Arnold Roller - Nach dem Sieg des sozialen Generalstreiks (1919)

I. Die Industrie

Wie aus der Praxis des Streiks die Theorie und auch die Praxis des Generalstreiks resultiert, so bildet sich auch aus der Praxis, der Propaganda und Verbreitung der Idee des Generalstreiks als Kampfmittel, wieder eine neue Weltanschauung der Neuorganisation und des Neuaufbaues für die Tage nach dem siegreichen Generalstreik.

Da die Streiks hauptsächlich von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern ausgingen, ist es auch ganz natürlich, dass in den Gewerkschaften am meisten die Idee des Generalstreiks propagiert wurde. So ist es nun weiter eine logische Folge, dass nach dem siegreichen Generalstreik die Gewerkschaften - diese schon vorhandenen Organisationen - es sein sollen, welche die Produktion sowie den ganzen Neuaufbau der Gesellschaft zu übernehmen haben.

Der Grundgedanke war schon von Anfang an der, dass sich das Volk sofort nach dem Siege in seine Gewerkschaftshäuser, Arbeitsbörsen, in seine ökonomischen Organisationen zu begeben habe, um durch diese Besitz von den Produktionsmitteln zu ergreifen. Jede Gewerkschaft fibernimmt die Produktionsmittel ihres Faches und ihres Wirkungsgebietes, und so kommt allmählich die Produktion wieder in Gang Verschiedene Gebiete der Produktion würden natürlich ganz aufgehoben werden, wie z. B. die Waffenproduktion, die Münze, Erzeugung von Kirchengeräten, Messgewändern etc., andere wenigstens auf längere Zeit, wie z. B. von Luxusartikeln, Spielsachen und dergl.

Die vorhandenen Waffenvorräte würden umgeschmolzen oder zu nützlichen Maschinen oder Werkzeugen umgewandelt werden. Alle die freigewordenen Arbeiter der aufgehobenen Industrien, die Millionen ehemals Arbeitsloser, die Tausenden von ehemaligen Angestellten der Bankhäuser, der Warenverteuerungsunternehmungen und Schwindelbureaus, alle Börsenjobber, Handlungsreisenden, die nun beschäftigungslos gewordenen Pfaffen, Henker, Richter, Polizisten, Offiziere, Lakaien und Minister, die Millionen freigelassener Soldaten werden jahrelang alle Hände voll zu tun haben, um die elenden Baracken, die wahren Pest- und Fieberhöhlen, in denen das Volk gezwungen ist, zu wohnen, niederzureissen und an deren Stelle für alle schöne, bequeme, gesunde Häuser zu errichten und sie mit allem Komiort der Neuzeit auszustatten. Jahrelang wird man zu arbeiten haben, damit das ganze Volk endlich seine elenden Lumpen, in die es gehüllt ist, vom Leibe reissen und sich nun in schöne, bequeme, den Jahreszeiten entsprechende Gewänder kleiden kann.

Jahrelang wird man auch noch zu tun haben, alle die finsteren Erinnerungen an die Tyrannei zu beseitigen, die Zuchthäuser, Festungen und noch bestehenden Bastillen zu zerstören, alle die römischen Galten - denn nichts anderes ist ja das Kreuz - von den vielen Palästen und Kirchen herunterzureissen und die Kirchen, je nach ihrem künstlerischem Wert, in Pferdeställe, Magazine, Versammlungsorte oder Museen zu verwandeln.

Alle die Säulen, die an die Siege in grossen Massenmorden erinnern, alle Monumente zur Verherrlichung der mittelalterlichen Raubmörder, welche die Geschichte höflich nur „Raubritter" nennt, alle die Monumente, die den „reibombas" und „Kartätschenprinzen" dutzendweise vom „dankbaren Volk" (das garnicht befragt wurde) errichtet wurden, werden in Stücke zerschlagen werden müssen, um an deren Stelle Monumente und Denkmäler der wirklichen Heroen der Menschheit errichten zu können, den Kämpfern und den leider so entsetzlich zahlreichen Märtyrern der Freiheit, den Dichtern und Denkern, welche die Menschheit aus dem Dunkel und der Unterdrückung zum Licht und zur Freiheit emporgeführt.

Nach dieser Übergangszeit kann und wird wieder das Kunsthandwerk aufgenommen werden, das Dank der kapitalistischen Industrie verschwunden ist, die an dessen Stelle die viel tiefer stehende, wenn auch äusserlich glänzende „Luxusindustrie" setzte. An den architektonischen Schöpfungen des Mittelalters, der Zeit der freien Handwerkerverbände, bewundern wir den Reichtum und die Manigfaltigkeit der Skulptur, wie sie noch in den alten Munstern, Höfen der Paläste, den alten Universitäten etc. erhalten sind. Jede Säule hat einen anders ausgeführten Kopf, jeder bildhauerisch ausgeschmückte Teil eine andere Zeichnung. Man sieht, dass hier der Arbeiter frei nach seiner Lust und Kunst schaffen konnte, nicht gehetzt von Antreibern und der kapitalistischen Ausbeutung, nicht zum Bruchteil eines Automaten reduziert durch die Arbeitsteilung.

Nach dieser Übergangszeit wird die Arbeit wieder zur Kunst werden, weil sie frei, ohne Zwang und Antreiberd ausgeübt werden wird, und als Kunst wird sie, wie jede Kunst, dem Schaffenden nur Freude und Genuss bereiten, und so wird die blosse Freude am Schaffen aller Arbeiter-Künstler deren mächtigster Antrieb sein und die sichertse Garantie einer für alle Bedürfnisse üppig ausreichenden Produktion. Da auch die Triebe der menschlichen Betätigung, die Fähigkeiten und Neigungen der Menschen so verschieden sind, so werden auch die mannigfaltigsten Bedürfnisse der Menschheit reichlich befriedigt werden können.

Doch vor der Erreichung dieses Ideals des völlig freien keinerlei Regelung bedürftigen Kommunismus wird wohl eine Zeit des Übergangs notwendig sein, deren voraussichtliche Form und Organisation sich schon jetzt aus der Form der Organisation der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ganz von selbst ergibt. Am klarsten sieht man dies in Frankreich, und am besten bewies es das Organ der französischen Syndikalisten „La Voix du Peuple", das sich hauptsächlich die Propaganda des Generalstreiks zur Aufgabe stellt.

Die Organisation ist in Frankreich - in grossen Zügen dargestellt - folgende:

Alle Mitglieder eines Berufes in einer Ortschaft, einer Stadt vereinigen sich zur Orts-Berufs-Gewerkschaft. Nehmen wir als Beispiel den Ortsverein der Möbeltischler in der Stadt H. Alle anderen Berufe in derselben Stadt haben ebenfalls ihre Gewerkschaften. Alle diese Ortsgewerkschaften vereinigen sich in der „Arbeitsbörse", dem Gewerkschaftskartell derselben Stadt. Hier in der Arbeitsbörse halten sie ihre Versammlungen ab, Ihn Unterrichtskurse, ihre Vergnügungen, beraten sie ihre gemeinsamen Angelegenheiten. Die gemeinsame Organisation aller Gewerkschaften in jeder Stadt ist also die Arbeitsbörse. Sämtliche Arbeitsbörsen aller Städte des ganzen Landes sind aber nun wieder untereinander zum Verband der Arbeitsbörsen vereinigt.

Nun ist aber noch ausserdem jede Ortsgewerkschaft Mitglied des Nationalverbandes sämtlicher Gewerkschaften desselben Faches, also als Beispiel: der Verband sämtlicher Möbel-Tischler-Gewerkschaften Frankreichs. Sämtliche Berufsverbände sind nun wieder in den Industrieverbänden lokal und national organisiert, so also die Möbel-Tischler-Gewerkschaft im Ortsverband der Holzindustrie; der Ortsverband der Holzindustrie im Nationalverband der Holzindustrie für ganz Frankreich. Sämtliche nationalen Industrie- und Berufsverbände Frankreichs aller Berufe sind wieder untereinander zu einer grossen gemeinsamen Organisation: der „Confédération générale du Travail" und der „Fédération des Bourses du Travail" verbunden, deren Glieder, schon vorher untereinander vereinigt, sich netzartig kreuzen, vereinigen und in die Hände arbeiten.

Selbstverständlich sind alle Gewerkschaften und Verbände selbständig, beigeordnet und nicht untergeordnet. Es gibt keine „Exekutivkomitees", keinen „Generalrat", sondern nur ein Komitee zur Verständigung und Korrespondenz.

In den Monaten Juni bis Oktober 1902 veranlasste nun „La Voix du Peuple" in ihren Spalten eine öffentliche Diskussion und Umfrage über die Rolle dieser vorhandenen Organisation in der Zukunft - am Tage nach dem Generalstreik - und über die Organisations- und Funktionsform, die sie der neu aufzubauenden Gesellschaft zu geben beabsichtigen.


Eine ungeheure Anzahl Antworten, welche die Gewerkschaften und Organisationen einsandten, wurden veröffentlicht und ergaben ein in ihrer Übereinstimmung höchst interessantes Resultat. Ausser den allgemeinen Punkten behandelte jede Gewerkschaft in ihrer Antwort hauptsächlich die Stellung, die sie selbst in der Zukunft - während und nach dem siegreichen Generalstreik - einzunehmen beabsichtigt.

So antwortete z. B. unter anderen im Namen seiner Gewerkschaft der Sekretär des Verbandes der Luxusindustrien, dass deren Mitglieder, von der Notwendigkeit überzeugt, dass sie ihr Handwerk nach dem Generalstreik wohl für lange Zeit aufzugeben haben, fest entschlossen sind, sich sofort in solchen Berufen zu verteilen, wo es an Arbeitern mangeln wird, dadurch also als Gewerkschaft zu existieren aufhören und als solche keinerlei Anteil an der Neuorganisation nehmen können. Einstimmig schrieben aber alle anderen Gewerkschaften, dass sie, ihrer Mission wohl bewusst, sofort nach dem Siege von den Produktionsmitteln ihres Berufes Besitz ergreifen und die Produktion fortsetzen werden.

In allen übrigen Fragen genügt es, nur das Resultat, die vorherrschende Meinung der Antworten aller Gewerkschaften mitzuteilen.

Die Industrieverbände werden dazu bestimmt sein, das Rohmaterial unter die verschiedenen Produktionsgewerkschaften der einzelnen Berufe, die diesem Industrieverband angehören, zu verteilen.

Die Arbeitsbörsen hätten sich mit dem intellektuellen und moralischen Gebiete des Lebens zu befassen, der Erziehung, dem Unterricht, dem Vergnügen und besonders auch mit der Statistik der Bedürfnissse ihrer Region, ihrer Ortschaft. Die Summe der Statistiken der Bedürfnisse, aufgestellt von den Arbeitsbörsen der einzelnen Regionen, ermöglicht es, dem „Allgemeinen Verband der Arbeit" und dem „Verband der Arbeitsbörsen" des ganzen Landes leicht diese Produkte und Rohmaterialien, die in einer Region im Überfluss vorhanden sind, in die Regionen zu senden, in denen sie benötigt werden. Aus den öffentlichen Magazinen, in denen die Produkte und Vorräte aufgestapelt werden, können dann alle nach Lust und Bedürfnis entnehmen, da sich ja die Produktion nach den Bedürfnissen richtet. So ergiebt sich die Organisation der Zukunft schon von selbst aus den vorhandenen Organisationen der Gegenwart.

Die überschüssige Kraft der Genossen, die, nicht mehr wie ehemals durch allzulange Arbeitszeit ausgebeutet, sich sofort nach der Arbeit übermüdet aufs Lager warfen, sondern nun frisch und munter andere Gebiete der Betätigung suchen, betätigt sich nach der Zeit der produktiven, schaffenden, manuellen Arbeit in zahl- losen Vereinigungen,, die ihren Neigungen und Trieben am besten entsprechen.

So verbringen die einen ihre freie Zeit in wissenschaftlichen oder Kunst-Vereinigungen, andere in sanitären Organisationen, diese in Vereinigungen zum Unterricht und zur Aufklärung, jene wieder in irgend einer anderen Gruppe, und so arbeitet sich das ganze ungeheure, verwickelte Netz von Gruppen und Assoziationen gegenseitig in die Hände, ohne irgend einer Zentral- oder Exekutivstelle zu bedürfen.

II. Die Landwirtschaft

Sobald infolge des Sieges der Proletarier in den Städten, durch den Sieg des Generalstreiks, keine Macht mehr vorhanden ist, um das „Eigentum" der Grundherren und Dorfwucherer, das sie dem Bauern geraubt und gestohlen haben, zu beschützen, so werden schon die reaktionärsten Bauern, die immer nur für die Pfaffen stimmten und niemals für die Staatsdekrete der Sozialdemokratie zu begeistern waren, sofort dabei sein, die grossen Herren zu expropriieren. Die noch nicht ganz getötete Tradition des ursprünglichen Dorfgemeinde-Kommunismus wird es schon mit sich bringen, dass man die Wälder, Felder und Weiden, die das Volk von den Grossgrundbesitzern zurücknimmt, zu Gemeindeweiden, Gemeindewäldern und Gemeindefeldern machen wird, die dann schon den grössten Teil des Bodens in der Dorfgemeinde bilden werden.

Die geringe Produktivität des noch allgemein üblichen primitiven Systems des Ackerbaues wird bald durch die grossen Maschinen erhöht, welche die Produktionsgewerkschaften aufs Land schicken, und die von städtischen Arbeitern bedient und montiert werden, die grossen Dampfpflüge und Ackerbaumaschinen, der ständige Kontakt der Arbeiter mit den Bauern lassen nun auch bald die Grenzsteine des noch übrigen Bodens all der vielen kleinen Bauerngüter verschwinden.

So kommt dann auch das Land notwendig und organisch zum Dorfgemeinde-Kommunismus, zu dieser Organisation, die wenigstens bis zum völligen Verschwinden des Unterschiedes von Stadt und Land, Bauer und Arbeiter am besten entspricht den produzierenden Gewerkschaften der Arbeiter in den Städten und den Industriebezirken.

Schon eingangs dieses Abschnittes wurde ausführlich geschildert, wie durch den Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaft Millionen von Arbeitskräften frei würden, die sich von nun an nützlichen und schaffenden Betätigungen zuwenden könnten. Während sich ein Teil, wie schon erwähnt wurde, dem Herrichten von bequemen Wohnungen für das ganze Volk widmen würde, würde sich der weitaus grösste Teil der Landwirtschaft und Verpflegung zuwenden.

Man wird darangehen, an die systematische und gründliche Ausnützung der Ozeane und Meere zu denken, an die Ausbeutung der unermesslichen Schätze, der zahllosen Lebewesen in deren Innerem und auf deren Grunde, an eine systematische Kultur der Meerestierwelt.

Bis jetzt sind alle Fortschritte der modernen Wissenschaft und Technik fast ausschliesslich nur der Industrie zugute gekommen, während in den meisten Ländern die Landwirtschaft jetzt noch meist nicht höher steht, wie sie vor 4000 Jahren war.

Nun würden sich Tausende von Intelligenzen diesem Gebiete zuwenden, die Industrie mit der Landwirtschaft kombinieren und die neuesten Errungenschaften der Wissenschaft und Chemie hier zur Anwendung bringen.

Da kein Interesse mehr bestehen wird, extensive, d.h. also oberflächliche Raubwirtschaft zum Vorteil Weniger zu betreiben, wird man sich der intensiven, d.h. eindringlichen Bewirtschaftung der Felder zuwenden. Keine Ländereien werden mehr brachliegen, um als Jagdgründe für grosse Herren zu dienen. Keine Länderstriche wird man unfruchtbar lassen; man wird darangehen, durch Pulverisation von Felsen künstliche Erde zu erzeugen. Durch grossartige Bewässerungsanlagen, durch mit Maschinen geschaffene Bodenmeliorationen und Drainage, durch sorgfältige Gartenkultur und Gemüsewirtschaft, allgemeine und ausgedehnte Verwendung von Wärmehäusern, Glasdächern, Kunstdünger usw. kann die Ertragstähigkeit des Bodens verzehnfacht, ja sogar verhundertfacht werden, wodurch die Ernährungsfrage, an der grosse Revolutionen gescheitert sind, aus der Welt geschafft und ein Wohlstand für alle gesichert wird.

Die Feldarbeit, einige Stunden am Tage während einiger Wochen im Jahre betrieben, erleichtert durch die Maschinen, wird, weit entfernt, eine Plage zu sein, eine von allen Stadtwohnern gesuchte freudige Erholung werden.

In Kropotkins Werken Landwirtschaft, Industrie und Handwerk' und 'Wohlstand für Alle', auf die hier besonders verwiesen werden soll, wird diese Frage ausführlich behandelt und durch bestimmte Angaben und Berichte bewiesen, dass selbst in solchen Ländern, die gegenwärtig einen grossen Teil ihres Bedarfes an landwirtschaftlichen Produkten vom Ausland beziehen müssen, Raum genug vorhanden ist, um bei intensiverr Kultur die Bedürfnisse des ganzen Volkes reichlich zu befriedigen.

Hiermit fällt auch die Befürchtung, dass eventuell jenes Land, in dem das Proletariat siegt, durch den Abschnitt der Lebensmittelzufuhr vom Ausland ausgehungert werden könnte.

Wir sehen nun, wie die Idee und Organisation des Generalstreiks nicht nur zerstörende, negierende Kraft besitzt, sondern in sich selbst schon die Elemente der Neuorganisation der Gesellschaft trägt und deshalb schon den Namen einer Weltanschauung verdient.

Erschienen im Verlag "Der Syndikalist" 1919

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