Rationalisierung und Technik - Stumpfsinn oder Klassenkampf
Der Aufstieg der Technik im kapitalistischen Interesse ist von Jahr zu Jahr zu beobachten. Auf allen Gebieten, sei es Haushalt oder Betrieb, Straße oder Eisenbahn, Erde oder Luft, ist man bestrebt, durch Maschinen die menschliche Arbeitskraft entweder ganz auszuschalten oder aber sie auf ein Minimum herabzudrücken. Die Kapitalisten vereinfachen den Produktionsprozeß und verbessern die Maschinen auf Kosten des Proletariats.
Die in der ganzen deutschen Industrie erfolgte oder erfolgende Umstellung der Produktionsweise Rationalisierung genannt, wobei der größte Teil der Maschinen automatisiert wird und die Arbeiter durch das sogenannte Fließbandsystem so angespannt sind, daß sie nicht einmal Zeit haben ihre Nase zu putzen, setzt die Belegschaftsziffern herab und erhöht die Produktion wie den Profit. Zu gleicher Zeit sind die Unternehmer in allen Industriezweigen bestrebt, die Löhne abzubauen und die Arbeitszeit zu verlängern. Durch diese Methoden ist die gegenwärtige Lebenshaltung des deutschen Arbeiters katastrophal, da er alle Willkür des Unternehmers still über sich ergehen läßt.
Durch die Rationalisierung der Betriebe, Verlängerung der Arbeitszeit und schlechte Konjunktur infolge Profitmangels einiger Industriezweige wächst das Arbeitslosenheer in Deutschland von Woche zu Woche. Der Solidaritätsgedanke ist in der deutschen Arbeiterschaft von den Zentralverbänden und politischen Parteien nie gepflegt worden.
Bei allen Aktionen und Wahlmanövern hat man nur an den materiellen Instinkt der Massen appelliert. Kein Wunder, wenn heute von einer Klassensolidarität in der deutschen Arbeiterschaft nichts zu spüren ist. Schon lange hätten die deutschen Arbeiter dem Ansturm der Unternehmer einen Damm entgegensetzen müssen, wenn sie zum Klassenbewußtsein erzogen worden wären.
Dadurch, daß die Zentralverbände und politischen Parteien die deutsche Arbeiterschaft nie zum Klassenbewußtsein erzogen haben, sondern nur ein Interesse am passiven Markenkleben und an der Erziehung des deutschen Arbeiters zum Stimmvieh hatten, können die Unternehmer in Deutschland mit den Arbeitern machen, was sie wollen. Unbekannt sind der deutschen Arbeiterschaft alle Kampfesmethoden der direkten Aktion. Durch die Anwendung der direkten Aktion könnte die deutsche Arbeiterschaft der Willkür der Kapitalisten geschlossen gegenübertreten. Dazu wäre aber ein allgemeiner Zusammenschluß der Arbeiterschaft in föderalistischen Klassenkampforganisationen notwendig, wie sie die anarcho-syndikalistische Bewegung Deutschlands darstellt.
Schon lange wäre dann dieser Kampf um eine bessere Lebenserhaltung, Verkürzung der Arbeitszeit und Einführung aller Erwerbslosen in den Produktionsprozeß auf der ganzen Linie entbrannt. Der allgemeine Generalstreik, den die Anarcho-Syndikalisten seit Jahrzehnten propagieren, ist ein Kampfmittel, welches, wenn es einmal von der deutschen Arbeiterschaft zur Verbesserung der wirtschaftlichen und politischen Positionen angewendet werden würde, die Unternehmer und jede Regierung auf die Knie zwingen könnte. Aber die Arbeiter wollen in ihrem Elend und Stumpfsinn von Kampf nichts wissen. Sie finden es bequemer, zu räsonieren, auf den Verrat der Arbeiterführer zu schimpfen und im übrigen sich aber doch bei jeder Gelegenheit von neuem von den Partei- und Gewerkschaftsbonzen um die Finger wickeln lassen.
In diesem allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang des deutschen Proletariats wissen die freien Gewerkschaften und Sozialdemokraten nichts anderes zu tun, als den Unternehmern bei ihren Ausbeutungsgelüsten die Steigbügel zu halten. Praktisch an der Verbesserung und Linderung der Notlage der deutschen Arbeiter mitarbeiten können die Zentralverbände und politischen Parteien nicht, weil sie keine Klassenkampforganisationen sind. Sie üben im Parlament - der Schaubühne des Bürgertums - nur Spiegelfechterei und lassen sich in den Ausschüssen von gerissenen politischen, bürgerlichen Advokaten einseifen. In den Versammlungen müssen sie den Mund über den schweren Kampf am grünen Tisch bis über die Ohren aufreißen, um wenigstens auf diese Weise der Arbeiterschaft die Wichtigkeit ihrer Existenz zu beweisen.
Wenn die freien Gewerkschaften und politischen Parteien im Ernste daran arbeiten wollten, das Arbeitslosenheer zu vermindern und die Lebenshaltung des deutschen Arbeiters zu verbessern, so hätten sie die Arbeiterschaft schon lange zu einem Kampf, zum Generlastreik in Deutschland aufrufen und für den Sturz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung und Beseitigung des kapitalistischen Staates eintreten müssen. Sie aber wollen nicht den Kampf, deshalb sehen wir diese Organisationen nicht auf der Seite der Arbeiterschaft, sondern auf der der Regierung und Unternehmer. Sie befürworten die Rationalisierungsbestrebungen im Interesse der deutschen Wirtschaft in ihrem eigenen Interesse, weil prominente Genossen der SPD und Zentralverbände Aufsichtsräte der kapitalistischen Aktiengesellschaften sind. Sie verrichten internationale Streikbrecherdienste, wie es der englische Bergarbeiterstreik wieder beweist, weil es im Interesse der deutschen Kapitalisten liegt, weil sie selbst Aktien besitzen und an den Auszahlungen einer hohen Dividende interessiert sind. Ihre Genossen arbeiten an der bürgerlichen kapitalistischen Regierung mit, um den faulen korrupten Staat zu stützen und im Interesse der Bourgoise das Proletariat mit Gummiknüppeln, Gefängnis und Zuchthaus niederzuhalten, sich selbst aber eine sichere Futterkrippe zu sichern. So sehen die Vertreter des deutschen Proletariats aus, die die Arbeiterschaft aus Elend und Not zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung führen sollen und sich immer noch Sozialisten nennen.
Wenn heute die deutsche Arbeiterschaft in Elend, Tat, Kummer und Sorgen schmachtet, wenn Hunger und Erwerbslosigkeit sogar die besten Teile der Arbeiterschaft demoralisieren, so trägt das Gros der deutschen Arbeiterschaft selbst an dieser allgemeinen Verelendung Schuld. Sie laufen zu Tausenden den bürgerlichen Parteien nach, sie sitzen in allen möglichen Vereinen, haben am Klassenkampf kein Interesse und lassen sich teils von offnen, teils von verkappten Militaristen und Nationalisten einseifen, am Gängelbande
führen und verdummen. Sie sind zu Hunderttausenden Mitglieder der Organisationen, die bisher dauernd Verrat am Sozialismus, Verrat an proletarischen Interessen, Mord und Unterdrückung von Revolutionären und revolutionären Organisationen zum Prinzip erhoben haben. Wenn die deutschen Arbeiter mit ihrem Geld und ihrer Kraft die eigenen Henker und Verräter unterstützen, wie kann die Arbeiterschaft auf der anderen Seite eine Linderung ihrer Notlage, eine Beseitigung aller Zustände, die nur in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung auf der Tagesordnung sind, erwarten! Räsonieren allein hilft nichts. Auf die Worte muß endlich die Tat folgen. Solange aber die Tat auf sich warten läßt, die Tat, diesen arbeiterfeindlichen Organisationen den Rücken zu kehren und sich revolutionären Kampforganisationen anzuschließen, die Tat, ein Klassenkämpfer zu werden und mit diesen Zuständen und mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung endlich ein Ende zu machen, so lange bleiben Ausbeutung, Erwerbslosigkeit und Not bestehen. Die Bourgeoisie aber heimst auf Kosten der Arbeiterschaft weiter ihre Profite ein und hält die Arbeiter unter ihrer Fuchtel fest.
Mit Reformen und Untätigkeit wird sich die Lebenshaltung des Proletariats niemals bessern und der Sozialismus niemals kommen. Der Kapitalismus nimmt keine Rücksicht auf das Proletariat. Ihm ist es schnuppe, ob tausende und abertausende Erwerbslose, Frauen und Kinder in ihren Mietskasernen verhungern und auf den Straßen und in den Gefängnissen elendig verrecken. Mit eiserner Energie wendet der Kapitalismus alle Mittel und Methoden an, die geeignet sind, seine Existenz zu sichern und den Profit zu erhöhen. Trotz der großen Not breiter Volkskreise, trotz der angeblichen schlechten Wirtschaftslage werden Riesensummen an die Aktionäre als Dividende gezahlt, sind Bäder und Luxuslokale überfüllt.
Wie durch Verbesserung der Technik, Rationalsierung der Betriebe, die Produktionsmöglichkeiten um ein gewaltiges gewachsen sind, zeigt uns nachstehende Statistik. Nach dieser Statistik werden gebraucht zum
- Entladen eines Getreideschiffes von 6000 Tonnen: Früher 150 Arbeiter sieben bis acht Tage, das sind etwa 12000 Arbeitsstunden. Heute unter Verwendung eines Elevators 15 Arbeiter, Entladezeit 20 Stunden oder Insgesamt 300 Arbeitsstunden, das ist die 40fache Leistungsfähigkeit.
- Löschen einer Dampferladung von 2000 Tonnen Roheisen: Früher 28 Arbeiter, Entladezeit 48 Stunden, rund 1344 Arbeitsstunden. Heute unter Verwendung von zwei 160-Zentimeter-Hebemagneten zwei Arbeiter, Entladezeit elf Stunden, gleich 22 Arbeltsstunden, das ist die 61 fache Leistungsfähigkeit.
- Ein Glasbläser machte in acht Stunden 175 Flaschen. Eine Glasmaschine macht in acht Stunden 5000 Flaschen, das ist eine 28fache Leistungsfähigkeit.
- Ein Nagelschmied machte in acht Stunden 400 Nägel. Eine doppelte Drahtstiftmaschine macht in acht Stunden 96000 Nägel, das ist eine Leistungsfähigkeit, die das 240fache ausmacht.
- Für reine Stahlerzeugnisse brauchten wir 1900 6600 Kilogramm Kohlen für jede Tonne Stahl. Heute gebrauchen wir 10 Kilogramm Kohlen, das ist sogar eine 660fache Leistungsfähigkeit.
Das ist eine gewaltige Leistungsfähigkeit, an die vor wenigen Jahren niemand geglaubt hatte. Durch die ungeheure Arbeitsleistung wird der Profit sehr gehoben, die Gestehungsunkosten vermindern sich. Durch Verlängerung der Arbeitszeit und Abbau der Löhne werden die Betriebe nur noch rentabler und die Dividenden größer. Solange in Deutschland der Grundsatz besteht, durch Verlängerung der Arbeitszeit und niedrige Löhne die Profite zu vergrößern und Zentralverbände und Sozialdemokraten den Unternehmern dabei Vorspanndienste leisten, solange muß die Erwerbslosigkeit und das Elend aller Arbeiter anwachsen.
Hier gibt es nur ein Mittel, diesen systematischen Raub und diese Plünderung an der Volkskraft zu verhindern, — indem die kapitalistische Profitwirtschaft beseitigt und die sozialistische Bedarfswirtschaft eingeführt wird. Dazu aber bedarf die deutsche Arbeiterschaft revolutionärer Kampforganisationen.
Sie muß endlich den Zentralverbänden und politischen Parteien die Gefolgschaft versagen und den Rücken kehren. Die Arbeiterschaft muß aus dem Stumpfsinn und der Indifferentheit heraus. Solange sich aber die deutschen Arbeiter von den politischen Parteien am Gängelbande führen lassen, solange sie die unternehmerfreundlichen Zentralverbände unterstützen, es weiter dulden, daß diese Zentralverbände die Ausbeutungsraffinessen der Kapitalisten vergrößern helfen, solange kommt die deutsche Arbeiterschaft nicht aus dem Elend heraus, wird die Erwerbslosigkeit nie ein Ende nehmen. Dies alles allein kann die Arbeiterschaft selbst beseitigen, wenn sie sich Organisationen anschließt, die für Beseitigung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates eintreten, um an deren Stelle die Sozialistische Gesellschaftsordnung zu setzen, in der es keine Lohn - und Staatssklaverei mehr gibt.
Helfen allein kann der Arbeiterschaft nur noch die die soziale Revolution, die allen sozialen Mißständen, der Versklavung, Ausbeutung und Tyrannei ein Ende macht.
Th. Bennek.
Aus: Der Syndikalist, 8. Jahrgang, Nr. 32, Berlin 7. August 1926. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.