Lucia Sánchez Saornil - Die Frauenfrage in unseren Reihen (1935)
I.
Ich danke M.R. Vázquez (1), der mir durch seinen auch hier veröffentlichten Artikel "Die Frau, ein revolutionärer Faktor" - sicher mit einer guten Einstellung - Gelegenheit gibt, mich wieder mit diesem Thema zu befassen. In anderen Zeitungen - "El Libertario", "C.N.T." - und zu verschiedenen Anlässen habe ich einiges von dem gesagt, was man über die Bedeutung der Frau für unsere Bewegung sagen muß.
Aber in dieser Angelegenheit muß man sich klar äußern, sehr klar. Wir dürfen nicht drumherumreden; wir müssen aufrichtig sein, wenn uns die Aufrichtigkeit auch wehtut. Greifen wir selber das Thema auf, auch wenn wir uns die Finger verbrennen. Nur dadurch werden wir auf den Weg der Wahrheit gelangen.
Vázquez beschwert sich darüber, daß unter den Frauen nicht genügend für unsere Ideen geworben werde, worüber ich mich auch verschiedentlich beschwert habe. Nachdem ich die Tatsachen beobachtet und analysiert habe, habe ich folgendes daraus gefolgert: die anarchosyndikalistischen Genossen (nicht der Anarchosyndikalismus selbst!) interessiert die Unterstützung der Frauen nur wenig.
Ich höre jetzt schon einige gegen mich aufbrausen. Beruhigt Euch, Freunde, ich habe noch nicht angefangen. Wenn ich etwas behaupte, bin ich immer bereit, es zu beweisen, und dazu komme ich jetzt. Es gibt nichts Einfacheres als die Propaganda unter den Frauen - wenn nur alle unsere Ziele so einfach zu verwirklichen wären! Propaganda in den Gewerkschaften? Propaganda in den Ateneos? Propaganda zu Hause! Sie ist die einfachste und zugleich die wirkungsvollste. In welchem Haus gibt es nicht eine Frau, eine Genossin, eine Tochter, eine Schwester? Nun gut, hier ist der Knotenpunkt für unsere Frage. Unterstellen wir einmal, die Confederacion Nacional del Trabajo hätte eine Million Mitglieder. Müßte sie nicht zumindest auch eine Million Sympathisanten unter den Frauen haben? Wieviel Arbeit würde es also bereiten, sie zu organisieren, wenn man dies für notwendig hält? Wie man sieht, liegt nicht hier die Schwierigkeit, sie liegt vielmehr auf einer anderen Ebene: im fehlenden Willen der eigenen Genossen.
Ich habe viele Häuser gesehen, nicht nur von einfach Konföderierten, sondern von Anarchisten (!?), die von rein feudalen Normen regiert werden. Wofür sind also die Treffen, die Konferenzen, die Kurse, die ganze Skala an Propaganda gut, wenn nicht Eure Genossinnen, die Frauen aus Euren Häusern zu diesen hingehen? An welche Frauen wendet Ihr Euch dann?
Deshalb geht es nicht zu sagen: "Man muß unter den Frauen werben, man muß die Frauen für unsere Reihen gewinnen"; wir müssen die Frage vielmehr weiter fassen, sehr viel weiter. In ihrer großen Mehrheit sind die Genossen - nehmen wir ein Dutzend gut unterrichtete aus - von den charakteristischen bourgeoisen Verwirrungen mit erfaßt. Während sie gegen das Eigentum eintreten, sind sie selbst wütende Eigentümer. Während sie gegen die Sklaverei kämpfen, sind sie selbst strenge "Gebieter". Während sie gegen die Monopole zetern, sind sie erbitterte Monopolherren. Und das leitet sich alles von dem schlechtesten Konzept ab, das die Menschheit schaffen konnte: die unterstellte "Minderwertigkeit der Frau". Ein Fehler, der die Entwicklung unserer Zivilisation vielleicht um Jahrhunderte verlangsamt hat.
Der letzte Sklave verwandelt sich in einen Souverän und Herren, hat er einmal die Türschwelle zu seinem Heim überschritten. Ein Wunsch von ihm ist, kaum ausgesprochen, gleich ein ausdrücklicher Befehl für die Frauen in seinem Hause. Er, der noch zehn Minuten vorher die bitteren Demütigungen der Bourgeoisie hinuntergeschluckt hat, erhebt sich als Tyrann und läßt die Unglücklichen all die Bitterkeit der vermeintlichen Minderwertigkeit spüren.
Man soll nicht behaupten, ich würde übertreiben. Ich könnte Beispiele in Hülle und Fülle liefern. Die Genossen sind nicht an der Mitarbeit der Frauen interessiert. Ich zitiere wahre Fälle. Ich habe mehrere Male Gelegenheit gehabt, mit einem Genossen zu sprechen, der mir ziemlich vernünftig erschien und der immer unterstrichen hat, daß die Mitarbeit der Frauen innerhalb unserer Bewegung notwendig sei. Auf einer Konferenz im Zentrum fragte ich ihn eines Tages: "Und Deine Genossin, warum ist sie nicht mit zu dem Vortrag gekommen?" Die Antwort hat mich erstarren lassen: "Meine Genossin hat genug damit zu tun, auf mich und meine Kinder aufzupassen."
Neulich bin ich durch die Gänge des Gerichtshofes gegangen. Mit mir war ein Genosse, der einen wichtigen Posten innehatte. Aus einem der Säle kam eine Rechtsanwältin, vielleicht die Verteidigerin irgendeines Arbeiters. Mein Begleiter sah sie schräg an und murmelte, während er ein nachtragendes Lächeln aufsetzte: "Zum Spülen würde ich solche schicken."
Diese beiden, auf den ersten Blick so banalen Episoden, wieviel traurige Dinge erzählen sie uns doch. Sie sagen zunächst, daß wir etwas sehr wichtiges vergessen haben: Während wir all unsere Energien auf die Agitation verwandten, haben wir die Erziehung vernachlässigt. Um die Frauen zu gewinnen, müssen wir die Propaganda nicht unter den Frauen, sondern unter den Genossen selbst betreiben. Wir müssen damit beginnen, aus ihren Gehirnen die Vorstellung ihrer Überlegenheit zu verbannen. Wenn man ihnen sagt, daß alle Menschen gleich sind, dann gehört dazu auch die Frau, obwohl sie im Haus dahinvegetiert und mit dem Kochtopf und den Haustieren gleichgesetzt wird. Man muß ihnen sagen, daß in der Frau die gleiche Intelligenz, eine ausgeprägte Sensibilität und ein Bedürfnis nach Veränderung schlummern: Bevor die Gesellschaft verändert wird, muß das Heim verändert werden; was der Mann für die Zukunft träumt - die Gleichheit und Gerechtigkeit -, muß heute noch in seinen eigenen Reihen eingeführt werden. Es ist absurd, von der Frau Verständnis für die Probleme der Menschheit zu erwarten, wenn der Mann sie zuvor nicht über sich selbst aufklärt, wenn er nicht in der Frau, die mit ihm das Heim teilt, das eigene Bewußtsein weckt, wenn er nicht - endlich - sie als Individuum anerkennt.
Diese und keine andere Propaganda kann unsere Reihen für die Frau anziehend machen. Welche Frau würde nicht denjenigen umarmen, der das "Wunder" vollbringt, ihr Selbst zu enthüllen?
An die Arbeit also, Genossen!
Und wenn wir dies für ein interessantes Problem für die revolutionäre Bewegung halten, dann sollten wir es nicht in unseren Zeitungen schamhaft in den Spalten für Kurzinformationen verstecken. Bringen wir es an das Licht, machen wir es allen sichtbar. (Das gilt Dir, Genosse Chefredakteur). Die Genossen werden mir meine Härte verzeihen, aber sie ist notwendig, wenn wir uns nicht selbst etwas vormachen wollen. Und da ich nicht fertig bin, sage ich Euch nur: bis bald.
II.
Es soll niemand glauben - denn er würde sich vollkommen irren -, daß ich, indem ich meine, die Frau müsse über individuelle Propaganda gewonnen werden, dadurch die Aufgaben vernachlässige, die man nur mit weitergehenden Mitteln vollbringen kann: mit Konferenzen, mit Treffen, mit Zeitungen. Aber bevor sich ein Genosse dazu entschließt, sie anzuwenden, muß er sich klarmachen, was er mit Taktgefühl und Geschick machen will, damit es keine schlechte Arbeit wird. Diese Mittel sollten nicht diejenigen benutzen, die nicht für sich zuvor die Notwendigkeit und den Wert der Methoden anerkannt haben, die wir vorschlagen.
Ich würde mir wünschen, daß jeder gut nachdenkt, bevor er die Lippen öffnet, in sich geht, in sein tiefstes Selbst hineinschaut und soweit vordringt, wie seine Kenntnisse reichen, aber mit absoluter Ehrlichkeit, bereit, die Wahrheit jenseits aller Zwänge der Umwelt zu suchen und versucht, in sich selbst und in der Gesellschaft das Wenige zu finden, was man der Frau belassen hat. Und nur, wenn er entdeckt, daß selbst aus der Ferne, in die man sie verbannt hat, und jenseits der krankhaft-sexuellen Legende, mit der man sie umgeben hat, die Frau als lebendiges Wesen gehandelt und dabei sowohl die Entwicklung des Mannes als auch der Menschheit vorangetrieben hat: Dann, und nur dann, wenn der Nutzen erkannt wäre, den die Eingliederung dieses lebenswichtigen Elements für die zukünftige Gesellschaft mit sich bringen würde, dann wird er auch die gerade entdeckte Wahrheit überall ausposaunen. Diejenigen, die nicht zu diesem Schluß gekommen sind, sollten lieber schweigen und nicht durch schlechte Arbeit die Ergebnisse präjudizieren, die wir uns von dieser Kampagne versprechen.
Es gibt viele Genossen, die ehrlich die Mitwirkung der Frau an den Kämpfen wünschen. Aber dieser Wunsch entspricht nicht einer Veränderung ihrer Vorstellung von der Frau. Sie wünschen sich ihre Beteiligung, weil so leichter der Sieg errungen werden kann, man könnte sagen, als strategisches Moment, ohne daß dies sie auch nur einen Moment an die Autonomie der Frau denken läßt, ohne daß sie aufhören, sich selbst als Nabel der Welt zu begreifen. Sie sind es, die in Zeiten der Unruhe sagen: "Warum werden keine Frauen-Demonstrationen organisiert? Eine Demonstration von Frauen ist oftmals wirkungsvoller, und die Öffentlichkeit merkt ein wenig auf." Sie schreiben auch Artikel, um sie zu gewinnen, wie jener, den wir leider in der Nr. 1.053 unserer Zeitung lesen mußten, der mit R.P. gezeichnet und in Vilasar de Mar abgesandt war.
Dieser Artikel sollte von einer Frau geschrieben worden sein, aber ich erlaube mir, dies zu bezweifeln. Eine Frau, die etwas Geschriebenes an die Zeitung weitergibt, zeigt damit eine gewisse moralische Emanzipation. Und eine moralisch emanzipierte Frau, die durch alle Schmerzen, durch alle Bitterkeit hindurchgegangen ist, die sich dem erbittertsten Kampf mit bekannten und fremden Leuten gegenüber sah: der Spott, die Ironie und die Lächerlichkeit - die Lächerlichkeit, das Bitterste und am schwersten zu Begegnende -, um dieses Ziel zu erreichen, eine solche Frau kann nicht so schreiben. Sie kann nicht die Schuld für alle bisherigen sozialen Systeme der Frau anlasten und dabei die Folgen mit den Ursachen verwechseln.
In einem der Absätze des erwähnten Aufsatzes heißt es: "Nicht nur die Männer, sondern die Gesellschaft im allgemeinen hat eine beschränkte Auffassung von der Frau. Wißt Ihr, warum? Weil viele Frauen in dem Alter, in dem sich Herz und Gehirn herausbilden, sich um nichts kümmern; im Gegenteil, sie ermüden bei all dem sehr schnell, was mit Reflexion und Ruhe zu tun hat. Was wollen sie? Alles, was ihrer Vorstellung und ihrer Eigenliebe schmeichelt." Und weiter vorne: "Dadurch, daß die Frau dauernd ihren Körper im Spiegel betrachtet, vergißt sie, ihr Herz im Spiegel ihres Bewußtseins zu betrachten."
Welch eine Strafe, dies zu lesen! Wer hat behauptet, dies hätte eine Frau schreiben können? Das Gehirn der Frau enthält ganz bestimmt ein so großes Potential an Intelligenz, damit es nicht endgültig im Schatten des Tierischen Schiffbruch erleidet. Tausende von Jahren war ihr Leben auf die vier Wände des Frauengemachs beschränkt. Durch das fehlende weite Gesichtsfeld bildete sich in ihr vielleicht von vornherein geistige Kurzsichtigkeit heraus. Sie lernte nicht, in sich zu schauen, weil man ihr versichert hat, daß nichts in ihr sei. Und jetzt, wenn man Euch nicht zeigt, wie sie ist, sondern wie Ihr sie geschaffen habt, dann haltet Ihr der Frau nur das vors Gesicht, was Ergebnis Eures eigenen Werkes ist.
Die Frau war in der Gesellschaft noch bis gestern ein gering geschätztes Wesen, von der demütigendsten Geringschätzung. Im VIII. Jahrhundert, als das Ideal der Menschheit das religiöse Ideal war, versuchte man, auf einem Konzil in Flandern darüber zu diskutieren, ob die Frau eine Seele habe. Im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, als sich die Wurzeln für die Menschenrechte zu entwickeln begannen, wurde eine Reihe von Abhandlungen veröffentlicht - im spaßigen Ton, um besser spotten zu können -, in denen Männer das Problem aufwarfen, ob die Frau ein menschliches Wesen sei. Und so wurden durch die Jahrhunderte hindurch die Frauen in den von Männern gegründeten und von Männern geformten Gesellschaften auf die letzte Sprosse der zoologischen Leiter verbannt. Man hat sie einige Male Lustobjekt genannt, aber ich versichere Euch, daß sie nicht einmal das war, sondern vielmehr zugleich gequälte und passive Zeugin für die Lust der anderen.
Weiß R.P., wozu man die Frau aufgezogen hat, wozu die Frau während tausender von Jahren erzogen worden ist? Ausschließlich, um die Gefühle des Mannes ("macho") zu erregen. Man hat ihr gesagt, daß sie deshalb geboren wurde, und darauf hat man sie das ganze Leben lang hingelenkt. Ihre einzige Möglichkeit war die Prostitution oder die Ehe - und ist es noch. So hat Carlos Albert in seinem "Amor Libre" (Freie Liebe) schreiben können: "Nehmen wir an, daß eine Kurtisane, anstatt ihr Gewerbe auf der Straße zu betreiben, sicher sein könnte, jeden Tag den gleichen Kunden zur gleichen Zeit vorzufinden-, und wir haben die typische Frau, die gezwungen ist, zu heiraten, um am Gehalt des Mannes beteiligt sein zu können." Nur um diese eine Lösung drehten sich all ihre Bemühungen. Wenn sich keiner darum gekümmert hat, ihr Bewußtsein zu wecken? Wenn ihr niemand gesagt hat, daß in ihr ein Wesen mit Pflichten, aber auch mit Rechten schlummert? Geboren werden, leiden, sterben, das war ihr ganzes Schicksal und ihr ganzes Recht.
Nein, eine emanzipierte Frau kann so ihre Schwestern nicht verurteilen. Wenn sie auf diese riesigen Pléiaden von Sklavinnen schaut, was im allgemeinen noch die Frauen des Landes sind, dann könnte sie nur Beklemmung, Indignation, Drang zum Weinen spüren und dann den starken Wunsch, ihre eigenen Anstrengungen, ihr eigenes Wesen mit denen zu verbinden, die ernsthaft die Möglichkeit einer besseren Welt ins Auge fassen. Sie könnte nur ihren Willen mit der umfassenden Bewegung zur vollständigen Befreiung verbinden, damit auf der Erde ein System gerechteren und menschlicheren Zusammenlebens geschaffen wird - das einzige, in dem die Frau ihre endgültige Befreiung finden kann.
Unsere Propagandisten sollen aber nicht vergessen, daß zu diesen Schlußfolgerungen nur die Frau gelangen kann, die eine gewisse moralische Emanzipation erreicht hat. Diese Emanzipation muß also unser unmittelbarstes Ziel sein. Vergessen wir nicht, daß es nicht der beste Weg ist, ihnen ein Verbrechen vorzuwerfen, von dem sie lediglich Opfer sind - davon abgesehen, daß es wenig solidarisch ist.
III.
Ich erinnere mich an eine gewisse gewerkschaftliche Propaganda-Veranstaltung, an der ich teilgenommen habe. Das war in einer kleinen Provinz-Hauptstadt. Bevor die Veranstaltung begann, kam ein Genosse zu mir, Mitglied des wichtigsten lokalen Komitees. "Durch Deine Anwesenheit als Köder ist es uns gelungen", sagte er mir, "eine ganze Anzahl von Frauen anzulocken. Du mußt sie geißeln; denn sie haben hier eine falsche Vorstellung von dem, was ihre Aufgabe ist. Seit einiger Zeit haben sie angefangen, die Fabriken und Werkstätten zu überfluten, und heute konkurrieren sie mit uns und schaffen damit ein wirkliches Problem von Arbeitslosigkeit. Durch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit verhätschelt, stehen sie andererseits der Ehe reserviert gegenüber. Du mußt ihnen sagen, daß ihre Aufgabe woanders liegt, daß die Frau für höhere Ziele geboren ist, die mehr mit ihrer Natur übereinstimmen; daß sie der Eckstein der Familie ist; daß sie vor allem und über allem Mutter ist, etc." Und in diesem Tenor tischte mir der Genosse ein Geschwätz von mehr als einer halben Stunde auf.
Ohne zu wissen, ob ich lachen oder weinen sollte, ließ ich ihn reden, und als ich an der Reihe war, habe ich den Frauen das gesagt, was ich für richtig hielt. Etwas, das doch sehr weit von dem entfernt war, was er wünschte, wenn es nicht sogar seinen Ansichten widersprach. Heute, lange Zeit danach, frage ich mich, ob jener Genosse wirklich ehrlich war, ob nicht hinter seinen Argumenten eine große Menge männlichen Egoismus steckte.
Es geht nicht an, hier zu beschönigen. Jenseits seines eifrigen Einsatzes für die "sublime Mission" der Frau schimmerte klar und deutlich die zynische Behauptung von Okén durch - den er sicherlich nicht kannte, aber mit dem er durch die unsichtbare Linie des Atavismus verbunden war -: "Die Frau ist lediglich das Mittel, nicht das Ziel der Natur. Die Natur hat nur ein Ziel und ein Objekt: den Mann."
Die Worte des Genossen machen das deutlich, was ich seit Beginn dieser Kampagne behaupte: Weil die Genossen nicht vorbereitet worden sind, waren die Ergebnisse von dem Wenigen, was wir in dieser Hinsicht getan haben, negativ. Man bemängelte vor allem das Fehlen einer einheitlichen Meinung. Und in diesem Punkt ist viel Schaden für unsere Bewegung entstanden.
Der Genosse lamentierte über das, was meiner Meinung nach Anlaß zu größter Befriedigung sein müßte: Daß die Frauen mit der Tradition gebrochen haben, die sie von den Männern abhängig machte und auf der Suche nach ökonomischer Unabhängigkeit auf den Arbeitsmarkt hinausgegangen sind. Ihn schmerzte es, und mich machte es froh; denn ich wußte, daß der Kontakt mit der Straße, mit den sozialen Aktivitäten für die Frau stimulierend wirken und in ihnen das Bewußtsein von ihrer Individualität wachrufen würde.
Sein Lamento war einige Jahre zuvor ein weltweites Lamento, als die ersten Frauen das Heim verließen, um in Fabrik oder Werkstatt zu gehen. Hat man hieraus ein Übel für die Sache der Arbeiter abgeleitet? Die Eingliederung der Frau in den Arbeitsprozeß, der einherging mit der Einführung der Maschinen in der Industrie, machte den Arbeitskampf erbitterter und führte in der Konsequenz zu einem empfindlichen Rückgang der Löhne.
Oberflächlich betrachtet könnten wir so sagen, die Arbeiter hätten recht. Wenn wir aber - immer bereit, die Wahrheit zu suchen - dem Problem auf den Grund gehen, dann werden wir feststellen, daß die Ergebnisse anders ausfallen würden, wenn die Arbeiter sich nicht von ihrer Feindseligkeit der Frau gegenüber hätten mitreißen lassen, die auf das Vorurteil einer vermeintlichen Minderwertigkeit der Frau zurückzuführen ist.
Man hat ihr gegenüber den Kampf im Zusammenhang mit dieser vermeintlichen Minderwertigkeit dargestellt, und man hat es zugelassen, daß sie geringeren Tagelohn erhalten hat. So wurde sie von den Klassen-Organisationen unter der Losung ferngehalten, die gesellschaftliche Arbeit sei nicht Aufgabe der Frau. Von daher schürten sie eine falsche Konkurrenz unter den Geschlechtern. Die Einführung der Maschine paßte in jener Zeit gut zu der vereinfachten Vorstellung vom weiblichen Gehirn, und so wurden Frauen eingestellt, die sich schon lange mit ihrer vermeintlichen Minderwertigkeit abgefunden hatten und den Kapitalisten keine Bedingungen auferlegen wollten. Die Männer blieben auf die härteren Arbeiten oder auf die Spezialisierung verwiesen.
Wenn die Arbeiter, statt dieses Verhalten zu beobachten, die Frau akzeptiert hätten, sie angespornt und auf ihr eigenes Niveau emporgehoben hätten, sie von Anfang an für die Klassen-Organisation gewonnen und den Bossen die gleichen Bedingungen für beide Geschlechter aufgezwungen hätten, dann wäre die Konsequenz sehr viel anders gewesen. Von dem Augenblick an wären sie von den Bossen wegen ihrer physischen Überlegenheit vorgezogen worden; denn sie würde der Schwache und der Starke gleich viel kosten. In der Frau wäre die Sehnsucht nach Überwindung erwacht, und da sie mit den Männern in den Klassen-Organisationen verbunden gewesen wäre, hätte sie schneller auf dem Wege zur Befreiung vorankommen können.
Ich höre schon eine Reihe von Einwänden. Man wird mir sagen, daß man von dem Arbeiter vor vierzig oder fünfzig Jahren nicht solch einen Scharfsinn erwarten durfte, gerade zu einem Zeitpunkt, als er aus seinem Halb-Bewußtsein heraustrat. Aber machen wir uns klar, daß ich mich nicht auf alle Arbeiter beziehe, sondern auf jene, die die Aufgabe übernommen haben, sie anzuleiten. Es ist nicht so sehr meine Absicht, jene Epoche zu kritisieren, sondern jene Genossen zu geißeln, die die gleichen Fehler wieder machen und dabei die Erfahrungen ignorieren.
Vielleicht sagt man mir auch, daß tatsächlich die weibliche Natur der Frau andere Aufgaben aufzwingt, die genauso wichtig und wertvoll sind, wie die gesellschaftliche Arbeit. Auf diese Meinung werde ich demnächst antworten…
IV.
... Wir sehen uns erneut dem Konzept von der Frau und Mutter gegenüber. Denn die Weisen haben nichts Neues entdeckt. Durch alle Zeitalter hindurch hat man die Mutterschaft mystisch überhöht. Zunächst hat man die fruchtbare Mutter überhöht, die Helden, Heilige, Erlöser oder Tyrannen gebiert. Später hat man die erbgesunde Mutter, die gebärende, schwangere überhöht. Im Augenblick werden alle Anstrengungen unternommen, die zynische Behauptung von Okén aufrechtzuerhalten, die ich neulich zitiert habe: "Die Frau ist nicht das Ziel, sondern das Mittel der Natur. Das einzige Ziel und Objekt ist der Mann."
Ich habe gesagt, daß wir uns wieder dem Konzept von der Frau und Mutter gegenüber sehen, aber das ist nicht richtig. Es ist noch viel schlimmer: Das Konzept der Mutter, das das der Frau absorbiert; die Funktion, die das Individuum zerstört.
Man könnte sagen, daß im Verlauf der Jahrhunderte die männliche Welt gegenüber der Frau zwischen zwei extremen Vorstellungen hin und her schwankte: zwischen der Prostituierten und der Mutter, zwischen Verworfenem und Sublimem, ohne bei dem unbedingt Menschlichen stehen zu bleiben: der Frau; der Frau als rationalem, denkendem und autonomem Individuum.
Wenn ihr die Frau in den primitiven Gesellschaften sucht, werdet ihr nur die Mutter des Kriegers finden, die an Wert und Kraft überhöht ist. Wenn ihr sie in der römischen Gesellschaft sucht, werdet ihr die fruchtbare Matrone finden, die die Bürger der Republik versorgt. Wenn ihr sie in der christlichen Gesellschaft sucht, dann werdet ihr sie bereits in die Mutter Gottes verwandelt sehen. Die Mutter entsteht als Produkt der männlichen Reaktion, gegenüber der Prostituierten, die er ganz als Frau sieht. Sie ist die Vergötterung der Gebärmutter, die ihn beherbergt hat. Aber - und niemand soll sich empören; denn wir sind unter Anarchisten, und unsere vordringlichste Absicht fordert, die Dinge mit ihren richtigen Begriffen zu belegen und alle falschen Vorstellungen zu zerstören, so gewichtig sie auch sein mögen - die Mutter als sozialer Wert hat bis jetzt noch nicht den Ausdruck eines Instinktes angenommen. Dieser Instinkt wird umso wichtiger, als die Bedeutung des Lebens der Frau während der letzten Jahre ständig um ihn kreiste - aber ein Instinkt letzten Endes. Lediglich bei einigen höherstehenden Frauen hat dieser Wert die Ebene der Gefühle erreicht.
Die Frau dagegen ist das Individuum, das denkende Wesen, die höhere Einheit. Bei der Mutter wollt Ihr die Frau ausschließen, wenn Ihr doch Frau und Mutter haben könnt, weil die Frau niemals die Mutter ausschließt.
Ihr verschmäht sie als bestimmenden Wert für die Gesellschaft, indem Ihr der Frau nur passiven Wert zubilligt. Ihr verzichtet auf die direkte Beteiligung einer intelligenten Frau und zieht dafür einen vielleicht unfähigen Sohn vor. Ich wiederhole: Man muß die Dinge wieder in ihren korrekten Begriffen fassen. Auf daß die Frauen vor allem Frauen werden! Nur als Frauen habt Ihr dann die Mütter, die Ihr braucht!
Mich wundert wirklich, daß Genossen dies vertreten, die sich Anarchisten nennen, von dem wissenschaftlichen Prinzip vielleicht geblendet, worauf das neue Dogma aufzubauen vorgibt. Ihnen gegenüber kommt mir folgender Zweifel: Wenn sie Anarchisten sind, sind sie nicht ehrlich; wenn sie ehrlich sind, sind sie keine Anarchisten.
In der differenzierten Theorie ist die Mutter mit dem Arbeiter gleichgestellt. Für einen Anarchisten steht vor dem Arbeiter der Mensch, vor der Mutter muß die Frau stehen. (Ich meine, im Sinne der Gattung). Denn für einen Anarchisten steht vor allem und über allem das Individuum.
V.
... Zwei Äußerungen - eine sehr gescheite von M.R. Vázquez und eine sehr konkrete von der mutigen Maria Luisa Cobos - bringen mich heute dazu, ein Problem zu behandeln, das im Augenblick die Welt bewegt: das sexuelle. Es ist derart mit dem Problem verbunden, das wir gerade behandelt haben, daß man sagen könnte, das eine bildet die Grundlage für das andere. Ohne das sexuelle Problem gäbe es kein Problem des Feminismus in der Gesellschaft. Ich werde das Problem nicht an sich behandeln - andere sind kompetenter als ich -, sondern so, wie es sich den jungen Genossen stellt. Es kann im Guten und im Schlechten die Aufgabe berühren, die Frau für die libertäre Bewegung zu gewinnen.
Der Genosse Vázquez hat neulich in bezug auf das Verhalten der Genossen gegenüber den Frauen geschrieben: "Seien wir in der Lage, die Bestie zu beherrschen und sehen wir die Schwester so, wie wir den Bruder sehen, wenn wir vom Lohn reden." Und Maria Luisa Cobos sagte konkreter: "Vor kurzem wollte man hier eine gemischte Gruppe bilden, aber es gelang nicht, weil - auch wenn es schwer fällt zuzugeben - schon bei den Vorbereitungen 'Don Juan' erschien anstelle einer orientierenden Person und damit bewirkte, daß die anderen sich zurückzogen." Beide haben eine Wunde berührt, die mich schon lange schmerzte.
Es ist zwar bedauerlich, aber die Kampagnen für eine größere sexuelle Freiheit sind nicht immer von unseren jungen Genossen verstanden worden und haben in vielen Fällen eine große Zahl von Grünschnäbeln beiderlei Geschlechts angezogen, die sich kaum für die sozialen Fragen interessieren und die lediglich ein günstiges Feld für ihre amourösen Erfahrungen suchen. Es gibt sogar einige, die die Freiheit als eine Einladung zur Ausschweifung interpretiert haben und die in jeder Frau, die an ihnen vorbeigeht, nur ein Objekt für ihr Verlangen sehen.
"Unter der männlichen Jugend", sagte vor kurzem Dr. Marti Ibánez (2), "ist dies ein schweres Problem. Diese heikle Frage wird dann aufhören ein Problem zu sein, wenn der Irrtum verschwindet, der so leidvolle Folgen nach sich gezogen hat: der Irrtum, das Sexuelle mit dem Genitalen zu verwechseln."
Die gesamte sexuelle Kultur unserer Jugend, allgemein in einigen nicht immer von kompetenten Leuten geschriebenen Broschüren begründet, reduziert sich auf einige rudimentäre Kenntnisse über die Physiologie; der moralische Kern bleibt unverändert. Von daher erheben sie die genitale Potenz zum genuinsten Ausdruck für Männlichkeit. Dagegen gelingt es ihnen nicht, ihren höheren moralischen Wert zu erfassen. Freiheit ist für sie der Gegensatz zu Kontrolle, und mehr nicht. Da hört für sie das Problem auf. Gegenüber der Frau verhalten sie sich im allgemeinen genauso wie ihre Vorfahren.
In unseren Zentren, die von der weiblichen Jugend häufig besucht werden, habe ich beobachtet, daß bei Gesprächen zwischen beiden Geschlechtern selten um das Problem herumgeredet wird; es sei denn, um einfach über ein berufliches Problem zu reden. Sobald ein Junge sich einem Menschen des anderen Geschlechts zuwendet, taucht wie durch Zauberhand die sexuelle Frage auf, und die Freiheit zu lieben, scheint das einzige Gesprächsthema zu sein. Ich habe zwei Reaktionsweisen der Frauen gegenüber diesem Verhalten beobachten können: einmal sich sofort der Aufforderung ergeben - ein Weg, bei dem die Frau sehr bald auf ein Spielzeug für die Launen der Männer reduziert wird und sich dabei von jedem sozialen Veränderungsprozeß entfernt -; zum anderen die Enttäuschung, bei der die Frau das größere Bedürfnis nach Veränderung mitbrachte und weitergehende Ziele verfolgte, sich enttäuscht zurückzieht und schließlich ganz aus unseren Reihen verschwindet. Nur einige wenige mit ausgeprägter Persönlichkeit können sich davon befreien; denn sie haben den Wert der Dinge selbst messen gelernt.
Die Reaktion der Männer bleibt trotz ihrer pompösen sexuellen Kultur die gleiche wie einst. Sie wird dann offenbar, wenn sie nach verschiedenen amourösen Zwischenspielen die Frau finden, die sie als Gefährtin betrachten: der "Don Juan" verwandelt sich dann in einen "Othello", und die Frau wird der Bewegung entzogen, wenn nicht beide verschwinden.
Den Fall, den Maria Luisa Cobos aufzeigt und den ich weiter oben beschrieben habe, müssen wir ständig gegenwärtig haben, wenn wir Gruppen, Gewerkschaften usw. zu bilden versuchen. Wenn wir versuchen, ohne jede kulturelle und ethische Vorbereitung unsere Mädchen plötzlich mit dem Bereich der freien Liebe vertraut zu machen, wie sie unsere Jungen verstehen, dann ist das schlicht Unsinn. Wenn in ihrem Geist und in ihrer Psychologie nach wie vor die übrigen Vorurteile bleiben, die ihnen die Gesellschaft vermittelt hat, so bedeutet ein Vertrautmachen mit den sexuellen Freiheiten die linkische Zerstörung des falschen oder tatsächlichen Gleichgewichts ihres Lebens.
Es würde sich lohnen, die sexuelle Erziehung unserer Jugend in dieser Materie erfahrenen Rednern zu übertragen, die ihnen dabei nützliche Lesehinweise geben; denn in diesem Bereich gibt es neben sehr brauchbaren Büchern und Broschüren auch eine große Menge an Literatur, die eher verwirrend wirkt, als Probleme zu lösen.
Abschließend meine ich, daß das sexuelle Problem der Frau nur mit der Lösung der ökonomischen Probleme einhergehen kann - in der Revolution, nirgends sonst. Alles andere würde nur bedeuten, die gleiche Sklaverei mit einem anderen Namen zu belegen.
Fußnoten:
1.) Anm.d.Übers.: Mariano R. Vázquez, Sekretär der regionalen Konföderation Katalonien der C.N.T. und während des Bürgerkrieges Sekretär des Nationalen Komitees der C.N.T. Vgl. dazu die Biografie von Manuel Munoz Diez, Marianet. Semblanza de un hombre, Mexico 1960.
2.) Anm.d.Übers.: Felix Marti Ibánez (1913-1974), Arzt und Psychologe, auf Vorschlag der C.N.T. Untersekretär für Gesundheitsfragen der Republik und Leiter der Gesundheits- und Sozialhilfe-Abteilung in der Provinzregierung Kataloniens. Berühmt wurde er aber vor allem durch seine "psychisch-sexuelle Beratung", einer Ratgeber-Spalte in der Zeitschrift "Estudios" während der dreißiger Jahre. Diese populären und vielgelesenen und diskutierten Artikel sind jetzt nachgedruckt in: Consultorio psiquico-sexual, Dr. Felix Marti Ibánez, Barcelona 1976.
Aus: "Solidaridad Obrera" vom 26.9., 2.10., 9.10., 15.10. und 30.10. 1935 (gekürzt)
Originaltext: Mary Nash: Mujeres Libres. Die freien Frauen in Spanien 1936 - 1978. Karin Kramer Verlag, Berlin 1979. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Freundeskreis Karin Kramer Verlag. Das Copyright des Textes liegt weiterhin beim Karin Kramer Verlag, der Text darf ohne Rückfrage nicht weiter kopiert oder gedruckt werden. Im Karin Kramer Verlag sind zahlreiche Bücher zum Anarchismus erhältlich.