Ammon Hennacy - ein christlicher Anarchist

Anarchismus und Christentum sind keineswegs die sich gegenseitig ausschließenden Weltanschauungen, wie sie gängige Vorstellungen von atheistischen und kirchenfeindlichen Anarchisten einerseits sowie der Kirche als staatstragenden Institution andererseits suggerieren könnten. In der Bibel finden sich von den Prophezeiungen Jesajas und Michas bis zur Bergpredigt, der Apostelgeschichte und der Apokalypse anarchistische Anklänge. Und auch der im 19. Jahrhundert entstandene moderne Anarchismus Proudhons, Bakunins oder Kropotkins fußt ideengeschichtlich letzten Endes auf alttestamentarischen Visionen einer befreiten Welt und den biblischen Geschichten vom Widerstand einzelner und kleiner Gemeinschaften gegen den Götzen Staat.

Zu den Vertreterinnen und Vertretern eines christlichen Anarchismus können die mittelalterlichen Armutsbewegungen (z.B. Waldenser und Franziskaner), Gruppen der Wiedertäufer, Tolstoi, die religiösen Sozialisten und die Catholic Worker-Bewegung gezählt werden. Sie kamen aus zum Teil ganz unterschiedlichen Erkenntnissen zu anarchistischen Positionen. Ammon Hennacy, der hier als eine der prägenden Persönlichkeiten der Catholic Worker-Bewegung vorgestellt werden soll, vertrat das Konzept einer One-Man Revolution (besser One-Person Revolution), der Revolution durch den einzelnen Menschen.

Ammon, der 1893 in einem kleinen Ort in Ohio zur Welt kam und dort aufwuchs, schloß sich schon mit 16 Jahren der Sozialistischen Partei der USA an. Er wurde bald zu einem glühenden Aktivisten und engagierte sich bei politischen Versammlungen und Wahlkampfkampagnen. Obwohl er durch seine Großmutter, die Quäkerin war, mit pazifistischen Ideen sympathisierte, nahm er an den staatlichen Wehrübungen teil, um "schießen zu können, wenn die Revolution kommt." Als er sich jedoch im Zuge des heraufziehenden Ersten Weltkrieges für die Armee registrieren lassen sollte, weigerte er sich. Anders als manche Sozialisten seiner Partei sah er den Krieg als ungerecht an. Er vertrat seine Meinung öffentlich und rief zu Demonstrationen gegen den Krieg und die Wehrerfassung auf. 1917 wurde er wegen "Versuchs, die Anstrengungen des Staates zur Konskription zu unterlaufen" verhaftet. In sechswöchiger Einzelhaft versuchte die Polizei, ihn zur Erfassung zu zwingen; schließlich wurde ihm sogar die Erschießung angedroht. Ammon verbreitete daraufhin über ein Statement in der Presse, er ließe sich lieber erschießen, als am Krieg teil zu nehmen. Am Ende bekam er zwei Jahre Haft im berüchtigten Zuchthaus von Atlanta.

Der Gefängnisaufenthalt wurde für Ammon zum Wendepunkt seines Lebens, denn dort entdeckte er das Christentum, den Anarchismus und die Gewaltfreiheit. Prägend war zunächst sein Zusammentreffen mit dem bekannten Anarchisten Alexander Berkman, der wegen eines mißglückten Attentatsversuchs schon fast 15 Jahre Gefängnis, davon 3 1/2 Jahre Einzelhaft, hinter sich hatte. Ammon beschreibt Berkman, der ihn Verhaltensregeln für das Überleben in Haft lehrte, später als "den ersten von zwei großen Männern, die ich in meinem Leben kennen lernte" (der zweite war Peter Maurin). Auch Ammon sollte bald in Einzelhaft kommen, als Bestrafung für seine führende Rolle im Protest der Häftlinge gegen den verdorbenen Fisch, der ihnen jeden Freitag serviert wurde. Die in der Isolierung der Einzelzelle aufkommenden Selbstmordgedanken vertrieb er durch die Erinnerung an Berkman, der so viele Jahre unter gleichen Bedingungen überstanden hatte. Die einzige Lektüre, die ihm zugebilligt wurde, war die Bibel. Die Begegnung mit den biblischen Texten und Geschichten bewirkte schließlich seine Entwicklung zum christlichen Anarchisten. In seiner Autobiographie schreibt er dazu:

"Ich las über die Kriege und den Haß im Alten Testament. Ich las auch vom Mut Daniels und der Kinder Israels, die das goldene Bild nicht anbeten wollten; von Petrus, der es vorzog, Gott zu gehorchen und nicht den rechtmäßig eingesetzten Autoritäten, die ihn ins Gefängnis steckten; und vom Sieg dieser Menschen durch Mut und friedliche Methoden. Ich las von Jesus, der sich einer ganzen Weltmacht der Tyrannei gegenüber sah und der darauf verzichtete, den Tyrannen umzustürzen und sich selbst zum König zu machen, sondern stattdessen den Haß in den Herzen der Menschen in Liebe und Verständnis umwandelte - um das Böse mit gutem Willen zu besiegen (...) Ich verbrachte alle Zeit der Welt und niemand konnte zu mir sprechen und mich beeinflussen. Für diese Idee entschied ich mich allein. Nach und nach begriff ich, was Jesus meinte, als Er sagte: 'Das Reich Gottes ist in euch.' (...) Dieses Reich Gottes mußte in jedem sein: im Aufseher, im Gefängnisdirektor, im Gauner, im Perversen und - jetzt erkannte ich es - in mir selbst. Wieder und wieder las ich die Bergpredigt: So wurden die Kapitel Matthäus 5, 6 und 7 lebendig für mich."

Nach der Entlassung aus dem Gefängnis schloß sich Ammon keiner bestimmten Kirche an, sondern bezeichnete sich als "non-church christian". Er entdeckte Tolstoi und besonders dessen Schrift "Das Reich Gottes ist in euch", in der er viele seiner eigenen Gedanken wiederfand. Ammon heiratete seine Jugendliebe Selma Melms, die Tochter des sozialistischen Sheriffs von Milwaukee. Zusammen reisten sie sechs Jahre lang kreuz und quer durch die USA, bevor sie sich in Wisconsin auf einer kleinen Farm niederließen. Hier wurden ihre beiden Töchter Carmen und Sharon geboren. 1941 mußten sie die Farm aufgeben und zogen nach Milwaukee, wo Ammon eine Anstellung als Sozialarbeiter fand.

In Milwaukee knüpfte Ammon seine ersten Kontakte zur Catholic Worker-Bewegung. Die New Yorker Zeitung The Catholic Worker hatte er durch Empfehlung seines Vorgesetzten kennen gelernt, begeistert die Übereinstimmung mit seinem eigenen Denken registriert und "sofort abonniert". Jetzt half er dabei, ein erstes Catholic Worker-Haus der Gastfreundschaft in Milwaukee aufzumachen. Dorothy Day und Peter Maurin lernte er bei Besuchen des Hauses kennen. Ammon glaubte wie Tolstoi daran, daß alle, die ernsthaft auf der Suche nach der Wahrheit sind, bald auf Gleichgesinnte treffen werden, jenseits aller politischer Organisation. Für ihn waren die Catholic Workers diese Gleichgesinnten.

Schon 1942, im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges, erklärte Ammon im Catholic Worker öffentlich, sich unter keinen Umständen für das Militär erfassen zu lassen. Bewußt erwartete er eine lange Gefängnisstrafe, wurde aber wegen seines Alters (er war sechsundvierzig) nicht verfolgt. Seine Frau, der Unsicherheit eines Lebens mit Ammon überdrüssig, verliess ihn, zog mit den Töchtern nach Los Angeles, wo sie sich einer Sekte anschloß, und später nach Arizona. Ammon gab seine Arbeit auf und folgte der Familie, um seinen Töchtern nahe zu sein. Es folgten Jahre der schweren Arbeit (Life at Hard Labour nannte er seine regelmäßige Kolumne im Catholic Worker): um keine Steuern zahlen zu müssen, suchte Ammon niedrig bezahlte Arbeiten auf den kargen Feldern des Südwestens. Er schätzte den Wert schwerer, körperlicher Arbeit ähnlich hoch ein wie Peter Maurin und vereinfachte seinen Lebensstil bis zu dem Punkt, von 10 $ im Monat zu leben.

Nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki verstärkte Ammon sein gewaltfreies Engagement. Regelmäßig begann er am Hiroshima-Jahrestag ein Bußfasten, jedes Jahr einen Tag länger. Er wurde ungezählte Male wegen seiner Aktionen verhaftet, z.B. beim Überklettern der Zäune von militärischen Anlagen. Die längste seiner Fastenaktionen dauerte 48 Tage.

Von 1952 bis 1961 lebte Ammon im New Yorker Catholic Worker-Haus. Nach dem Tode Peter Maurins wurde er neben Dorothy Day Integrationsfigur der Bewegung und setzte neue Akzente für die pazifistische und anarchistische Ausrichtung des Workers. Unter seinem Einfluß weigerte sich 1955 erstmals eine kleine Gruppe, während offiziell angeordneter Luftschutzübungen, bei denen ein Atomwaffenangriff auf New York simuliert wurde, Schutzräume oder U-Bahnhöfe aufzusuchen. Die Protestierenden, unter ihnen Dorothy Day und Ammon Hennacy, wurden verhaftet. Die Aktion wurde in den folgenden Jahren regelmäßig wiederholt und die Teilnehmenden bekamen zum Teil längere Haftstrafen. 1961 war die Zahl der Protestierenden auf über 2000 angestiegen, 1962 stellte die Stadt New York die Übungen ein.

Ammon liebte und verehrte Dorothy Day. Ihre Integrität "als Pazifistin, Anarchistin und auch als Christin" brachte ihn dazu, sich 1952 katholisch taufen zu lassen. Anders aber als Dorothy und Peter, die in ihrer Kritik der gesellschaftlichen Institutionen die Kirche ausließen, kritisierte er Hierarchie, Klerikalismus und Autoritätsgläubigkeit vehement. Er verließ die katholische Kirche nach 13 Jahren. 1961 war Ammon von New York nach Salt Lake City in Utah gezogen, um dort ein Haus der Gastfreundschaft zu eröffnen, das er "Joe Hill - Haus", nach dem ermordeten Arbeiterführer, nannte. Dort lebte er mit Joan Thomas zusammen, die er 1965 heiratete - nach katholischem Kirchenrecht eine Todsünde, da beide schon eine Ehe hinter sich hatten. Ammon betrachtete sich wieder als Christ außerhalb der Kirche. Bis zu seinem Tode 1970 führte er sein Leben des Protestierens und Fastens weiter. Er starb nach einem Herzanfall, den er während einer Protestaktion gegen die Todesstrafe erlitt. Seine Herzwände, so die Ärzte, seien aufgrund der langen Fastenaktionen dünn wie Papier gewesen. Gemäß seinem letzten Willen wurde Ammons Asche auf den Gräbern der anarchistischen Haymarket-Märtyrer in Chicago verstreut.

Dieser kurze biographische Abriß kann nicht die Fülle dieses Lebens einer One-Person Revolution wiedergeben. Ammon war, so Patrick G. Coy, "ein Mitglied jener seltenen Gruppe von Leuten, deren Leben eine harmonische Symphonie ist, auf den straffen Saiten gespielt, die zwischen ihren Werten und ihren Taten gespannt sind." Das Konzept der One-Person Revolution traf sich in vielen Punkten mit dem Personalismus, den Peter Maurin und Dorothy Day vertraten. Aber es gab auch Unterschiede: Peter Maurin sah seine Konzeption der "Grünen Revolution" in der Tradition katholischen sozialen Denkens - die englischen "Distributivisten" des 19. Jahrhunderts (Chesterton, Hilloc), die "Arts-And-Craft"-Bewegung (Eric Gill, William Morris), eben die Personalisten (Mounier, Maritain). Allen diesen Beispielen ist gemeinsam, daß sie katholisches Denken mit gesellschaftspolitischen Entwürfen verbinden. So waren für Peter Maurin auch - neben sozialistischen und anarchistischen Einflüssen - die Sozialenzykliken der Päpste bedeutsam. Ammon Hennacys Perspektive war eine andere: er setzte das persönliche, authentische Zeugnis des einzelnen Menschen an erste Stelle. Seine Vorbilder waren Franz von Assisi, Thoreau, Tolstoi und Gandhi. "Vielleicht werde ich die Welt nicht ändern, aber ich arbeite daran, daß die Welt mich nicht ändert", lautete eine seiner charakteristischen Äußerungen. Er selbst hat das Zeugnis des Einzelnen gegenüber einer dekadenten Welt in ganzer Radikalität gelebt. Es fiel ihm vielleicht auch deshalb schwer, wirklich Gemeinschaft mit anderen zu finden; Kooperation und Kompromiß gehörten nicht zu seinen Stärken. "Es ist lästig, mit jemandem zusammen zu leben, der immer recht hat", schrieb Dorothy Day über ihn.

Doch Ammon, so stellte Dorothy fest, hatte oft recht, "auf ärgerliche Weise recht". Für sie war Ammon ein Prophet seiner Zeit. Das Programm seiner Revolution wurde durch ein Gedicht von Robert Frost inspiriert, das Ammons Methode zusammenfaßt:

Ihr seht, die Schönheit meines Vorschlags liegt darin: Wir müssen nicht auf die große Revolution warten. Ich biete euch eine One-Man Revolution an - die einzige Revolution, die kommt.

Christlicher Anarchismus - eine Definition

Christlicher Anarchismus basiert auf Jesu Antwort an die Pharisäer, als Er sagte, daß der ohne Sünde den ersten Stein werfen soll; und auf der Bergpredigt, die empfiehlt, Böses mit Gutem zu vergelten und die andere Wange hin zu halten. Wenn wir uns deshalb in irgendeiner Weise an einer Regierung beteiligen, indem wir Vertreter der Legislative, der Jurisdiktion und der Exekutive wählen, machen wir dies Menschen zu unserem arm, mit dem wir einen Stein werfen und die Bergpredigt verleugnen.

Nach dem Wörterbuch lautet die Definition eines Christen: jemand, der oder die Christus folgt; gütig, freundlich, Christus ähnlich. Anarchismus ist freiwillige Zusammenarbeit für das Gute, mit dem Recht auf Trennung. Ein christlicher Anarchist ist somit jemand, der die andere Wange hinhält, die Tische der Geldwechsler umstößt und der keinen Aufseher braucht, der ihm sagt, wie er sich zu verhalten hat. Ein christlicher Anarchist braucht weder Kugeln noch Stimmzettel, um sein Ideal zu erreichen; dieses Ideal erreicht er durch die One-Person Revolution, mit der er einer dekadenten, verwirrten und sterbenden Welt entgegen tritt. ...

(aus Hennacys Autobiographie: The Book of Ammon)

Bernd Büscher / Im Jahr 2000

Originaltext: http://www.brot-und-rosen.de/detail.details+M598c265e788.0.html


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