Maximoff - Die revolutionärssyndikalistische Bewegung in Rußland (1926)

a) Die vorgeschichtliche Epoche der Gewerkschaftsbewegung

Die russische Gewerkschaftsbewegung ist im Vergleich mit der westeuropäischen noch sehr jung. Auf Grund der späten industriellen Entwicklung ist auch ein eigentlich industrielles Proletariat eine verhältnismäßig junge Erscheinung in Rußland. Kurz nach der Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft (1861) hat Rußland sich schnell kapitalisiert und proletarisierte so den Handwerker und die Bauern. Seit dieser Zeit beginnt das Proletariat sich zusammenzuschließen als Klasse. Die Lage des Proletariats, das sich teils aus Handwerkern, teils aus Bauern ohne Kultur und Schule zusammensetzt, das unterdrückt war, schreckliches Unrecht erdulden mußte und selbst nur primitive Bedürfnisse hatte, war trostlos: der aufstrebende Kapitalismus, der unter dem Schutz der absoluten Monarchie stand, betrieb eine räuberische Ausbeutung. Die Lage des Proletariats kann kurz folgendermaßen charakterisiert werden: Absolute Rechtlosigkeit! Unbegrenzte Willkür der Fabrikverwaltungen! Der Arbeitstag ausgedehnt bis auf 16 und 17 Stunden! Entlohnung nicht einmal für eine Hungerexistenz ausreichend! In Mietskasernen unausdenkbarem Schmutz und Nässe ausgesetzt! Gesteigerte räuberische Ausbeutung von Frauen und Kinderarbeit! Abwesenheit von Kampf Organisationen der Arbeiterklasse!

Selbstverständlich konnte man auch in dieser vorgeschichtlichen Periode der russischen Gewerkschaftsbewegung (bis 1905) nicht ohne Streiks auskommen, die oft elementar ausbrachen und stürmisch verliefen und immer von der militärischen Macht niedergeschlagen wurden. Wohl gab es schwache und teilweise Versuche, Organisationen zu bilden. In den Fabriken bildeten sich vor, während und nach den Streiks gesetzlich erlaubte und unerlaubte Komitees, auch wurden Versuche unternommen, Konsumgenossenschaften zu organisieren. Während dieser Periode war der hauptsächlichste organisierende Faktor der Kapitalismus mit seinen Folgen, Elend und Rechtlosigkeit. Die revolutionäre Propaganda außerhalb der Betriebe war schwach. Immerhin hatte die Propaganda dank der nihilistischen und der "In's Volk"-Bewegung, die von der Partei "Semlja i Wolja" unter dem Einfluß Bakunins und seiner Ideen ausging, nicht nur auf den Dörfern, sondern auch in den Fabriken einen gewichtigen Einfluß. Bald nachher fanden die Ideen von Karl Marx in Rußland Eingang. Doch die Partei der "Semlja i Wolja" und ihre anarchistische Fraktion "Tscherny Peredel" sind zerfallen und untergegangen. An Stelle von "Semlja i Wolja" bildete sich die Partei "Narodnaja Wolja", welche allmählich politisch und zentralistisch wurde. In dieser Zeit ging die Jugend unmittelbar unter die Arbeiter, so z.B. der Kammerpage "Seiner Hoheit des Zaren", der zukünftige Theoretiker des Anarchismus, P. A. Kropotkin, der sich abends Arbeiterkleider anzog und unter dem Namen Borodin Propaganda in den Arbeitervierteln machte. Das war eine allgemeine Erscheinung jener Zeit.

Die Arbeit der Befreiungsbewegung jener Zeit brachte es nicht zu gewerkschaftlichen Organisationen, immerhin aber wirkte sie in diesem Sinne und bereitete eine derartige Arbeit vor. So lagen die Dinge bis zum Jahre 1881, bis zur Ermordung des Zaren, d.h. bis zum Abbau der Partei "Narodnaja Wolja". Von diesem Momente an begann eine ungeheure Reaktionsperiode, die sich des Regimes Arokschejew und Nikolaus I. nicht zu schämen hatte. Von da an wie auch nach der Befreiung der Bauern war das Proletariat sich selbst überlassen. In den neunziger Jahren bildeten sich letzten Endes Gruppen; ihre Zusammenarbeit jedoch war sehr schwach. So z.B. verlief eine allgemeine Streikbewegung in Südrußland im Jahre 1902, die ihren Anfang in Baku hatte, ohne Mitwirkung der politischen Parteien und Gruppen. Von dieser Zeit an begann der Einfluß der politischen Parteien, insbesondere der der Sozialdemokratie, in den Reihen der Arbeiterschaft zuzunehmen. Die Arbeiterbewegung nahm mehr und mehr eine sozialdemokratische Färbung an. Die Sozialdemokratie stellte sich an die Spitze der Arbeiterbewegung. Das Bestreben der Arbeiterschaft, sich in revolutionären Organisationen zusammenzuschließen, war so stark, daß die Regierung ihrerseits versuchte, die Arbeiterschaft mit Hilfe ihrer Agenten (Sabatoff) im Sinne der absoluten Monarchie, Kirche und Patriotismus zu organisieren. Dieser Versuch, der in der Geschichte unter den Namen Sabatoffschina und Polizeisozialismus bekannt ist, scheiterte jedoch bald. Die vorgeschichtliche Periode der Gewerkschaftsbewegung endete mit dem tragischen Ereignis des 9. Januar im Jahre 1905, mit der Erschießung von Arbeitern, die mit friedlich patriotischen Zielen unter Führung des Geistlichen Gapon sich dem Winterpalais näherten, in dem sich der Zar befand.

b) Die geschichtliche Epoche der Gewerkschaftsbewegung

1. Die illegale Periode

Die heutige Gewerkschaftsbewegung beginnt nach dem 9. Januar 1905; bis zur Revolution 1917 wurde sie praktisch und ideell ausschließlich von den Sozialdemokraten, hauptsächlich von den Menschewiki, geführt. Die Sozialdemokraten gründeten die gewerkschaftlichen Organisationen nach deutschem Muster: zentralistisch, parlamentaristisch, neutral, arbeitsgemeinschaftlich, Tarifvertragspolitik, Achtstundenarbeitstag, staatliche Arbeiterversicherung, Krankenkassen, Kampf für Tagesinteressen, politischer Kampf usw. Das ist ihr Inhalt und Programm. Die ersten Organisationen bildeten sich in Moskau im Frühjahr 1905, und zwar bestanden diese aus kaufmännischen Angestellten und städtischen Arbeitern; im Juni desselben Jahres bildete sich in Petrograd eine Organisation der Arbeiterschaft im graphischen Gewerbe, so bildeten sich auch in der Provinz halb ungesetzliche Vereinigungen von Angestellten, Drogisten und Uhrmachern. So ging es weiter bis zu den "Befreiungstagen", 17. Oktober 1905. Von dieser Zeit an beginnt die zweite Periode der Gewerkschaftsbewegung: die Periode schnellen spontanen Wachsens.

2. Die Gründungsperiode

Die Oktoberbefreiungen gaben der Gewerkschaftsbewegung großen Antrieb; die Arbeiter beeilten sich, sich zu organisieren; allein in Petrograd bildeten sich im Oktober und November ungefähr 40 Organisationen. Die Organisationen umfaßten beinahe alle Berufe. Die Aufrufe zur Bildung von Organisationen fanden eifrig Förderung, die Arbeiterversammlungen waren überall überfüllt. Alles stand im Zeichen der Idee gewerkschaftlichen Zusammenschlusses; sogar die Schornsteinfeger und auch die Wäscherinnen organisierten sich. In diesem Tempo ging es weiter bis zum Monat Dezember. Im Dezember ging die Regierung zum Angriff über. Organisationen wurden aufgelöst, Versammlungen wurden verboten; trotzdem lebte im Januar die Bewegung wieder auf. Nun setzte die dritte Periode ein.

3. Die Periode der Organisationen

Das Gesetz vom 4. März 1906 in Anwendung bringend, ging die Mehrzahl der Organisationen dazu über, sich auf gesetzlichen Boden zu stellen; sie konstatuierten sich und arbeiteten bestimmte Organisationsformen aus. Nun hatten die Organisationen auf konstitutioneller Basis die Möglichkeit, in engere Fühlung mit den Massen der Arbeiterschaft zu kommen. Der ursprüngliche Enthusiasmus war jedoch nicht mehr vorhanden. Immerhin dehnten sich die Organisationen weiter aus; eine (sozialdemokratische) Gewerkschaftsliteratur wurde neben Organisationsblättern gedruckt und verbreitet.

Die Reaktion wurde aggressiver und im Juli unternahm die Regierung ihren zweiten Angriff auf die Gewerkschaften; doch diese waren jetzt schon zu stark, um völlig vernichtet werden zu können. Die Gewerkschaften widerstanden dem Angriff der Regierung und die Bewegung trat ein in die vierte Periode ihrer Existenz.

4. Die halbgesetzliche Periode

Das Gesetz vom 4. März 1906 blieb bestehen, nur war es unmöglich, es in die Praxis umzusetzen. Trotzdem die Vereine gesetzlich zugelassen waren, waren sie gezwungen, halb geheim, oder sogar ganz geheim zu arbeiten und ihre Tätigkeit flaute immer mehr ab. Die Last dieser Periode hatte eine Verhältnismäßig kleine Anzahl organisierter Arbeiter zu tragen. Die breite Masse blieb unbeteiligt und passiv. So ging es weiter bis zu den Ereignissen in "Lena". Das war zu jener Zeit, als in dem ausgedehnten Sibirien der Kommandeur Trestschenkow friedliche Streikende der Goldgruben erschießen ließ. Das war am 4. April 1912.

Diese Ereignisse brachten das Proletariat zum Erwachen. Die Gewerkschaften lebten wieder auf; eine Welle von Proteststreiken, die von ökonomischen Streiks gefolgt waren, fegte übers Land. Die Arbeiter eroberten zurück, was sie vorher verloren hatten: das Gesetz von den Krankenkassen, Versicherungskasse usw. Die Streikbewegung ging weiter und erreichte ihren höchsten Punkt im Jahre 1914. Am Tage der Kriegserklärung dehnte sich die Bewegung soweit aus, daß in Petersburg beinahe Barrikaden gebaut wurden. Die Regierung war jedoch noch stark genug, um die Aktion zu unterdrücken. Während des Krieges trat die Bewegung in eine neue Phase.

5. Die Kriegsperiode 1914 — 1917

Die Regierung benutzte den Krieg zur Stärkung ihrer reaktionären Politik; sie mobilisierte das Industrieproletariat, dessen Stelle von der ländlichen Bevölkerung übernommen wurde. So standen der Industrie keine qualifizierten Arbeiter mehr zur Verfügung, die alle zum Kriegsdienst eingezogen worden waren. Die Arbeiter wurden dann jedoch zum Teil als Soldaten in die Industrie zurückgeführt. Die Belegschaft der Betriebe bestand aus Soldaten, Bauern, Kleinbürgern, teils aus kleinen Fabrikanten, Frauen und Kindern, die so alle die Möglichkeit hatten, sich dem direkten Kriegsdienst zu entziehen. Das Proletariat war als kompakte Masse im Zerfall begriffen. Hierzu kam, daß sich im Schutze der industriellen Bourgeoisie eine sozialdemokratische Richtung unter Gwosden ("Gwosdentzy") entwickelte, die für den Krieg eintrat und in den kriegsindustriellen Komitees mitarbeitete.

1917 trat eine Änderung ein. Die Unzufriedenheit der Arbeiterschaft machte sich in einer riesenhaften Streikbewegung Luft, welche letzten Endes in die Revolution ausmündete.

6. Die Periode der Gewerkschaftsbewegung in der bürgerlich-sozialistischen Epoche der Revolution

Es handelt sich hier nicht um eine detaillierte Schilderung der Geschichte und des ideellen Inhaltes der russischen Gewerkschaftsbewegung. Unsere Aufgabe ist eine rein informatorische; es gilt für uns besonders jene Momente hervorzuheben, die sich als rein anarchosyndikalistische kennzeichneten und die der Ausdruck einer Minderheit waren. Wie die Revolution selbst, so trug auch die Arbeiterbewegung einen durchaus spontanen Charakter und verlor ihren rein gewerkschaftlichen Charakter; sie stützte sich hauptsächlich auf die Betriebsräte und deren Vereinigung in Petrograd. Obzwar das russische Proletariat vollständig unbekannt war mit den Methoden des revolutionären Syndikalismus und trotz des ungeheuren Einflusses der Sozialdemokratie und ihrer Literatur, entwickelte sich die Arbeiterbewegung auf den Wegen der Dezentralisation, nahm instinktiv die Formen eines eigentümlichen revolutionären Syndikalismus an. Die anarchossyndikalistische Bewegung zählte zur Zeit nicht einhundert aktiver wahrer Repräsentanten. Hauptsächlich waren es früher ausgewanderte Arbeiter, die aus den Vereinigten Staaten wieder in die Heimat zurückgekommen waren, und wo sie alle zu der I.W.W.-Bewegung gehörten.

Bis Januar, d.h. bis zum ersten allrussischen Kongreß der Gewerkschaften, segelte die Bewegung unter der Fahne der Betriebsräte, welche einen heftigen Kampf gegen die Bourgeoisie einerseits und gegen einen Umfall der Gewerkschaften andrerseits zu führen hatte. Überhaupt bildete sich nach der III. Allrussischen Konferenz eine tiefe Kluft zwischen dem Ziel und der Taktik der Gewerkschaften und Betriebsräte; die letzteren schlossen sich zunächst in Petrograd zusammen und später in ganz Rußland; sie bildeten Zentralorgane und gaben innerhalb der Bewegung den Ton an. Die Anarchosyndikalisten nahmen an der Arbeit sowohl in den Betriebsräten wie auch in den Gewerkschaften aktiven Anteil. Aber in den Reihen der Anarchosyndikalisten herrschte in Bezug auf die Bevorzugung der Betriebsräte keine Einigkeit. Beispielsweise wurde die von Maximoff in "Golos Truda" vertretene Richtung lange Zeit hindurch nicht anerkannt. Auch die Bolschewiki stimmten mit dieser Richtung nicht überein. Losowsky z.B. hatte auf einer Städtekonferenz diese Richtung scharf kritisiert. Letzten Endes bevorzugten die Anarchosyndikalisten jedoch die Organisierung von Betriebsräten und konzentrierten ihre Kräfte in dieser Richtung. Sie betätigten sich in zahlreichen Betriebsräten, im Zentralbüro der Betriebsräte Petrograds und Umgebung und in dem Allrussischen Zentralbüro derselben; sie übten einen großen Einfluß in den Konferenzen aus; das Organ der Betriebsräte "Nowy Putj" war beispielsweise ziemlich syndikalistisch gefärbt.

Die bürgerliche Presse (1) vergaß vollständig, gegen die anarchosyndikalistischen Tendenzen zu reagieren. Die Sozialdemokraten aber gaben ein Organ heraus "Der Arbeitergedanke", das hauptsächlich die Aufgabe hatte, den Anarchosyndikalismus in den Reihen des organisierten Proletariats zu bekämpfen; es war aber alles vergeblich. Durch die Losung der "Arbeiterkontrolle" gewannen die Anarchosyndikalisten die breiten Massen, um sie zur Besetzung der Fabriken zu bewegen. Eine sehr starke Wirkung übte diese Losung aus auf die Broschüre "Praktische Anleitung zur Durchführung der Arbeiterkontrolle" innerhalb der Betriebsräte Petrograds, welche auf dem I. Allrussischen Kongresse der Gewerkschaften starke Angriffe seitens der Bolschewiki und Menschewiki auszustehen hatte. (2) Die Anarchosyndikalisten arbeiteten in dieser Periode gruppenweise außerhalb der Gewerkschaften; sie gaben folgende Zeitungen heraus: "Golos Truda", Petersburg, "Rabotschaja Mysl", Charkow, "Sibirsky Anarchist", Krasnojarsk, außerdem das revolutionärsyndikalistische Organ "Rabotschaja Schisn" und andere. Die Mitglieder der Gruppen betätigten sich in den Betriebsräten. Eine große Anzahl unserer Kameraden vertrat den Standpunkt, ausschließlich innerhalb der Betriebsräte zu wirken und diesen eine rein anarchosyndikalistische Färbung zu geben. Bis zur Zeit des I. Allrussischen Gewerkschaftskongresses war es dem Syndikalisten Konajew schon gelungen, die Bergarbeiter des Debalzevschen Kohlengebietes (25 — 30.000 Mann) auf der Grundlage der I.W.W. zu organisieren. Aber Kosakenpogrome, die den Tod Konajews und dann den Bürgerkrieg im Gefolge hatten, zerstörten, was im Aufbau begriffen war. Dasselbe ereignete sich auch bei den Schächten von Tscherenschowo und fand seinen Abschluß mit dem tschechoslowakischen Aufstand. In Jekaterinodar stand die Bewegung des gesamten Gouvernements auf rein anarchosyndikalistischer Basis. (3) In Moskau war die Vereinigung der Parfümarbeiter rein syndikalistisch aufgebaut. (4) Es läßt sich mehr oder weniger nachweisen, daß auf dem I. Allrussischen Kongreß der Gewerkschaften die Vertreter der Anarchosyndikalisten, Sozialrevolutionäre, Maximalisten und Sympathisierenden 25 Mann zählten; mehr als 88.250 Arbeiter hatten diese 25 Mann vertreten.

7. Die Periode der Diktatur des Proletariats

Auf dem I. Kongreß, der nach der Oktoberrevolution stattfand, waren die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre in der Mehrheit (Regierungskoalition). Hier endete der Kampf der Betriebsräte mit den Gewerkschaften, und er endete mit einem Sieg der letzteren. Die Bolschewisten unterordneten die föderalistischen und anarchistischen Betriebsräte den zentralisierten Gewerkschaften. Auf diese Weise eroberten die Bolschewisten die Gewerkschaften und ihre Zentralorgane übten hierdurch die Macht aus und beseitigten letzten Endes ihren eigentlichen Charakter. In der Periode des Jahres 1918 — 1919 wurden die Gewerkschaften noch nicht so stark terrorisiert und wir können die Entwicklung der anarchosyndikalistischen Ideen in den Gewerkschaften der Bäcker von Moskau, Kiew (5) und Charkow, sowie der Post und Telegraphenbeamten beobachten, auf deren Allrussischen Kongreß (6) die Anarchosyndikalisten einen außerordentlich starken Einfluß ausübten und beinahe die Hälfte des Kongresses auf ihrer Seite hatten. Die Petersburger Sektion dieses Allrussischen Post und Telegraphenvereins segelte unter syndikalistischen Fahnen und gab ihr eigenes Organ heraus "Nachrichten der Post und Telegraphenangestellten". Ein ähnliches Bild ergibt auch die Vereinigung der Seeleute und Transportarbeiter des Wolgaer Gebietes, wo dank der Arbeit des Kameraden Anossow das Organ "Baken" (7) die Vereinigung in rein anarchosyndikalistischem Sinne gehalten wurde.

Das alles wurde von den Bolschewisten zerstört. Das Prinzip, sich nach Produktionszweigen zu organisieren, wurde in den Händen der Bolschewisten eine gute Waffe gegen die Anarchosyndikalisten. Die Bolschewisten halfen derartige Vereinigungen organisieren und später drückten sie es durch, daß die aktivsten Genossen, die mit der bolschewistischen Politik nicht einverstanden waren, von Stelle zu Stelle, wo der bolschewistische Einfluß stärker war, versetzt wurden. So gingen anarchosyndikalistisch gestimmte Vereinigungen zugrunde, beispielsweise die Vereinigung der Post- und Telegraphenangestellten in Petrograd, die der Parfümeriearbeiter in Moskau, die der der Waffenarbeiter in Kasan und einigen Eisenbahnknoten, z.B. Moskau — Kursk, wo Genosse K. Kawalewitsch besonderen Einfluß hatte, und andere.

Dank der straffen Zentralisation, der Wahlmachinationen, lokaler Repressionen, fiel die gesamte Macht der Verwaltungsorgane in die Hände der Kommunisten. Der II. Allrussische Kongreß der Gewerkschaften (1919) bietet ein anschauliches Beispiel hierfür. Auf diesem Kongreß zählten die Anarchosyndikalisten, Maximalisten und Sympathisierende nur 15 Delegierte, die 52.950 Mann repräsentierten, trotzdem die Sympathie der Arbeitermassen gegenüber den Anarchosyndikalisten gewachsen war. Durch die Reglementierung des Kongresses ist auch dieser Opposition noch das Wort genommen worden. Auf dem folgenden, dem III. Kongreß (1920) zählten die Anarchosyndikalisten und Sympathisierenden nur noch 10 Delegierte, die 53.300 Mann repräsentierten. Diese Kongresse geben ein Bild der Taktik der Bolschewisten, die in allen syndikalistischen Vereinigungen eine zersetzende Rolle spielten.

Diese Kongresse haben die ganze Ohnmacht der Taktik des "Golos Truda" im Jahre 1917 gezeigt, auf dessen Wort alle Anarchosyndikalisten Rußlands gelauscht hatten. (8) Das Nichtvorhandensein selbständiger revolutionärer Gewerkschaften hat den Untergang der anarchistischen und syndikalistischen Bewegung beschleunigt, weil die Kräfte, die in den bolschewistischen Verbänden zerstreut waren, keinen Widerstand leisten konnten und in die eiserne Klemme der Politik der "Diktatur des Proletariats" gedrängt wurden.

Anfang 1920 hat sich dank der energischen Arbeit des Anarchosyndikalisten Pawlow — (der später seine Freiheit durch öffentliche Anerkennung der Ohnmacht der anarchistischen Tätigkeit in der gegenwärtigen Zeit erkauft hat) (9) — und der Sozialrevolutionären Maximalisten Kamischew und Nüschonkow unter dem Einfluß des Anarchosyndikalismus nur ein Moskauer Bäckerverband befunden. Auf dem zweiten Allrussischen Kongreß dieses Verbandes gab es eine Fraktion der "Föderalisten" von etwa 10 — 15 Mitgliedern, welche ein Drittel des Kongresses für sich hatte. Hier auf dem selben Kongreß wurde ein erster Versuch gemacht (Maximoff, Nüschonkow, Pawlow) innerhalb des Verbandes der Nahrungsmittelarbeiter die anarchosyndikalistischen und anderen föderalistischen Elemente zu organisieren. Diese Organisation sollte der Anfang der Schöpfung einer allgemeinen Arbeiterkonföderation (Anarchosyndikalisten) Rußlands sein. Jedoch konnte das Komitee von obengenannten Personen, welches auf einer Sitzung der Fraktion der "Föderalisten" desselben Kongresses gewählt worden war, angesichts der kurz darauf einsetzenden Verhaftungen und Unterdrückungen seine Arbeit nicht anfangen. Es war nun mehr oder weniger offen der Kampf des Anarchosyndikalismus um eine Existenz innerhalb der russischen Arbeiterbewegung.

Das Programm der russischen Gewerkschaftsbewegung bekennt sich zum Zentralismus, zur Zwangsmitgliedschaft, welche seit der Durchführung der N.E.P. (Neue Ökonomische Politik) abgeschafft wurde, zu Disziplinsgerichten, Militarisierung der Arbeit, Arbeitszwang, Unterstellung unter das Diktat der politischen Partei, Nationalisierung der Produktion, d.h. Übergang als Eigentum zum Staat, die Verwaltung der Industrie durch Beamte, Arbeitslohn nach Rang (17 Lohnstufen) für Arbeiter, 30 für Angestellte, Anwendung des Schwitzsystems, Arbeiterarmee, Taylorsystem, Akkordarbeit, Prämiensystem, Verzicht auf Kontrolle der Produktion und Arbeiterfabrikverwaltung usw. Im allgemeinen werden Programm und Taktik den Gewerkschaften von der "kommunistischen" Regierung vorgeschrieben.

Die Gewerkschaften wie ihre Verwaltungszentren, von den niedrigsten bis zu den höchsten, haben seit langem schon nichts mehr gemein mit den arbeitenden  Massen. Die Gewerkschaften spiegelten und spiegeln  die Politik der Regierung wieder und führten deren gesamte Forderungen zuungunsten der Arbeiterklasse aus. Ihrerseits werden alle Arten terroristischer Mittel angewendet, um jede Opposition zu unterdrücken. Strenge Strafen für das Überschreiten jeder dem Proletariat auch schädlichen Bestimmung, ohne auch die Mitarbeit der staatlichen Straforgane zu scheuen: Tscheka, Volksgericht, Desertierkomitee und andere.

Der einzelne bedeutet nichts. Folgender Vorfall möge hier als typisches Beispiel angeführt sein: (10) Ein Arbeiter, der sich drei Tage lang von seiner Arbeitsstätte entfernte, um Verwandte auf dem Lande zu besuchen, wurde bestraft — in 10 Tagen 5000 Pud Kohlen abzuladen — in den freien Stunden nach seiner üblichen täglichen Arbeit. Ein anderer Arbeiter wurde ähnlich bestraft, weil er auf kurze Zeit die Fabrik verlassen hatte. Solche und ähnliche "Verbrechen" kommen häufig vor. Viele Arbeiter werden mit schwerer Zwangsarbeit bestraft. Die Untersuchung einer sanitärtechnischen Inspektion des Hintermoskauer Kohlengebiets ergab ein Bild, vor dem jede kapitalistische Arbeiterwillkür erbleichen würde. (11) (Diese Inspektion war von der Regierung unternommen worden). Im Namen des "gesellschaftlichen" Wohles, d.h. des Staates, wohnten die Arbeiter hier einige Kilometer entfernt von den Schächten in leichten Holzbaracken mit zerbrochenen Scheiben und Türen, eine Grube bildete das allgemeine Klosett. Die Löhne waren aufs äußerste unzureichend. Die Essenportionen betrugen 200 Gramm Brot täglich, und das nur bei Erfüllung bestimmter Produktionsbedingungen. Überstundenarbeit für ein Mittag. Arbeiter, die ihr Pensum nicht zur bestimmten Zeit fertigkriegten, wurden von den Schächten nicht herausgehoben, bis sie es endlich geschafft hatten. Derartige Tatsachen sind besonders häufig im Ural anzutreffen, wo hauptsächlich Trotzki und Pjatäkow das Regime führten, aber auch das übrige Rußland ist reichlich genug hiermit gesegnet. In der Idakewschen Fabrik beispielsweise wurde der anarchistische Arbeiter Gordejew, weil er sich der Fabrikdisziplin nicht unterwerfen wollte, erschossen. (Siehe "Golos Russie", 1. Hälfte des Jahres 1922). In Jekaterinaburg hat man Arbeiter wegen Störung der Arbeiterdisziplin zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.

Die in der Gewerkschaftsbewegung tätigen Anarchosyndikalisten konstatierten: Die Regierung ist ein Feind des Proletariats. Hieraus folgt, daß die erste Aufgabe der Gewerkschaft sein muß, sich freizumachen von der Regierung und die Wirkung der Gewerkschaften zu heben. Die Gewerkschatten, die ihrem Charakter nach unparteiisch sind, haben sich auf die Grundlage des Wirtschaftskampfes zu stellen und sich von der Leitung der Diener des Staates, d.h. der politischen Parteien, zu befreien. Durch Mitarbeit mit der Regierung berauben die Gewerkschaften sich ihres bedeutendsten Rechtes, des Rechtes des Aufstandes. In demselben Maße, in dem sie Regierungsorgane geworden sind, entfremdeten sie sich dem Proletariat und seinen Interessen. Und so ist es gekommen, daß gegenwärtig das Proletariat nur formell, faktisch aber völlig unorganisiert ist. Von dieser Erkenntnis ausgehend, forderten die Anarchosyndikalisten folgendes:
a) Wiederherstellung des Streikrechtes
b) Fühlungnahme mit dem Proletariat
c) Keine zwangsmäßige Organisierung des Proletariats
d) Umwandlung des zentralistischbürokratischen Organisationsprinzipes in ein föderalistisches
e) Durchführung der Revolution innerhalb der Gewerkschaften, d.h. Umwandlung der Gewerkschaften in industrielle Organisationen auf Grund der Föderation der Betriebsräte.

Weiter, sich auf die Erfahrung stützend, behaupten die Anarchosyndikalisten folgendes: Die Praxis beweist, daß die Vereinigung der Arbeiterschaft auf der Grundlage der Produktion aufgebaut werden muß, und daß sie sich auf die Föderation der Fabrikkomitees (Betriebsräte) stützen muß. Derartige Produktionsvereinigungen haben das größte Interesse, die größte Einsicht und Übersicht über Verwaltung und Hebung der Produktion. Aufgabe dieser Arbeitervereinigungen ist es, die industrielle Republik zu gründen, die Regierung zu stürzen und beinahe alle politischen Funktionen der Gesellschaft auszuüben. In den meisten Fällen sind die politischen Gründungen unnötige und teuere, und nur zeitweilig unbedingt notwendige, d.h. solche, deren Bestehen durch die Bedingungen der Übergangsperiode zu einer herrschaftslosen Gesellschaft hervorgerufen werden. Eine der wichtigsten und notwendigsten Bedingungen, um das vorher Gesagte verwirklichen zu können, ist nicht: Beteiligung der Gewerkschaften in den Produktionsorganen, sondern Expropriation des Staates, Übernahme aller ökonomischen Funktionen desselben, ohne welche derselbe nicht weiter existieren kann. Nur eine solche Aktion öffnet den Weg zu einer Gesellschaft der Freiheit, Gerechtigkeit und Herrschaftslosigkeit.

Hauptbedingungen für schnelles Erreichen des Zieles sind folgende:
a) Selbstständigkeit gewerkschaftlicher Organisationen, Einigkeit im Wollen und Handeln, Einigkeit in der Angriffstaktik.
b) Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats zur Erreichung seines Ziels.
c) Vollständige Ablehnung von Schiedssprüchen und Reglementierungen der Streiks usw.
d) Anerkennung des Prinzips, daß die Arbeiter auf niemand sonst, als auf sich selbst zu hoffen haben.
e) Erkenntnis dessen, daß die ökonomische Abhängigkeit, in diesem Falle der Staat, die Quelle aller Knechtschaft ist.
f) Die ökonomische Befreiung der Arbeiterschaft ist das Hauptziel; diesem Ziel hat die politische Bewegung sich unterzuordnen.
g) Die Produktionsgruppen der Arbeiterschaft müssen die Keimzellen der neuen sozialen Ordnung sein.
h) Anerkennung der Tatsache, daß eine sozialistische Regierung unfähig ist, eine neue Gesellschaft auf freier Grundlage aufzubauen.
i) Die Arbeiter selbst haben den ökonomischen Aufbau durchzuführen; während der Kampfperiode haben sie Gruppen entschlossener aktiver Minderheiten zu stellen, die die Initative zur Aktion ergreifen.
k) Anerkennung der Notwendigkeit des Generalstreiks, der die Liquidation der bürgerlichen Ordnung wie auch der sozialkapitalistischen gegenwärtigen Gesellschaft erzwingt.
l) Hebung der kulturellen und materiellen Lage der Arbeitermassen.

Aus diesen Punkten ist ersichtlich, daß die Grundaufgaben der Gewerkschaften nicht im Zusammenarbeiten mit den gegenwärtigen wirtschaftlichen Organen im Sinne der Verwaltung und Regulierung der Industrien liegen, sondern daß die Gewerkschaften selbst die Stelle als Träger und Verwalter der Wirtschaft auf Grund des dezentralistischen Produktionsprinzipes einzunehmen haben. Zu diesem Zwecke haben sie sich unter dem Namen Rat für Volksarbeit, Wirtschaft und Kultur ein wissenschaftlichtechnisches Organ zu bilden. Dieser Rat geht hervor aus der im folgenden geschilderten Struktur der freien arbeitenden Gesellschaft.

a) Der Rat für Volksarbeit, Wirtschaft und Kultur ist das einzige Organ mit informierenden und statistischen Funktionen. Er stellt dasjenige Organ dar, das auf der Grundlage der Freiheit die Kräfte von Personen, produzierenden sowie anderen Organisationen zusammenfaßt. Personen sowie Organisationen schließen sich diesem Organ freiwillig an und bleiben in vollem Besitze ihrer Unabhängigkeit. Die Funktionen des Rates für Volksarbeit, Wirtschaft und Kultur sind folgende: Lösung der Probleme allgemeinen Charakters auf den Gebieten der Arbeit, der Nationalökonomie, der materiellen und geistigen Kultur.
b) Die Produktionsvereinigungen und die Verbände der Arbeiter der geistigen Kultur sind die führenden und regulierenden Faktoren auf dem Gebiete ihrer jeweiligen Industrien und haben die Leitung bei der praktischen Ausführung der theoretischen Pläne des Rates für Volksarbeit. Ihre Funktion ist die Regulierung der Industrie, Verteilung der Rohmaterialien, Festsetzung der Produktion nach der Norm der Bedürfnisse.
c) Die produzierenden Abteilungen. Diese haben dieselben Funktionen wie die vorher erwähnten Produktivvereinigungen, nur in kleinerem Maßstabe in den Grenzen des Zweiges ihrer Produktion.
d) Die Betriebsräte. Diese sind die fundamentalen, freiheitlichen, wirtschaftlichen Organe, die dank ihrer Föderationen alle vorher angeführten Organe in sich einbegreifen. Die Betriebsräte haben die Verwaltung der einzelnen Fabriken unter sich. Sie sind die ausführenden Organe der produzierenden, konsumierenden, exterritorialen, herrschaftslosen FabrikKommunen. Das Grundprinzip in der Regulierung und Verwaltung der Industrie vom Betriebsrat bis zum Rat ist genossenschaftlicher Geist, Herrschaftslosigkeit und das Recht der Gesamtheit, die Delegierten jederzeit wieder abberufen zu können.

In Anerkennung der Tatsache, daß die Produktivvereinigungen aufs äußerste interessiert sind am Aufbau der Wirtschaft, ist ein diszipliniertes Militarisieren der Arbeit nicht nur nicht nötig, sondern sogar schädlich, denn wahrhafte Aufbauarbeit kann nur aus Freiwilligkeit und unter unmittelbarer Anteilnahme an der Organisation und Verwaltung der Produktion geleistet werden. Und eine solche Freiwilligkeit und Produktivität ist nur unter Bedingungen möglich, die wirtschaftlich und politisch grundsätzlich verschieden sind von den heutigen, d.h. unter den Bedingungen einer industriellen Republik.

Um auf die Arbeitsarmeen zurückzukommen, ist historisch bewiesen, daß unfreiwillige Arbeit quantitativ und qualitativ nicht einmal ein Viertel dessen erreicht, was freiwillige Arbeit hervorbringt. Die Arbeitsarmee ist ganz im Gegenteil ein Faktor, der Energien vernichtet.

In Beziehung auf den Arbeitszwang ist zu sagen, daß er unter den heutigen Zuständen eine Erscheinung rückschrittlicher aber nicht fortschrittlicher Art ist. Der Arbeitszwang fesselt die Arbeiter an den Staat und schafft den Zustand einer Hörigkeit in so ungeheuerlichem Maßstabe, wie er in der ganzen Geschichte der Leibeigenschaft nicht bestanden hat.

Der Arbeitszwang unter den Bedingungen des Staates, unter denen es Unternehmer und Lohn gibt, bedeutet unzweifelhaft Leibeigenschaft. Das Proletariat verschwindet als ökonomische Kategorie und Klasse und sinkt zurück in Leibeigenschaft. Der Arbeitszwang muß in Freiwilligkeit umgewandelt werden, die in Übereinstimmung steht mit Gesetzen der Natur und dem Wohl der Gesellschaft. Der Arbeitszwang unter den Bedingungen der politischen Diktatur — es sei nochmals wiederholt — ist Leibeigenschaft.

Die Gewerkschaften haben zu bedenken, daß auch unter den Bedingungen der industriellen Organisierung der Gesellschaft die Produktion nicht zu heben ist, solange das Proletariat nicht genügend hierzu vorbereitet ist. Die Produktion steht im gleichen Maßstab zum kulturellen und materiellen Zustand der breiten Massen der Arbeiterschaft. Hebung des Lebensstandards der Arbeiterschaft ist darum eine wichtige Aufgabe der Gewerkschaften. Um diese Aufgabe vollends lösen zu können, haben die Gewerkschaften danach zu trachten, den gesamten Apparat der Produktion und Konsumtion in ihre Hände zu bekommen. Soweit das noch nicht möglich ist, müssen sie sich wenigstens das Maximum an Einfluß sichern, und für ein Lebensminimum, für Gleichheit der Entlohnung usw. eintreten. Um das kulturelle Niveau des Proletariats tatsächlich heben zu können, sind dem Staate die Funktionen der Volksbildung zu entwinden; die Arbeiterschaft selbst hat auf diesem Gebiete einen gewichtigen Einfluß auszuüben; sie hat allgemeine Bildungsinstitute, Schulen, technische, professionelle Kurse, Theater, Ausstellungen u. dergl. m. zu bilden.

Die Beziehungen mit den auswärtigen imperialistischen Regierungen sind dergestalt auszunutzen, daß wir Rohmaterialien gegen Maschinen und Instrumente eintauschen, um so die Möglichkeiten unserer Industrie zu heben durch Zuziehung hauptsächlich revolutionärer westeuropäischer Arbeiter zu unseren Fabriken und Feldern, die auch befähigt sein sollten, die Fachkenntnisse unserer Arbeiter zu heben. Die Konzessionen, die jetzt und in Zukunft von der Sowjetmacht an Kapitalisten erteilt werden, sind keine historische Notwendigkeit; sie sind nur ein Resultat der autoritären, die schöpferische Initiative der schaffenden Massen lähmenden Wirksamkeit des Staates. Bei der Organisierung der Produktion durch industrielle Föderationen hätte eine solche Tatsache gar nicht eintreten können.
Die Gewerkschaften müssen sich bemühen, den Ausbeutungsgeist los zu werden, tägliche Repressionen abzuschaffen und sich von allen bürgerlicher Prinzipien zu befreien, wie "vollständige Abhängigkeit des Lohnes von der Arbeitsproduktivität" und statt dessen das kommunistische Prinzip aufzustellen — "jeder nach seiner Leistungsfähigkeit und jedem nach seiner Bedürfnissen." — Die Gewerkschaften müssen auch die Löhne nach Tarif abschaffen, weil das Prinzip der "gleiche Lohn", so lange man nicht nach den Bedürfnissen belohnt werden kann, die schädliche Tätigkeit der Tarifkommissionen gänzlich unnötig macht. (12)

Das ist in kurzen Zügen das Programm, welches die Anarchosyndikalisten den Kommunisten seinerzeit entgegengestellt haben. Hieraus kann der Leser sich eine klare Vorstellung machen von dem Wollen und den Zielen der russischen Anarchosyndikalisten und auch die Lügen, Verleumdungen und Beschimpfungen ermessen, die die Bolschewisten über den russischen Anarchosyndikalismus in die Augen des internationalen gewerksschaftlich organisierten Proletariats ausgestreut haben.

8. Die Gewerkschaftsbewegung unter der Rückkehr zum Kapitalismus

Der durch tausend Formen von Entbehrungen gejagte, ausgehungerte, lusgeplünderte, terrorisierte, jeder freiheitlichen Kampforganisation beraubte russische Arbeiter ist von neuem der doppelten Ausbeutung durch das internationale Raubgesindel der Kapitalisten und seinen räuberischen Staat ausgesetzt. Formale rechtliche Garantien haben keine reale Bedeutung mehr. Weder die Regierung noch die gewerkschaftlichen Institutionen und Verwaltungszentren brachten die phrasenhaften Versprechungen und Rechte, die einst im Namen des Proletariats und für das allgemeine gesellschaftliche Wohl erlassen wurden. Zum Kapitalismus übergehend, hat die Regierung in Übereinstimmung mit den Gewerkschaftsgrößen alle versklavenden in Leib des Kriegskommunismus weiter bestehen lassen und hat das Proletariat hilflos an den Kapitalismus ausgeliefert. Der Arbeiter bekommt heute eine Löhnung, daß es nur zu drei Viertel der nackten Ernährung ausreicht. Dabei ist er des Streikrechtes beraubt. Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeiterschaft werden durch paritätisch zusammengesetzte Schlichtungsausschüsse liquidiert. Die Entscheidung dieser Kommission ist für die Arbeiterschaft bindend. Die Ausbeutung kennt keine Grenzen. Der Rechtsschutz den die Arbeiter früher, wenn auch in einer noch so minimalen Form, durch Zurverantwortungziehen von Unternehmern genossen haben, ist zu einer bloßen leeren Form, zu einer Verhöhnung der Arbeiterschaft geworden.

Die Arbeiter waren gezwungen, von ihren eigenen Kräften zu zehren. Das können wir durch Zahlen illustrieren. (13) Bis zur Revolution betrug der Aufwand des Arbeiters 3820 große Kalorien und im Jahre 1919 — 2680. d.h. der Arbeiter mußte sich täglich mit 30% weniger der Nahrung begnügen. Im Jahre 1922 betrug der Kalorienaufwand des Arbeiters (bei weitem nicht aller) 2980. Ein erwachsener Mann verbraucht bei Bettruhe täglich 2000 große Kalorien als Minimum. Hieraus folgt, daß der Arbeiter in der Zeit bis zur Revolution für produktive Arbeit 1820 große Kalorien verbrauchte, die wir auf 100% veranschlagen wollen. Daraus ergibt sich, daß der Arbeiter für dieselbe Arbeit aufzuwenden hatte: 1919 nur 680 große Kalorien, d.h. 37,4 %, 1920 etwas mehr — 980 oder 54%. Stellt man sich nun vor, daß die Arbeiter nur 30—40% selbst von dieser geringen Nahrungsnorm ausgezahlt bekamen, so konnte der Arbeiter für produktive Arbeit nur gegen 16% aufwenden.

So kam es, daß der "faule russische Arbeiter", als den die Herren Lenin, Trotzki, Kautsky und andere ihn stempelten, nur 67 — 64% der früheren Produktion leistete, durch verkürzte Arbeitszeit ging die Produktion auf nur 50% zurück und seine normale Produktivität verringerte sich nur aus Mangel an gehöriger Nahrung auf 46%, ungeachtet verschiedener anderer Ursachen, wie Abnutzung von Werkzeugen, Mangel an Rohstoffen, an Heizmaterial, anhaltende Kälte durch vollständiges Fehlen jeglicher hygienischen Arbeitsbedingungen...

Die jetzt bestehende Neue Ökonomische Politik ("N.E.P.") bedeutet vollends den Niedergang des heldenhaften russischen Proletariats durch einen ungenügenden Lohn für halbverhungerte Existenzen, nun kommen noch andere Lasten, wie direkte und indirekte Steuern, Wohnung, Licht, Wasser und andere Abgaben, die vor Einführung der N.E.P. nicht vorhanden waren.

Die Politik der "Roten kommunistischen Gewerkschaften" ging sogar so weit, im Jahre 1921 das Projekt der Kollektivverträge anzuerkennen, welches von der provisorischen Kerenski-Regierung (Arbeitsministerium Skobelew Gwosdew) ausgearbeitet worden war, das aber von der Oktoberrevolution 1918 weggefegt wurde. Die kommunistischen Gewerkschaften begnügten sich jedoch nicht damit, sondern führten in dieses Projekt einige Bestimmungen ein, die an Rückständigkeit noch den Plan der Kerenski-Regierung übertrafen. Obzwar der Streik jetzt ebensowenig offiziell verboten ist wie in der Zeit des "Kriegskommunismus", (14) werden durch Anwendung anderer Paragraphen, insbesondere in Staatsbetrieben streikende Arbeiter tatsächlich verfolgt. (15)

Die Prozesse, die 1922/23 gegen viele Privatunternehmer gemacht wurden, waren nichts als eine Komödie, da die Gewerkschaften und der Staat, welche diese Prozesse anstrengten, selbst auf die Sünderbank zusammen mit den Privatunternehmern gehörten. Ohne Zustimmung der Gewerkschaften ist der Streik den Arbeitern unter Anwendung von schweren Strafen seitens der Gewerkschaften verboten.

Diese wenigen Andeutungen sollen genügen; wir haben hier nicht nötig, lang und breit auszuführen, warum die russische Regierung und die allrussischen Gewerkschaften Feinde der Arbeiterschaft Rußlands sind. Einige Ziffern und die darin sich bergenden furchtbaren Tatsachen sollen diese Behauptung erhärten.

Rußland allein, nicht die vereinigten Sowjetrepubliken, zählt heute etwa 70 Millionen Einwohner. Die Kommunistische Partei zählte Mitte 1921 700.000 (16) Mitglieder; sie stellte also 1% der Bevölkerung dar. Die Zahl der Arbeiter innerhalb der Partei beträgt 51% (1920), (17) d.h. etwas mehr als 8% (18) der Gesamtzahl des russischen Proletariats. 92% des Proletariats sind also unter die Botmäßigkeit eines kleinen Häufleins von Parteimitgliedern gestellt. Das organisierte Proletariat (63 Gouvernementsgewerkschaften) wurde von 618 "gewählten" Beamten geführt, von denen 78,5% Kommunisten sind und der Rest den intellektuellen Ständen angehört.

Dieses mag genügen; jeder mag aus obigen Ausführungen den hilflosen Zustand des Proletariats in Rußland selbst ermessen. Dieser Zustand, der mit Worten nicht zu beschreiben ist, wirft das russische Proletariat in die Arme illegaler Organisationen, in die Arme der Rechtssozialisten, die die Arbeiter vor den Wagen ihrer eigenen Interessen spannen. Ein Teil stößt auch zu dem Teil des Proletariats, der bisher unter den Fahnen des Anarchosyndikalismus marschierte.

Pflicht der russischen Kameraden ist heute mehr wie jemals vorher, nicht nachzulassen in aktiver Propaganda, in Wort und Schrift und Beispiel. Pflicht der internationalen revolutionären syndikalistischen Bewegung ist es, ihren russischen Brüdern beizustehen, um den Ideen des Anarchosyndikalismus in Rußland zum Siege zu verhelfen, damit das Proletariat dieses Landes den einzigen Ausweg aus dem Dunkel des heutigen Tages klar erkennt, was von ungeheurer Bedeutung für die gesamte revolutionäre syndikalistische Bewegung sein wird.

Nun ist mein Artikel zu Ende, aber ich möchte noch, bevor ich ihn unterzeichne, alles oben Erwähnte durch ein merkwürdiges Bild illustrieren. Es handelt sich um die Streikpolitik der russischen kommunistischen Gewerkschaften, also auch R.G.I. Dieses "Bildchen", veröffentlicht im Zentralorgan der roten Gewerkschaft "Trud" Nr. 237 vom 20. 10. 1923 und betitelt: "Der Streik in der Darmverwertungsindustrie" lautet:

"Ende September entstand unter den Arbeitern der Darmindustrie der Stadt Omsk eine Gärung. Die Arbeiter waren unzufrieden mit dem Kollektivvertrage, den das Zentralkomitee der Nahrungsmittelgewerkschaften mit dem staatlichen Zentralkomitee der Darmindustrie geschlossen hat. Die Arbeiter verlangten eine Erhöhung der Grundlöhne, Festsetzung neuer Löhne, zweimal monatlich, am 1. und am 15., Erhöhung der Löhne in allen Lohnstufen, Herabsetzung der Mindestleistungen, Gewährung von Arbeitskleidung für den Beruf und dergl. Der Grund ihrer Forderungen war Lohnerhöhung. Die Gouvernementsabteilung der Nahrungsmittelgewerkschaften schlug den Arbeitern vor, die Arbeit unter den früheren Bedingungen fortzusetzen und legte gleichzeitig Fürsprache ein bei dem Z.K. der Nahrungsmittelgewerkschaften zwecks Änderung der Paragraphen des Lohnabkommens. Die Arbeiter lehnten diesen Vorschlag ab und verließen die Arbeit. Die Zahl der Streikenden betrug 130 Mann. Die Streikenden setzten kein besonderes Streikkomitee ein, alle ihre Handlungen trugen einen unorganisierten Charakter. Es ist charakteristisch, daß die Arbeiter in der Darmverwertungsindustrie im Vergleich zu den anderen Arbeitern der Stadt Omsk einen 50% höheren Lohn bekommen." (19)

Die Anführer gingen von dem Gedanken aus, daß es in Omsk überhaupt keine Darmarbeiter gäbe und hofften diesen Vorzug auszunutzen. Besonders trieben die Arbeiter (81 Mann), die von der Gouvernementabteilung aus dem Woronescher Gouvernement herbeigeholt worden waren, zum Streik. Auf eine telegraphische Anfrage antwortete die Woronescher Gouvernementsabteilung der Nahrungsmittelgewerkschaften, daß die Arbeiter unter den Bedingungen des Mantelvertrages geschickt worden waren.

Am 30. September auf der vereinigten Gesamtversammlung der Darmbearbeiter in Gegenwart der Vertreter der Gouvernementabteilung der Nahrungsmittelgewerkschaften und des Darmindustriebevollmächtigten über ganz Sibirien wurde vom Vorsitzenden der Gouvernementabteilung vorgeschlagen, das Z.K. der Allrussischen Nahrungsmittelgewerkschaften und Darmindustrie um eine Erhöhung der laut Index festgesetzten Löhne um 25% zu bitten. Der Bevollmächtigte der Darmindustrie unterstützte diesen Vorschlag auch, aber die Arbeiter waren nicht einverstanden und forderten: Monatslohn für einen Arbeiter der 9. Kategorie — 60 Goldrubel —, Antwort in drei Tagen.

Der Ausschuß beurteilte diese Frage und beschloß, das Z.K. der Allrussischen Nahrungsmittelgewerkschaften zu bitten, die Löhne zu erhöhen, den Darmarbeitern anheimzustellen die Arbeit aufzunehmen und im Falle ihrer Ablehnung das Komitee des Verbandes aufzulösen und eine Umregistrierung der Mitglieder vorzunehmen.

Der Rat der Gouvernementabteilung der Allrussischen Gewerkschaften (die Vereinigung aller Gewerkschaften des angegebenen Gouvernement) hat diese Bestimmung bestätigt. Die Arbeiter fügten sich diesen Forderungen des Verbandes nicht und versuchten mit anderen Städten in Verbindung zu kommen und breitere Arbeitermassen zuzuziehen. Dieser Versuch wurde unterdrückt.

Am 3. Oktober wurden die Komitees aufgelöst und neue Mitglieder in den Verband geworben. Schon am ersten Tage meldeten sich zur Umregistrierung 55% der allgemeinen Zahl der Streikenden. Kurz darauf meldete sich im Verband eine Arbeiterdelegation, welche das Wort gab, daß die Arbeiter die Arbeit aufnehmen und geduldig die Entscheidung der Frage im Zentrum erwarten werden. Auf diese Weise war der Konflikt erledigt. Der Bericht und die Dokumente über den ganzen Streik wurden dem Z.K. des Verbandes zugestellt mit der Bitte, die Löhne der Darmarbeiter zu erhöhen."

Nach dieser Illustration, die selbst deutlich genug für sich spricht, kann ich endlich meinen etwas zu lang gewordenen Artikel schließen in der Überzeugung, daß der Leser sich ganz klar wurde darüber, was die kommunistischen Gewerkschaften und ihre Internationale vorstellen und was für einen Wert sie für das Proletariat haben.

Fußnoten:
1) "Djen", "Nowaja Schisn", "Izwestia Petrogradskogo Obschtschestwa Sawodtschikow i fabrikantow", "Izwestia zentralnogo ispolnitelnogo komiteta Sowjeta rabotschick i soldatskich deputatow", "Rabotschaja Gazeta" — Organs. d. Menschewiki und andere.
2) Siehe: "Der erste Allrussische Kongreß der Gewerkschaften" — stenographischer Bericht, ebenso A. Losowsky: "Die Arbeiterkontrolle" (russische Epoche).
3) An der Spitze der Jekaterinodarer Bewegung stand die Genossin Gorbowa. Die Arbeiter sind hauptsächlich Zementfabrikarbeiter und Befrachter. Die Tätigkeit der Betriebsräte verbreitete sich auch auf Noworossiysk.
4) Die Arbeit wurde hauptsächlich von den Genossen Preferansow, Lebedew, Kritzkaja und anderen durchgeführt.
5) Hier wurde die Arbeit vom Genossen A. Baron durchgeführt.
6) Am tätigsten im Verein der Post und Telegraphenbeamten waren unsere Genossen: Michalew, Bondarew und Grigorjew (die beiden letzten sind jetzt Bolschewiki); siehe "Stenographischer Bericht des Allrussischen Kongresses in Moskau 1918".
7) Hier (Kasan) wurde die Arbeit vom Genossen Anossow durchgeführt.
8) Der Verfasser war einer von  den Mitarbeitern des "Golos Truda", jedoch dieser Umstand hält ihn nicht ab, die Fehler, welche gemacht wurden, anzuerkennen.
9) Es war im September 1921.
10) Siehe "Krasny Nabat" ("Roter Alarm"), "Uralsky Rabotschiy" ("Der Uraler Arbeiter").
11) Aus einem Bericht der Ärzteinspektoren, die die Untersuchung durchführten. Diesen Bericht (von 1920) kann man im Archiv der Arbeiterschutzabteilung des Volksarbeitskommissariats finden
12) Siehe: Maximoffs Vortrag über "Aufgaben der Arbeiterindustrieverbände", welcher auf dem Allrussischen Kongreß des Nahrungsmittelverbandes in Moskau 1920 gehalten wurde. "Statt Programm", Verlag Ausländisches Büro zur Schaffung der russischen Anarchosyndikalistischen Konföderation, Berlin 1922.
13) Diese Zahlen sind aus einem Artikel des Statistikers Strumilin in Nr. 225 der "Ekonomitscheskaja Schisn", des offiziellen Organs des Obersten Volkswirtschaftsrats entnommen. Der Verfasser dieses Artikels arbeitete mit Strumilin zusammen in den russischen Gewerkschaften und ist von seiner wissenschaftlichen Aufrichtigkeit überzeugt.
14) Der Verfasser war bis zu seiner Verhaftung und Ausweisung nach dem Auslande als Leiter der Abteilung der Statistik des Zentralkomitees des Allrussischen Verbandes der Metallarbeiter tätig, dessen Vorsitzender zurzeit Schlapnikow war, der sich einen bedauernswerten Ruhm eines unsteten "Führers" der sogenannten "Arbeiteropposition" erwarb. Und nun ist bemerkenswert, daß sogar in diesem "oppositionellen" Verbande die Versuche des Verfassers, eine regelrechte Statistik der Streiks zu führen, stets erfolglos endeten, weil erstens die Registratur der Streiks durch den Allrussischen Zentralrat der Gewerkschaften und das Arbeitervolkskommissariat verboten waren, und zweitens, in einem Staate, der vom Proletariat regiert wird, kann und darf kein Streik sein. Aber trotzdem kamen ziemlich oft zahlreiche Streiks vor, sie wurden aber als konterrevolutionäre Auftritte gestempelt und von den Kommunisten als Ränke der Weißgardisten erklärt, wobei die roten Gewerkschaften sich stets bemühten, einen Teil der Arbeiter gegen den anderen zu hetzen, und, um sich von den Anstiftern zu befreien, wandten sie sich an die Tscheka, wo viele von den Mitgliedern der Gewerkschaftsausschüsse tätig waren.
15) Laut des Zeitungsberichtes ("Izwestia") von der Tagung der III. Session Allruss. Zentr. Exekutivkomitee Sowjets im Mai 1922, war bei Beurteilung des § 61 des Kriminalkodex ein Punkt wegen Bestrafung gegen "Hetzerei zur Massenaufregung" eingetragen.  Dieser Paragraph wird jetzt gegen die Streikenden angewendet.
16) Jetzt beträgt die Mitgliederzahl der Kommunistischen Partei nur noch etwas über die Hälfte (472.000 Mitglieder und Kandidaten).
17) Im Jahre 1923: 44,9 Proz.; 1924: 45,75 Proz.
18) Herr Stalin zählt jetzt nur 10 Proz., weil er die Zahl des sich verhältnismäßig zu den vorigen Jahren verringerten organisierten Proletariats annimmt, nämlich 4.100.000 Mann. Bemerkenswert ist, daß nur 17 Proz. der Parteimitglieder in Fabriken als Arbeiter und die übrigen als verschiedene Beamte beschäftigt sind, z.B. 1. Gewerkschaftsbeamte: 1923 waren 28.000, (1924) 27.000 ; 2. Parteibeamte: 1923 : 26.000, 1924: 23.000 ; 3. Genossenschaftsbeamte: 1923: 103.000, 1924: 125.000; 4. Staatsbeamte: 1923: 1.500.000, 1924: 1.200.000; alle zusammen 1.580.000 (siehe "Prawda", Nr. 118).
19) Ich halte es für nötig, die Leser auf den unterstrichenen Satz aufmerksam zu machen, denn aus diesem Satze ist die Taktik des Kampfes der Herren Kommunisten gegen den Streik klar zu ersehen. Diese Taktik besteht in der Mühe der Kommunisten, mit Lüge und Verleumdung alle anderen Arbeiter gegen die Streikenden zu hetzen. Ich besinne mich auf den gemeinen Kampf, den die Kommunisten im Jahre 1920 gegen den Verband der Bäcker in Moskau führten, wo die Anarchosyndikalisten und sozialrevolutionäre Maximalisten sehr großen Einfluß gehabt haben. Die Moskauer Bäcker forderten drei Pfund Brot als Tagelohn (der Arbeitslohn wurde in jener Zeit in Geld und Naturalien ausbezahlt, da das Geld keinen Wert hatte und von dem Lohn in Bargeld reichte ein Monatsgehalt für etwa fünf Tage zur Existenz). Die Herren Kommunisten haben diese Forderungen für ihre Zwecke benutzt, und der Vorsitzende des Moskauer Rates der Gewerkschaften, Herr Melnitschansky, zusammen mit dem Vorsitzenden des Zentralkomitees des Allrussischen Nahrungsmittelverbandes, Krol, haben auf allen Arbeiterversammlungen Moskaus gegen die Moskauer Bäcker und ihre Führer (Kamischew, Nüschenkow, Pawlow, die schließlich aus dem Verband aus geschlossen wurden), auf die gemeinste Weise gehetzt. Um die Moskauer Bäcker, die unter dem Einfluß der Anarchosyndikalisten standen, in den Augen des Moskauer Proletariats vollständig zu mißkreditieren, hat Herr Melnitschansky in der monopolisierten Parteipresse ("Izwestia", "Wetschernia Izwestia") einen abscheulichen Artikel veröffentlicht. In diesem Artikel nannte er die Moskauer Bäcker Haderlumpe und Forderte das Moskauer Proletariat auf, die Bäcker der Schande und der Verachtung preiszugeben. Wie, wehklagte dieser fett gewordene gewerkschaftliche Bonze, die Bäcker, welche während ihrer Arbeit zwei Pfund Brot verzehren, erkühnen sich, noch drei Pfund Brot als täglichen Lohn zu fordern, und das jetzt, wo alle übrigen Arbeiter Moskaus mit einer Ration von drei viertel Pfund zu existieren gezwungen sind. ... Das Moskauer Proletariat kann nicht in seinen Reihen diese Haderlumpe dulden.

Aus: "Die Internationale", 1. Jahrgang, Nr. 6 (1926). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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