Im Karin Kramer Verlag sind zahlreiche Bücher zum Anarchismus erhältlich.


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