Die marginale Gewerkschaft

Über die organisatorische Eigenständigkeit des Anarchosyndikalismus in Zeiten der Schwäche, und ihre Stärken.

Es ist ein hartes Brot, die Dominanz etablierter und grundlegend konservativer Organisationen zu brechen; insbesondere in der Arbeiterbewegung. Keine Frage, Anarchosyndikalisten können ein Lied davon singen. Von regionalen Ausnahmen abgesehen, agierten sie stets als Minderheitenbewegung; in dieser Rolle sowohl gegen die sozialdemokratischen als auch die kommunistischen Organisationsformen der Arbeiterbewegung opponierend. Doch selbst am Tiefpunkt der Bewegung, vollkommen marginalisiert, fiel es ihnen nicht ein, der Geschichte Recht zu geben. Ein harter Kern hielt stets an seinem Konzept fest, immer noch davon überzeugt, etwas zu bieten, das grundsätzlich anders und besser ist. Doch was bringt das beste Konzept, wenn es (fast) nirgends Anklang findet? Wo stehen die Chancen besser: Mit der Erneuerung von außen, oder der von innen?

Der folgende Artikel möchte dieser Frage nachgehen. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Plausibilität einer organisatorischen Eigenständigkeit des Anarchosyndikalismus in Zeiten der Marginalisierung.

Seit sich die Arbeiterbewegung Organisationen geschaffen hat, gibt es Minderheiten in ihren Reihen, die mit der Ausrichtung nicht einverstanden sind. Häufig betrifft dies Strategie oder Positionierung einer Organisation, manchmal auch deren Gesamtkonzept. Und seit es solche Differenzen gibt, stellt sich für viele dieser Unzufriedenen stets eine Frage: Soll man in der Organisation bleiben und versuchen, als innere Opposition einen Kurswechsel herbeizuführen? Oder soll man es wagen, sich in einer anderen Struktur zu organisieren – sei es in einer bereits bestehenden oder in einer neu zu gründenden?

Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist voll von Abspaltungen und Neugründungen. Manche von ihnen, wie die Trennung des Bolschewismus von der Sozialdemokratie, wirkten entscheidend auf den Verlauf der Weltgeschichte. Andere verliefen im Sande oder verkamen wie das Phänomen des Trotzkismus zum Treppenwitz der politischen Geschichte. Ob die eine oder andere Aufspaltung gerechtfertigt war, liegt wie so häufig im Auge des Betrachters. Wer meint, die Geschichte habe darüber geurteilt, macht es sich aber zu einfach: Rechtens wäre dann stets das, was sich letztlich durchgesetzt hat. Eine traurige Perspektive.

Der Fetisch der Einheit

In der Regel sind Ab- und Aufspaltungen verpönt. Keine Organisation sieht es gerne, wenn sich ein Teil von ihr abspaltet bzw. eine Alternative neben ihr existiert oder entsteht. Sofern diese Verachtung nicht dem Eigeninteresse von Häuptlingen und Funktionären entspringt, die ihre Machtbasis schwinden sehen, ist diese Haltung psychologisch verständlich: Die von der Ausrichtung überzeugten AnhängerInnen wittern eine unnötige, von „Spaltern“ verursachte Schwächung der Bewegung. Es liegt auf der Hand, dass man gegenüber Konkurrenzorganisationen eher Antipathien empfindet, wenn man von der „eigenen“ zumindest soweit überzeugt ist, dass man glaubt, sie befinde sich mehr oder weniger auf dem richtigen Weg. Für den separaten Weg einer Abspaltung gibt es dann nur insofern Zustimmung, als man sich selbst nicht mehr mit quälenden inhaltlichen Diskussionen und Machtspielchen herumschlagen muss.

Da auch Arbeiterorganisationen stets ein politisches Feld von Auseinandersetzungen um Macht waren, sollte es nicht verwundern, dass viele Spaltungen tatsächlich ihre Ursache weniger in grundlegenden konzeptionellen Unterschieden als in simplen inhaltlichen Nuancen hatten. Diese Differenzen mussten dann als Projektionsfläche eines internen Machtkampfes herhalten. Hier mag das Urteil so abwegig nicht sein, dass die Renegaten nicht genügend Selbstdisziplin hatten, die notwendig ist für eine Organisation auf breiter Basis. Eine gewisse Reife hinsichtlich abweichender Meinungen ist für das Funktionieren unerlässlich: Es fordert von Minderheiten die Toleranz, Beschlüsse der Mehrheit hinzunehmen, ohne jedes Mal einen Grabenkrieg zu entfesseln, der die Organisation handlungsunfähig macht. Wo nun genau die Grenze zwischen inhaltlichen und konzeptionellen, die Grundlagen der Organisation betreffenden Differenzen liegt, ist eine Frage, die sich allgemein nicht beantworten lässt. Klar ist aber, dass es diesen Unterschied gibt, auch wenn er sich je nach Einzelfall anders gestaltet.

Gerade in etablierten Organisationen, wo vermeintlich viel auf dem Spiel steht, wenn sich substanzielle Konflikte eröffnen, neigen sowohl loyale Anhänger als auch die Opposition dazu, Konflikte im Bereich der Meinungsverschiedenheit zu verorten. Die Unzufriedenheit mag bei Letzteren noch so hoch sein, die Option, mit seinen Positionen und Vorstellungen eigene Wege zu gehen, wird meist ausgeschlossen. Allzu häufig verkommen die Erwägungen darüber zu Formalismus: Organisationsgrad bzw. Mitgliederzahlen werden gleichgesetzt mit Wohl und Wehe einer Organisation. Bei aller Differenz, die Organisationsräson steht letztlich im Vordergrund.

Die Einheit der Gewerkschaftsbewegung

Dass die Organisationsräson in politischen Parteien maßgeblich ist, verwundert kaum. Das Feld ihres aktiven Handelns ist bestimmt durch den Imperativ der politischen Machterlangung. Erfolge sind hier gleichbedeutend mit der Schaffung von Kapazitäten des Zuspruchs, wohinter andere, höhere Zwecke zunächst zurückzutreten haben. Wie sehr dieser Mechanismus zum Tragen kommt, zeigt das historische Beispiel der SPD: Mit der Festlegung auf den Stimmzettelkampf Ende des 19. Jahrhunderts degenerierte die Partei in kürzester Zeit und schuf in ihrer Mitgliedschaft eine Rationalität, in der geistige Belange mit machtpolitischen gleichgesetzt wurden. Keine andere Partei, die auf die parlamentarische Betätigung ausgerichtet ist, war jemals anders verfasst – und wenn doch, dann nicht lange.

Bei Gewerkschaften liegt die Sache anders. Ihre Erfolge müssen sich daran messen lassen, welche Vorteile sie für ihre Mitglieder erlangen. Sie müssen Konkretes vorweisen und sich nicht im Gaukelspiel der Politik profilieren. Die einzelne Gewerkschaft hat es dabei nicht nötig, gesellschaftliche Mehrheiten zu versammeln. Ihre tatsächliche Schlagkraft und Durchsetzungsfähigkeit, ihre ganze Effektivität hängt nicht von Stimmen, sondern von innerer Mobilisierungskraft und Methodik ab. Eine kleine Gewerkschaft mit richtigen Organisations- und Kampfformen kann das ganze Land erschüttern.

Und doch scheint der Einheitsfetisch in der deutschen Gewerkschaftsbewegung stärker ausgeprägt als im parteipolitischen Spektrum. Gewerkschaftslinke sind ohne Umschweife bereit, ein neues Parteiprojekt mitzutragen, sehen aber gleichzeitig in der gewerkschaftlichen Organisierung jenseits des DGB ein Tabu.(1) Die Ursachen hierfür mögen vielfältig sein, schwer wiegt aber sicherlich das allgemeine Verständnis von der Rolle der Gewerkschaften: Sowohl die Sozialdemokratie als auch ihre kommunistischen Abkömmlinge definierten und definieren Gewerkschaften stets als dem Politischen untergeordnet. Der ökonomische Bereich wurde dabei nie als Hauptkampffeld der Arbeiterklasse begriffen, die Gewerkschaften wurden dementsprechend in ihrem Aktionsradius eingeschränkt. Dass sich die Gewerkschaften dabei zunehmend in begrenzte Aushandlungs- und Konfliktroutinen der bürokratischen Art versteifen würden, war quasi vorprogrammiert.

Der Syndikalismus propagierte stets ein anderes Konzept: Er sah die Garantie für eine vitale Arbeiterbewegung nur dann gegeben, wenn zum einen die Arbeiterklasse ihre ureigenste Waffe (ihre ökonomische Macht) nicht von den politischen Prozessen abtrennt, und zum anderen die Initiative des politisch-ökonomischen Handelns stets bei den ArbeiterInnen selbst liegt. Je mehr die Idee Syndikalismus verdrängt, verschüttet und vergessen und das sozialdemokratische Modell hegemonial wurde, umso weniger gab es eine wahrnehmbare Alternative zur vorherrschenden gewerkschaftlichen und politischen Organisationsform in der Arbeiterbewegung.(2) Sie wurde geradezu normativ. Wenn die Organisationsform in ihren Grundlagen aber nicht zur Diskussion steht, äußert sich jeder Verdruss über die vorherrschende Gewerkschaftspraxis lediglich in Personal- und Sachfragen – in Problemen also, die vermeintlich durch einen anderen Kurs zu beheben sind und keiner neuen Strukturgrundlage bedürfen.

Der Marsch durch die Institution

Viele progressive GewerkschafterInnen glauben, dass sie innerhalb des DGB arbeiten und ihn zum Besseren verändern könnten. Diese Verhaltensweise ist zum Teil verständlich: Sie wollen einfach etwas zur Überwindung der diagnostizierten Probleme beitragen. In dem ein’ oder anderen Fall sind solche Erwartungen realistisch, im nächsten jedoch schon illusorisch. Apparate habe ihre eigene Physik der Macht: Als Stifter von bezahlten Posten und finanziellen Sicherheiten erzeugen sie Loyalitäts- und Abhängigkeitsverhältnisse, die unter den Funktionären aller Ebenen einen opportunistischen Pragmatismus begünstigen – das Aufkommen „alternativer Positionen“ von unten, oder gar eine „Syndikalisierung“ wird dadurch blockiert.

Zahlreiche Gewerkschaftslinke sehen aber genau das als ihr Projekt. Sie versuchen, im Inneren der DGB-Gewerkschaften zu wirken, um sie kämpferisch und demokratisch auszurichten. Die Intention ist sicherlich nicht verwerflich. Problematisch erscheint jedoch die Plausibilität: Da der DGB bekanntlich nicht basisdemokratisch ist, sondern Geld und Entscheidungsgewalt in den Händen nur turnusmäßig abwählbarer Funktionäre liegt, hängt das Funktionieren eines solchen Planes wesentlich davon ab, Einfluss in den etablierten Strukturen zu gewinnen, um die eigene Position zu stärken. Eine Organisation derart umzukrempeln, also revolutionieren zu wollen, ist ein vielfach eingeleitetes und vielfach gescheitertes Unterfangen in der Geschichte.(3)

Sicherlich gibt es auch andere Gründe, im DGB aktiv zu sein. Selbst Anarchosyndikalisten könnten und können dem etwas abgewinnen, ohne gleich zu glauben, der DGB würde syndikalistisch werden. Vielmehr stellt sich für sie die Frage, ob es noch Sinn macht, sich in eigenständigen Strukturen zu organisieren. Die ehemaligen FAUD-Mitglieder verneinten diese Frage nach dem 2. Weltkrieg ebenso wie zahlreiche Syndikalisten in anderen Ländern, die sich in den sozialdemokratischen oder kommunistischen Gewerkschaften organisierten. Ausschlaggebend war die Annahme, dass die Bedingungen für eine syndikalistische Bewegung vorerst nicht mehr gegeben seien und Anarchosyndikalisten als kulturell-politischer Zusammenhang wirken sollten, um die etablierten Organisationen als Propagandafeld zu nutzen. Im Trotzkismus bekam diese Strategie den Namen „Überwinterungs-Entrismus“. Die moralischen Untiefen dieser Theorie außen vor lassend, wohnen ihr deutliche taktische Schwächen inne: Denn eine kämpferische Gegenkultur etabliert sich weniger über propagandistische Arbeit als vielmehr über praktische Beispiele, die das Potential von Selbstorganisation nicht nur theoretisch andeuten, sondern in der Realität unter Beweis stellen. Einzelne, lodernde Beispiele können dann schnell Schule machen und sich zum Flächenbrand auswachsen.

... oder rausgehen, Luft holen

Lenin meinte einst, als Revolutionär könne man den Reformisten keinen größeren Gefallen tun, als ihre Organisationen zu verlassen. Diese Kritik galt den „Linksradikalen“ wie man sie z.B. in den amerikanischen Industrial Workers of the World (IWW) vorfand. Im Rückblick hatte Lenin auf ganzer Linie Unrecht. Die IWW erkannten damals, dass sich der Apparat der AFL (der damals zutiefst reaktionär ausgerichteten, großen Gewerkschaft in den USA) nicht von innen reformieren ließe.(4) Zahlenmäßig relativ klein, aber befreit von all dem hinderlichen Ballast, konnten die AktivistInnen der IWW eine Konsequenz an den Tag legen, die Klassenbewusstsein und Kampfgeist der gesamten amerikanischen Arbeiterklasse anstachelten. Unter dem Druck der von den IWW inspirierten Basis, musste die AFL einige ihrer Prinzipien umkrempeln und Konzessionen an Konzepte machen, die sie zuvor vehement bestritten und bekämpft hatte. Auch wenn von den IWW selbst letztlich wenig übrig blieb – hätten sie versucht, die AFL von innen zu agitieren, es wäre wohl kaum zu der Veränderung in der amerikanischen Gewerkschaftslandschaft gekommen, die entscheidend war für die folgende Erkämpfung sozialer Verbesserungen.

In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele, wo es der Druck von außen war, der als Katalysator wirkte und die erstarrten Gewerkschaften zu Reformen zwang. So waren z.B. die italienischen Gewerkschaften Ende 1960er Jahre gezwungen, ihre Konzepte zu überdenken, als sich große Teile der Arbeiterschaft autonom organisierten und radikale Forderungen auf den Tisch brachten. Und auch die aktuelle kämpferische Gewerkschaftsbewegung in Frankreich wäre ohne den äußeren Einfluss der anarchosyndikalistischen CNT und der Basisgewerkschaften von SUD seit 1995 nicht denkbar.(5) Um nur ein paar Beispiele zu nennen. Dagegen ist die Erfolgsliste derjenigen, die versuchten, Gewerkschaftsapparate von innen umzukrempeln, erschreckend kurz.

Die Dialektik der Konkurrenz

Dass Konkurrenz das Geschäft belebt, gilt wohl auch für Gewerkschaften. Ablesen lässt sich das auch an aktuellen Beispielen in Deutschland. Ver.di zum Beispiel befindet sich gerade unter Zugzwang, weil ihr die GDL nun Mitglieder im Nahverkehr streitig macht (6), so wie sich durch das entschiedene Auftreten der Lokführer der Druck auf die Gewerkschaftsführungen generell erhöht hat. Und dass die NGG-Führung seit Jahren noch den stärksten Kampfgeist unter den DGB-Gewerkschaften beweist, dürfte nicht unwesentlich darauf zurückzuführen zu sein, dass sie immer wieder ihre Existenzberechtigung beweisen muss, um nicht von ver.di geschluckt zu werden.

Dies alles sollte nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, dass ein Konkurrenzsystem das Ideal der Gewerkschaftsbewegung sein könnte. Im Gegenteil, in den USA oder Frankreich, wo solch ein System institutionalisiert wurde, zeigt sich sehr deutlich, wie dieses zu Lasten der Beschäftigten gehen kann. Sei es, dass für einzelne Gewerkschaften der Gegner nicht mehr der Unternehmer, sondern die konkurrierende Gewerkschaft ist. Sei es, dass die verschiedenen „Kapellen“ mit ihren je eigenen Losungen die Beschäftigten in der Entfaltung ihrer Stärke behindern, die ja in der gemeinsamen Aktion liegt. Schließlich strebt auch der Syndikalismus die Vereinigung aller Lohnabhängigen an – nur eben in einer vollkommen anderen Form als die der sog. Einheitsgewerkschaft. Doch die Geschichte sollte uns verdeutlicht haben, dass in bestimmten historischen Situationen ein Aufbruch in verschiedene Gewerkschaftsfraktionen für die Arbeiterklasse nur von Vorteil sein kann. Gerade wo die Gewerkschaftsbewegung im Korsett einer Einheitsgewerkschaft gefangen ist, die sich nicht als Wahrer von Arbeiterinteressen, sondern als Säule der kapitalistischen Ordnung erweist, ist dies zwar keine angenehme, aber doch eine den „Gesamtgewerkschafter“ (Labournet) stärkende Kur.

Der positive Effekt liegt nicht nur darin begründet, dass hierbei eine Konkurrenz der verschiedenen Gewerkschaften um die Gunst der Arbeiter entsteht, was sich kurz- und mittelfristig mit konkreten Verbesserungen für diese auszahlt. Es ist ebenso eine sozialpsychologische Frage: Jeder hegemoniale Diskurs schafft eine Eindimensionalität im Bewusstsein, die Perspektiv- und Alternativlosigkeit hervorruft. Das Wirken in etablierten und diesem Diskurs entsprechenden Institutionen kann eine solche Homogenität von „Gewissheiten“ nicht aufbrechen. Jedes System ist in der Lage, widersprechende Tendenzen und Elemente in sich zu relativieren. Kurz gesagt: Eine Alternative wird kaum als solche wahrgenommen, wenn sie zu eng mit der alten Struktur verwoben ist – sie diskreditiert sich entweder oder wäscht das Alte rein. Eine politische Differenzierung, die Ausweitung denkbarer Möglichkeiten und die Auflösung von eindimensionalen Befangenheiten, wird am ehesten durch illustrative Beispiele befördert, die sich praktisch in Reinform manifestieren.

Von der Marginalität zur Minorität

Der Syndikalismus ist ein Konzept, das als politisch-ökonomische Kampforganisation im Widerspruch sowohl zum sozialdemokratischen als auch zum kommunistischen Modell steht. Seine organisatorische Eigenständigkeit ist für seine Existenz Voraussetzung. Als bloßer Kulturzusammenhang hat er sich bereits von der Welt verabschiedet. So könnte eine Fazit aussehen, das den Syndikalismus ideengeschichtlich das Wort redet.

Eine andere Frage ist, wie sich der Syndikalismus unter den gegebenen Umständen überhaupt praktisch verwirklichen kann. Die bloße Existenz eigenständiger Organisationen reicht dazu nicht aus. Als stark marginalisierte Bewegung stehen viele SyndikalistInnen heute vor dem Problem, eigenständige Kämpfe auch beim besten Willen nicht führen zu können. Das ist erstmal kein neues Problem, der Syndikalismus war schon immer vielerorts eine Minderheitenbewegung. Heute zeigt sich das Problem allerdings in verschärfter Form, denn eher muss schon von einer Marginalitätenbewegung, einer Mini-Minderheitenbewegung die Rede sein. Ein Grund, den Kopf hängen zu lassen, ist das jedoch beileibe nicht. Wenn es in der Geschichte der Arbeiterbewegung oftmals Minoritäten waren, die durch ihre Entschlossenheit Impulse für die Kämpfe der gesamten Arbeiterbewegung gegeben haben, so kann der entscheidende Hebel von Marginalitäten nur ein Mehr an Entschlossenheit sein.

Selbst kleine syndikalistische Organisationen können größere Kampfkraft entfalten als manch große Gewerkschaft.(7) Das ist selbstverständlich zunächst relativ zu sehen. Dass der Organisierungsgrad der FAU zum Beispiel nicht derart ist, dass sie einen Großbetrieb bestreiken könnte, ist kein Geheimnis. Die FAU besteht aber aus einem Kern klassenbewusster ArbeiterInnen und einer Vision von Solidarität, die keine Grenzen kennt. Sie hat sich den Interessen der gesamten Arbeiterklasse verschrieben und nicht nur Mitgliedern einer bestimmten Einzelgewerkschaft. Sie kann beweisen, was für eine wichtige Waffe Klassenbewusstsein und Solidarität sind, wenn sie zeigt, dass die gesamte Organisation mit einer Faust für die Interessen ihrer Mitglieder eintritt; selbst wenn es sich nur um die Belange einer einzelnen Person handelt. Und sie kann es beweisen, wenn sie andere selbstorganisierte Kämpfe ohne Wenn und Aber unterstützt und dabei mithilft, wieder zu siegen. Dafür muss sie allerdings bereit sein, sich an jeden beliebigen Punkt des Kampffeldes zu begeben, wenn ihre Hilfe erwünscht oder erfordert ist.

Eine syndikalistische Organisation muss sich deshalb selbst unter Zugzwang setzen, jeden Konflikt, an dem sie direkt oder indirekt beteiligt ist, zum Erfolg zu führen – wenn nötig, mit allen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen. Solche Beweise der Entschlossenheit und Effizienz werden es sein, die sie über einen Kern überzeugter Idealisten hinaus für ArbeiterInnen interessant macht. Dann, so das Orakel, ist es auch nicht mehr weit bis zur Minderheitenbewegung, und wir werden sehen, wie schnell sich so ein DGB auf einmal reformieren kann.

Holger Marcks

Anmerkungen:
(1) Ein gängiges Argument: Gewerkschaften jenseits des DBG schwächen die Gewerkschaftsbewegung ingesamt. Hier kommt der volle Formalismus zum Tragen, was offensichtlich ist, wenn man folgendes in Betracht zieht: Bei der deutschen Einheitsgewerkschaft handelt es sich um die zahlenmäßig stärkste der Welt, dennoch ist sie zu keiner nennenswerten Gegenwehr (Hartz IV, Rente, etc.) in der Lage oder willens.
(2) „Genau am Tage, als die cäsarische Revolution über den Gewerkschaftsgeist [des revolutionären Syndikalismus] gesiegt hatte, verlor das revolutionäre Denken in sich selbst ein Gegengewicht, dessen es sich nicht, ohne zu verfallen, berauben kann. …“; Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek b.H. 1969, S. 262.
(3) Auf die konservierende Tendenz bestimmter Organisationsstrukturen versucht der Anarchismus seit eh und je hinzuweisen, und kann damit als Mutter der Organisationssoziologie gelten. Trotzkisten eines sog. „Netzwerkes für eine kämpferische und demokratische ver.di“ nehmen davon selbstverständlich keine Notiz.
(4) Andere Zeiten, gleiche Sitten: Auch die IWW mussten sich Vorwürfe anhören, die amerikanische Arbeiterbewegung zu spalten. Damals wie heute sah und sieht man elegant darüber hinweg, dass die Spaltung dank der etablierten Gewerkschaften bereits allgegenwärtig ist.
(5) Siehe dazu „Kämpfen wie in Frankreich“, DA #185, Jan./Feb. 2008.
(6) Siehe dazu „Unter Zugzwang“, DA #186, März/April 2008.
(7) Die IG Metall z.B. hat als größte deutsche Einzelgewerkschaft einer eigenen Umfrage zufolge nur 20–30.000 aktive Mitglieder. Eine syndikalistische Organisation, die aktive Mitgliedschaft quasi voraussetzt, muss also nicht sonderlich groß sein, um sich mit anderen Gewerkschaften in Deutschland messen zu können.

Erschienen in: Direkte Aktion 187 – Mai/Juni 2008

Originaltext: http://www.direkteaktion.org/187/die-marginale-gewerkschaft


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