Rudolf Rocker - Syndikalismus und Staat

Eine sozialistische Wirtschaftsordnung, in welcher die gesamte Verwaltung der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung in den Händen des werktätigen Volkes liegt, kann sich niemals innerhalb der starren Grenzen eines politischen Zwangsapparates durchsetzen, sie muß ihre natürliche politische Ergänzung vielmehr direkt in den Betrieben, in den verschiedenen Zweigen der industriellen und landwirtschaftlichen Berufe haben und findet im Rätesystem ihren vollendeten Ausdruck. Jedoch muß jede äußere Macht über den Räten und jede Beherrschung und Bevormundung derselben durch politische Parteien oder durch bestimmte Gruppen sozialistischer Berufspolitiker von vornherein ausgeschaltet werden, wenn die gesellschaftliche Reorganisation nicht vom ersten Schritte an gestört und auf staatskapitalistische Abwege geraten soll.

Die Behauptung der sozialistischen Parteipolitiker der verschiedensten Schulen und Richtungen, dass die Eroberung und Beibehaltung der Staatsmaschine wenigstens für die Zeit des "Überganges" unumgänglich sei, beruht auf vollständig falschen Voraussetzungen und rein bürgerlichen Ideengängen. Die Geschichte kennt in diesem Sinne keine "Übergangsperioden", sondern lediglich primitivere oder höhere Formen der gesellschaftlichen Entwicklung. Jede neue Gesellschaftsordnung ist in ihren ursprünglichen Ausdrucksformen naturgemäß primitiv und unvollendet. Nichtsdestoweniger aber müssen die Anlagen ihrer ganzen zukünftigen Entwicklung schon in allen ihren späteren Entfaltungsmöglichkeiten in jeder ihrer neugeschaffenen Institutionen gegeben sein, ebenso wie in einem Embryo bereits das ganze Tier oder die ganze Pflanze vorhanden sind.

Jeder Versuch einer neuen Ordnung der Dinge wesentliche Bestandteile eines alten, in sich überlebten Systems einverleiben zu wollen, hat bisher stets zu denselben Ergebnissen geführt: entweder wurden solche Versuche von der neuen Entwicklung der sozialen Lebenserscheinungen bald im Anfang vereitelt, oder aber die zarten Keime des Neuen wurden von den starren Formen des Gewesenen so stark eingeengt und in ihrer natürlichen Entfaltung gehemmt, bis ihre innere Lebensfähigkeit allmählich abstarb und zugrunde gehen musste.

Die Befürworter des revolutionären Syndikalismus verwerfen daher prinzipiell den Standpunkt der verschiedenen sozialistischen Parteien, dass man in Zeiten gesellschaftlicher Umwälzungen den gesamten Staatsapparat mit allen seinen verhängnisvollen und geistlosen Funktionen zur Verteidigung der Revolution beibehalten müsse. Sie erblicken vielmehr in jedem Versuch dieser Art die größte Gefahr für den endgültigen Sieg und Erfolg der Revolution und die unvermeidliche Basis für das Emporkommen eines neuen Unterdrückungssystems. Die revolutionären Syndikalisten sind der Ansicht, dass zusammen mit dem Monopol des Besitzes auch das Monopol der Macht verschwinden muß. Aus diesem Grunde erstreben sie keineswegs die Eroberung des Staates, sondern dessen vollständige Ausschaltung auf allen Gebieten des menschlichen Zusammenlebens und sehen in dieser eine der wesentlichen Vorbedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus. Der revolutionäre Syndikalismus ist daher seinem ganzen Wesen nach antistaatlich und ausgesprochener Gegner jeder Herrschaftseinrichtung, unter welch neuer Maske sie sich immer verbergen möge.

Aus diesem Grunde bekämpfen die revolutionären Syndikalisten auch den trügerischen Wahn der sogenannten "Diktatur des Proletariats", der heute weite Kreise der Arbeiterschaft in seinen Bann geschlagen hat. Sie erblicken in diesen Bestrebungen nur eine neue Gefahr für die Befreiung der Arbeiterklasse, die letzten Endes, wie uns das russische Beispiel gezeigt hat, zu einer Diktatur bestimmter Parteien über das Proletariat führen muß. Der ganze Diktaturgedanke ist nicht bloß ein Erbteil der alten rein bürgerlichen Auffassungen des Jakobinertums, er ist auch der schlimmste Feind jeder revolutionären Entwicklung, indem er die schöpferischen Bestrebungen der Massen, welche für den Erfolg einer Revolution die erste Vorbedingungen sind, in die starren Formen einer toten Schablone hineinzupressen versucht und sie dadurch im Keime erstickt. Das konnten wir am besten in Russland beobachten, wo die Diktatur der bolschewistischen Partei die Revolution in keiner Weise gefördert, sondern sie buchstäblich paralysiert und getötet hat. Aus diesem Grunde ist die Diktatur bisher das Ideal aller Reaktionäre gewesen und wird auch in den Händen sogenannter Revolutionäre stets ein Mittel bleiben, einer neuen Reaktion die Wege zu ebnen.

Wenn die revolutionären Syndikalisten nun auch der Meinung sind, dass der Staat in allen seinen verschiedenen Formen und Gestaltung im Grunde genommen nie etwas anderes gewesen ist, noch sein kann, als der politische Machtapparat der weiland besitzenden Klassen, so meint das durchaus nicht, dass sie den verschiednen Formen des politischen Lebens keine Bedeutung beimessen oder dieselben als nebensächlich betrachten. Ebenso wie sie in der Verbesserung der materiellen Lebenslage einen wichtigen Teil ihrer Betätigung erblicken, so sind sie stets darauf bedacht, sich die denkbar größte politische Bewegungsfreiheit innerhalb des heutigen Systems zu erkämpfen oder bestehende Rechte und Freiheiten gegen die Angriffe der Reaktion zu verteidigen.

Wenn in den meisten modernen Staaten die Arbeiter sich gewisser Möglichkeiten für die Anführung ihrer Propaganda und ihrer täglichen Kämpfe gegen das Unternehmertum erfreuen, so ist dies nicht deshalb, weil der Staat seinen ursprünglichen Charakter geändert hat, sondern weil die verschiedenen Regierungen, die im Laufe der Zeit einander ablösten, gezwungen waren, gewissen Forderungen der Masse Rechnung zu tragen. Sogar der parlamentarische Staat hat bestimmte politische Freiheiten, wie z.B. das Koalitionsrecht, das Streikrecht, die Versammlungsfreiheit usw. nicht freiwillig gegeben, sondern dieselben wurden ihm durch zahllose revolutionäre Kämpfe abgezwungen und durch schwere Opfer des Volkes erkauft.

Diese Errungenschaften gleichgültig preisgeben, hieße die Ergebnisse aller revolutionären Kämpfe der Vergangenheit preisgeben und die Geschäfte der Reaktion besorgen. Indem die Syndikalisten Tag für Tag den Kampf mit dem Unternehmertum für die Bessergestaltung der proletarischen Lebenslage führen, vergessen sie keinen Moment, dass alle diese Kämpfe letzten Endes darauf hinzielen müssen, der Lohnsklaverei ein Ende zu machen und die Gesellschaft auf der Basis des freiheitlichen Sozialismus neu aufzubauen. Und indem sie stets darauf bedacht sind, den Regierungen größere politische Bewegungsfreiheit und Möglichkeiten für ihre Propaganda abzutrotzen, verhehlen sie sich keineswegs, dass diese beständigen Kämpfe gegen den politischen Duck der Regierungen nur Etappen sind auf dem Wege, den Staat immer mehr aus seinen gegenwärtigen Positionen zu verdrängen, um ihn endlich aus allen Zweigen des wirtschaftlichen politischen und sozialen Lebens auszuschalten.

R(udolf) R(ocker)

Aus: "Der Syndikalist", 6. Jg. (1924), Nr. 43

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