H.W. Gerhard - Der Anarchosyndikalismus in Deutschland
Infolge der jahrhundertelangen Hohenzollernherrschaft in Preußen und später in ganz Deutschland, wodurch nicht nur äußere, staatliche Verhältnisse bestimmt wurden, sondern auch der ganze Volkscharakter verdorben wurde, ist Deutschland eines der Länder, in denen der zentralistisch-autoritäre Geist am tiefsten Wurzel geschlagen hat. Hinzu kommt, dass in anderen europäischen Ländern, insbesondere in Spanien, Frankreich, England sich schon frühzeitig der Einheitsstaat mit einer zentralen Regierung bildete, so dass die Volksmassen die Schäden des Zentralismus am eigenen Leibe spürten und mehr oder weniger einen gesunden, föderalistisch-freiheitlichen Sinn bewahrten. In Deutschland (ebenso in Italien), hingegen entwickelten sich mehrere oder viele Kleinstaaten, die mit ihren Zollschranken in der Zeit des Industrialismus und des Welthandels ein starkes Hemmnis für die wirtschaftliche Entwicklung bildeten. Die natürliche Folge war das starke Sehnen nach der „nationalen Einheit“, das die bürgerlichen Revolutionäre des ganzen 19. Jahrhunderts in diesen Ländern beseelte. Diese Einstellung wirkt noch heute nach, und sicher ist dies eine der Hauptursachen, warum die Sozialisten Deutschlands fast aller Richtungen auf den staatlichen Zentralismus schwören.
Weiter entwickelten sich Industrie und Proletariat viel rascher, als der Ausbau des modernen demokratisch-liberalen Verfassungsstaates erfolgen konnte. Die Bourgeoisie hatte also bereits zu einer Zeit mit einer starken proletarisch-revolutionären Bewegung zu rechnen, als sie ihre eigene Herrschaft gegenüber dem Feudalismus noch gar nicht durchgesetzt hatte. Aus Angst vor dem „roten Umsturz“ warf sich deshalb die deutsche Bourgeoisie etwa um 1870 vollkommen dem Bismarckschen Militärregime in die Arme, verzichtete zugunsten der Junker auf politische Herrschaft und begnügte sich mit dem wirtschaftlichen Profit. Der Bismark’sche Staat lastete wie ein Alpdruck fast 50 Jahre auf der deutschen Arbeiterschaft und veranlasste die deutsche Arbeiterbewegung infolgedessen, ihre rein proletarischen, wirtschaftlich-sozialen Kampfaufgaben zurückzustellen und dafür zunächst den Feudalstaat zu bekämpfen. Diese politische, eigentlich bürgerlich-demokratische Tätigkeit der Arbeiterbewegung hatte mehrere äußerst verhängnisvolle Folgen:
- erstens ging das Schwergewicht des Kampfes auf die Partei (Sozialdemokratie) über, wirtschaftliche oder kulturelle Aufgaben wurden vernachlässigt,
- zweitens zog die Partei außer den Arbeitern auch mehr und mehr die kleinbürgerlich-oppositionellen Elemente an und wurde daher selbst kleinbürgerlich-reformistisch,
- drittens prägte sich den Arbeitern die Vorherrschaft der Parteipolitik, der „Wahlschlachten“ usw. derart ein, dass sie den wirklichen sozialrevolutionären und wirtschaftlichen Kampf darüber fast vergaßen.
Als nun im November 1918 der deutschen Arbeiterschaft die politische Macht in die Hände fiel, wusste sie damit nichts anderes anzufangen, als eine Nationalversammlung zu wählen, in der die bürgerlichen Parteien die Mehrheit hatten. Man begnügte sich mit der politischen Demokratie, zerstörte die Anfänge des Rätesystems fast völlig und dachte nicht im Traume daran, den Kapitalisten und Großgrundbesitzern ihre wirtschaftliche Macht durch Enteignung der Betriebe und Latifundien zu nehmen.
Allerdings – nicht alle Arbeiter waren von bürgerlicher Denkweise durchdrungen. Unter den Revolutionären nahmen die Syndikalisten, die vor dem Kriege nur eine kleine Organisation mit einigen Tausend Mitgliedern gewesen waren, einen ehrenvollen Platz ein. Man kann die organisierten Syndikalisten der Revolutionsjahre 1919-21 etwa auf 100.000 annehmen, ihr Einfluss erstreckte sich aber auf Millionen. Bei verschiedenen Generalstreiks, besonders im Bergbau und der Schwerindustrie Rheinland-Westfalens, gingen sie führend voran.
Aber die herrschende Sozialdemokratie verstand es, durch gedungene reaktionäre Söldnerscharen alle Bewegungen des Proletariats niederzuschlagen. Und als nun Ende 1923 die Währung stabilisiert wurde und sich die Republik festigte, waren alle wirklich revolutionären Bewegungen in äußerst schwieriger Lage. Lediglich der Kommunistischen Partei gelang es, sich als Massenpartei zu behaupten, weil sie entschieden in das parlamentarische Fahrwasser einbog. Alle anderen revolutionären Bewegungen gingen praktisch zugrunde, und der deutsche Anarcho- Syndikalismus wurde wieder auf die Rolle der Vorkriegszeit zurückgedrängt.
In den letzten Jahren ging die deutsche Bourgeoisie fast vollständig in das Lager des Faschismus über und warf die Sozialdemokratie aus der Leitung des Staates heraus, Ein Widerstand des Proletariats machte sich kaum bemerkbar, weil durch die ungeheuren Enttäuschungen seit der Revolution, durch die Spaltungen usw. große Mutlosigkeit Platz gegriffen hatte, die erst wieder etwa seit Frühjahr 1932 einem gewissen Kampfmut gewichen ist.
Heute gibt es in Deutschland unter den Massenparteien eigentlich überhaupt nur diktatorisch-zentralistische; die KPD., die mehr und mehr die Rolle der Vorkriegssozialdemokratie einnimmt, ist offen diktatorisch, ebenso die Nationalsozialistische Partei, die das Gros des Bürger- und Bauerntums umfasst. Und die Mittelparteien, Sozialdemokratie und Katholiken, haben die Errichtung der Halbdiktatur des Reichskanzlers Brüning widerspruchslos hingenommen und Brüning zwei Jahre lang gestützt.
Man kann sich im Ausland kaum einen Begriff machen, wie tief der Glaube an die Allmacht des Staates in der deutschen Arbeiterschaft sitzt. Infolgedessen blickt alles wie gebannt auf die „Eroberung der politischen Macht“. Dies ist selbstverständlich ein denkbar ungünstiger Boden für die anarchosyndikalistische Lehre von der direkten Aktion und der sozialen Revolution.
Die Anerkennung des bürgerlichen Staates durch die Sozialdemokratie im November 1918 brachte die Ersetzung des Sozialismus durch die Sozialpolitik mit sich. Tatsächlich gingen die deutschen reformistischen („freien“) Gewerkschaften restlos im sozialen Versicherungswesen, in Tarif-, Schlichtungs- und Arbeitsgerichtssachen auf. Wirkliche Kämpfe wurden so gut wie gar nicht mehr geführt, immer überließ man der staatlichen Schlichtungsbehörde die Entscheidung. Staatlicher und gewerkschaftlicher Apparat verfilzten sich dermaßen, dass eine Trennung fast unmöglich ist. Wenn die reformistischen Gewerkschaften auf diese Weise ein praktisches Monopol in der Vertretung der Arbeiter bekamen, so wurden die revolutionären Verbände völlig entrechtet. Es gehört deshalb heute ein bedeutendes Maß von revolutionärem Bewusstsein dazu, einem revolutionären Verbande anzugehören, um so mehr, als die ungeheure Arbeitslosigkeit den Unternehmern erlaubte, in den Betrieben rücksichtslos mit Revolutionären aufzuräumen. 80 bis 90% der deutschen anarchosyndikalistischen Organisation, der Freien Arbeiter Union Deutschlands, sind arbeitslos, sehr viele seit Jahren.
Zu diesen ungünstigen äußeren Umständen kommen innere Schwächen der deutschen Bewegung, die nicht verschwiegen zu werden brauchen, Erkenntnis ist noch immer der erste Schritt zur Beseitigung von Fehlern gewesen.
In den Revolutionsjahren litt die Bewegung an geistiger Unklarheit. All die vielen revolutionären Arbeiter, die ohne jede Erfahrung und Tradition zur Bewegung stießen, brachten sehr viele unklare Ideen mit, die man noch dazu oftmals gleich in die Praxis umsetzen wollte, was die Bewegung stark geschädigt hat. Insbesondere ist hier die Siedlungsidee und die maßlose Übertreibung des antiautoritären Prinzips zu nennen, was zur Atomisierung führte. 1927 bildete sich sogar eine „Opposition“, die freilich nie irgendeine Bedeutung erlangen konnte.
In den Jahren seit 1922 etwa schritt dann die Klärung vorwärts. Die IAA, hat hierzu wesentlich beigetragen durch Übermittlung von ausländischen Erfahrungen. Besonders auf dem letzten Kongress der FAUD. in Erfurt 1932 gelangte man zur Ausarbeitung einer wirklichen taktischen Linie.
Aber diese äußeren und inneren Widerstände haben den Mut und die Tatkraft unserer Genossen nur gestählt. Wir verfügen auch heute noch in hunderten von deutschen Orten über Kerne von befähigten und opferwilligen Kämpfern, die Tausende und Zehntausende von Zeitungen und Broschüren absetzen, die bei wichtigen Ereignissen Versammlungen abhalten, die auf den Arbeitsnachweisen und in Versammlungen gegnerischer Organisationen ihren Mann stehen. In manchen Industrien, wo unsere Genossen über größeren Einfluss verfügen, treten sie bei Streiks und anderen Kämpfen führend hervor. Die Bewegung ist in der Lage, eine Wochenzeitung „Der Syndikalist“, eine alle zwei Wochen erscheinende Arbeitslosenzeitung „Der Arbeitslose“ und ein theoretisches Monatsorgan „Die Internationale“ herauszugeben. Ferner ist ihr ein leistungsfähiger Verlag mit reichhaltigem Bücherlager angegliedert und eine Büchergilde, die bereits ein Dutzend Werke freiheitlichen Charakters herausgebracht hat, steht ebenfalls auf unserem Boden. Die Zahl der örtlichen und Berufsorgane ist groß. In letzter Zeit wurde sogar ein solches Blatt für Landarbeiter und Kleinbauern geschaffen. Das nächste Ziel ist, ein Funktionärblatt herauszubringen, um die inneren Fragen der Bewegung behandeln zu können.
Eng mit der FAUD. arbeitet die Jugendorganisation, die Syndikalistisch-anarchistische Jugend, zusammen, die ein gedrucktes, allerdings unregelmäßig erscheinendes Organ herausgibt, „Junge Anarchisten“. In neuerer Zeit hat eine starke Tätigkeit zur Schaffung von Kindergruppen eingesetzt. Auf diesem Gebiet sind die Erfolge ziemlich groß, es existiert sogar ein monatlich erscheinendes freiheitliches Kinderblatt „Proletarisches Kinderland“. Diese Kinderbewegung berechtigt zu den besten Hoffnungen, wie ja überhaupt die Revolutionierung der Erziehungsmethoden in der Zeit seit 1918 der stärkste Faktor für eine Zersetzung des autoritären Geistes in Deutschland ist.
Bemerkenswert ist schließlich noch der bedeutende Einfluss der Anarchosyndikalisten in anderen Arbeiterorganisationen sportlicher oder kultureller Art. insbesondere ist hier die „Gemeinschaft proletarischer Freidenker“ zu erwähnen, eine überparteiliche, revolutionär-antikirchliche Organisation mit ca. 15.000 Mitgliedern. Selbstverständlich benutzen die Syndikalisten ihren Einfluss nicht, um andere Richtungen an die Wand zu drücken, sondern sie haben die Führung an vielen Orten ganz einfach auf Grund ihrer überwiegenden Arbeit und Aktivität. Ein trübes Kapitel ist leider die Solidaritätsleistung gegenüber Verfolgten, vor allem wegen der Finanznöte. Es sind jedoch Bestrebungen vorhanden, einen besonderen Solidaritätsfonds für derartige Zwecke zu schaffen. Dies wird um so notwendiger sein, als gerade jetzt die Verfolgungen gegen die revolutionäre Bewegung stark zunehmen. Ausnahmegerichte, faschistische Überfälle, Verbote der Zeitungen, Beschlagnahmen, Versammlungsverbote, Verhaftungen und andere Schikanen hageln nur so. Der „Syndikalist“ wurde innerhalb eines Jahres dreimal verboten, die „Internationale“ einmal. Viele unserer Genossen sitzen im Gefängnis, mehrere davon sind mit langjährigen Zuchthausstrafen bedroht. Dies zeigt, dass unsere deutsche Organisation, trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche, eine außergewöhnliche Aktivität entwickelt und von der Reaktion danach behandelt wird.
Es ist zu hoffen, dass das deutsche Proletariat die derzeit herrschende Reaktion bald überwindet und dass damit auch die Bahn für eine neue Entwicklung der FAUD. frei wird. Sicher wird das nicht ohne schwere Kämpfe abgehen, in denen die deutschen Anarchosyndikalisten an ihrem Platze zu finden sein werden. Ob sich dies sofort in organisatorischen Erfolgen auswirken wird, wissen wir nicht. Auf jeden Fall aber sind die deutschen Anarchosyndikalisten mit eiserner Entschlossenheit am Werke, ihrer Idee diejenige Stellung im deutschen Proletariat zu schaffen, die ihr gebührt und der IAA. in Deutschland, dem ehemaligen Bollwerk der Wilhelminischen Autorität, eine Sektion zu geben, die des großen Beispiels anderer Länder würdig ist.
H.W. Gerhard (Gerhard Wartenberg)
Aus: "I.A.A. 10 Jahre internationaler Klassenkampf / Gedenkschrift zum zehnjährigen Bestehen der Internationalen Arbeiter-Assoziation" / Berlin, 1932
Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2011/06/11/geschichte-der-iaa-teil-11/