Was geschah in Genua? Chronologie der Ereignisse

Genua ist - fast ein halbes Jahr später - zum Sinnbild des Widerstandes gegen die gewaltförmigen Auswirkungen der Globalisierung geworden. An vielen Orten laufen Soli-Partys für die Gefangenen von Genua bzw. für deren Prozesse, die voraussichtlich in einem Jahr stattfinden werden. Genua ist auch Sinnbild geworden für polizeiliche Willkür und staatliche Repression. Nicht nur der Tod des 23-jährigen Italieners Carlo Guiliani, sondern auch die massiven Prügelorgien in den Gefängnissen und das brutale Vorgehen der italienischen Polizei bei der Erstürmung der Diaz-Schule in der Nacht vom 21.7. zeigen die neue Qualität der Repression, mit der gegen die sogenannte "Antiglobalisierungsbewegung" vorgegangen wird. Wir dokumentieren - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - die Ereignisse rund um den G8-Gipfel in Genua.

Vor dem Gipfel: Nach den Ausschreitungen beim EU-Gipfel in Göteborg am 14. bis 16. Juni dreht sich die innenpolitische Debatte in Italien fast ausschließlich um das Thema Sicherheit. Das polizeiliche "Sicherheitskonzept" sieht ein hermetisch abgeriegeltes Gebiet von mehreren Quadratkilometern, die sogenannte "rote Zone" vor. Die dort wohnenden 28.000 Menschen sollen während des G8-Gipfels nur mit Sonderausweis in die rote Zone hereingelassen werden. Das Konzept beinhaltet weiterhin alle Gegendemonstrationen zu verbieten, dies gilt auch für den die rote Zone umschließenden Gürtel ("gelbe Zone"). Mindestens 18.000 Polizisten und mehrere tausend Soldaten werden für die "heißen Tage" vom 20. bis zum 23. Juli in Genua eingesetzt. Aus Sicherheitsgründen wohnt ein Großteil der Staatsgäste auf Luxus-Linern am Hafen.

Die Stimmung vor dem Gipfel ist extrem angeheizt. Schon Wochen vorher werden PassantInnen und Autofahrer von Spezialeinheiten der italienischen Polizei kontrolliert. Seit Anfang Juli sind Tausende Polizisten in der Stadt, sie führen regelmäßige Hausdurchsuchungen durch, u.a. bei il manifesto-Journalisten oder bei Luca Casarini, dem Sprecher des Centri Sociali. Von den Hausdurchsuchungen sind besonders Illegalisierte, die in der Altstadt von Genua wohnen, betroffen. Immer wieder werden Viertel wegen falschen Bombenalarms gesperrt. Gerüchte machen die Runde: So soll die italienische Regierung 200 Leichensäcke geordert haben, die Abteilung für psychologische Kriegsführung behauptet, Pläne aufgedeckt zu haben, wonach Terroristen HIV-verseuchte Blutbeutel über Genua abwerfen wollen.

Im Vorfeld des Gipfels wird, wie schon in Göteborg, zahlreichen DemonstrantInnen die Ausreise verweigert. Vor allem die deutschen Behörden wenden rege das anlässlich der Fußballeuropameisterschaft geänderte Passgesetz auf sogenannte "Polit-Hooligans" an. So können laut Art. 46 des Schengener Durchführungsübereinkommens gegen Personen Meldeauflagen und Ausreiseverbote verhängt werden, die "notorisch für Störungen bekannt sind." Über 80 Personen werden Schätzungen zufolge in Deutschland an der Ausreise nach Italien gehindert.

Ungeachtet dieser Einschüchterungsversuche mobilisiert eine breite Protestbewegung gegen den G8-Gipfel in Genua. Das Spektrum des popolo di Seattle, wie die GlobalisierungskritikerInnen in Italien genannt werden, reicht von Gruppen wie Attac und Tute Bianche, ImmigrantInnenorganisationen, betriebliche Basiskomitees (Cobras), sozial engagierten Katholiken, alternativen Sozialzentren über NGOs, FreundInnen der Zapatistas, Umweltverbänden bis hin zu AnarchistInnen und Autonomen. Für die Großdemonstration am 20. Juli ist geplant, sich von sieben verschiedenen Punkten der Stadt aus der abgesperrten Roten Zone zu nähern. Unter Einsatz verschiedenster Mittel sollen insbesondere die etwa 200 durch Gitter, Verschläge und Stacheldraht verbarrikadierten Übergänge erreicht bzw. erstürmt werden..

Freitag, 20.7.: In der Innenstadt von Genua zerstören vormittags über Stunden militante Gruppen Geschäfte und Banken in ganzen Straßenzügen, die Polizei schreitet nicht ein.

Gegen Nachmittag formieren sich die verschiedenen Demonstrationszüge auf dem Corso Gastaldi. Die Polizei dringt in den Demozug ein, die Demoleitung ruft zum Rückzug auf. DemonstrantInnen errichten Barrikaden, werfen Steine und Stangen auf die Polizei. Durch massiven CS-Gas-Beschuss, Knüppel- und Wasserwerfereinsatz sollen die DemonstrantInnen zurückgehalten werden. Die Situation eskaliert.

Freitag, 17.45 Uhr:
Am Rande der Tute-Bianche-Demonstration wird Carlo Giuliani erschossen. Zuvor ist er mit einem Feuerlöscher bewaffnet auf einen am Straßenrand geparkten Geländewagen der Carabinieri losgestürmt, hinter der Heckscheibe sitzt ein Uniformierter mit Pistole, Giuliani wird durch zwei Schüsse tödlich getroffen. Die Demoleitung fordert die TeilnehmerInnen auf sich zum Stadion zu bewegen. Die Polizei treibt unter Einsatz von Tränengas mit Wasserwerfern und Panzern den etwa 10.000 Menschen zählenden Demozug vor sich her. Insgesamt werden alle sieben Demonstrationszüge des Genoa Social Forums (GSF) von den Sicherheitskräften mit Tränengas und Gummigeschossen attackiert.

Die Bilanz des Freitags: 1 Toter, 97 Verletzte im Krankenhaus San Martino, mehrere hundert Verletzte in anderen Krankenhäusern. Die in den Krankenhäusern notdürftig behandelten verletzten DemonstrantInnen werden in Ambulanzwagen in eine Kaserne außerhalb der Stadt transportiert. Viele erhalten eine erkennungsdienstliche Behandlung, unter Schlägen werden sie in die Zellen gebracht, in einzelne Zellen soll Tränengas gesprüht worden sein. Verschiedene Gefangene berichten später von Hitler- und Mussolini-Bildern in den Wachen sowie von faschistoiden Äußerungen seitens der Carabinieri.

Samstag, 21.7: Um 12 Uhr setzt sich der Demozug in Bewegung. Über 700 Gruppen haben für die Großdemo mobilisiert, etwa 100.000 TeilnehmerInnen werden geschätzt. Die Stimmung nach dem Tod Guilianis ist gedrückt, Rufe wie "Assassini!" dominieren. An der Piazzale Martin Luther King brennen zwei Banken. Die Polizei setzt Tränengas und Räumpanzer ein. Tausende Demonstrierender werden auf dem Corso Italia getrieben, der hektische Rückzug löst eine Massenpanik aus. DemonstrantInnen erklimmen Metallzäune, um vor der Polizei zu flüchten, ein Hubschrauber wirft Tränengas ab.

In der Nacht vom 21. auf den 22.7.
erstürmen 300 Einsatzkräfte das Gebäude der Diaz-Schule, in denen das soziale Forum, ein Rechtshilfebüro, Indymedia und Schlafplätze untergebracht sind. Die anwesenden GipfelgegnerInnen leisten keinen Widerstand, ein Teil schläft, die anderen heben die Hände. Die Einheiten beginnen mit einer rigorosen Knüppelei, sie kämpfen sich durch alle Etagen bis zum Dach hoch, wobei viele Menschen verletzt werden. Viele werden bis zur Besinnungslosigkeit geschlagen, erleiden Arm- Bein- und Kieferbrüche sowie andere Verletzungen. 93 Personen werden festgenommen, 50 der Verhafteten sind zum Teil schwer verletzt. Ein 21-jähriger Berliner erleidet bei dem Überfall so schwere Verletzungen, dass er ins Koma fällt und in Lebensgefahr schwebt.

Sonntag 22.7.:
Italienische Behörden erteilen faktische Nachrichtensperre, die auch das deutsche Generalkonsulat in Mailand betrifft. Niemand weiß, wo die Verletzten und Inhaftierten festgehalten werden.

Die Hinweise auf den gezielten Einsatz von staatlichen Krawallmachern bei den Ausschreitungen verdichten sich. Das italienische Fernsehen RAI 3 zeigt zahlreiche Aufnahmen, die vermummte "Demonstranten" mit Eisenstangen bewaffnet zeigt, die aus den Kasernen der Polizei und der Carabineri rein- bzw. rauskommen.

25 Personen der VolxTheater-Kampagne "no border, no nation, no one is illegal" werden wenige Kilometer hinter Genua festgenommen. Ihre Theaterrequisiten wie Jonglierkeulen, schwarze Kleidung, Essgeschirr und Stadtpläne werden ihnen als belastende Beweise für ihre Gewalttätigkeit ausgelegt.

Insgesamt gibt es bei den Gegendemonstrationen in Genua 301 Festnahmen (darunter 71 Deutsche, 10 aus den USA, 17 Franzosen, 7 aus GB), 73 Personen werden umgehend freigelassen, bei 228 Personen wird Untersuchungshaft angeordnet.

Montag, 23.7.: Angehörige der Betroffenen und die Ermittlungsausschüsse versuchen herauszufinden, wo Menschen sind, wie schwer sie verletzt sind und was ihnen vorgeworfen wird. Ohne Erfolg. Bis Mittwoch haben die Inhaftierten keinen Kontakt zur Außenwelt. Kein Anwalt, kein Botschafter und kein Angehöriger darf mit ihnen sprechen. Zehn Personen werden auf dem Rückweg nach Deutschland kurz hinter Genua festgenommen. In dem Pkws werden "Beweisstücke", wie schwarze Kleidung und Werkzeuge, Stadtpläne usw. gefunden. Die Polizei misshandelt die Verhafteten: Sie müssen sich auf den Boden hocken, werden beschimpft, von insgesamt 20 Polizisten in wechselnder Besetzung verprügelt, müssen Stiefel küssen, werden mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen und angespuckt.

Dienstag, 24.7.: Die italienischen Behörden verweigern weiterhin jeden Kontakt. Anwälte und AnwältInnen werden nicht zu den Inhaftierten und Verletzten gelassen. In ganz Italien gehen erneut 300.000 Menschen auf die Straße, um gegen den Mord an Carlo Guiliani und gegen die Polizeirepression zu demonstrieren.

Mittwoch, 25.7.:
Die Inhaftierten haben nach der gesetzlichen Höchstdauer von 72 Stunden den ersten Haftprüfungstermin, erst zu diesem Zeitpunkt können sie erstmals mit AnwältInnen sprechen; Die AnwältInnen erhalten keine Akteneinsicht. Der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele besucht einige der deutschen Gefangenen. Ströbele spricht vom "massaker-ähnlichen" Vorgehen der Polizei. Die Berichte über weitere Quälereien und Misshandlungen in den italienischen Gefängnissen häufen sich. So wurden in der zum Sammellager umfunktionierten Kaserne Bolzaneto Inhaftierte über Tage geschlagen, Polizisten drückten Zigaretten an ihnen aus, brachen Gefangenen die Knochen, drohten Frauen mit Vergewaltigungen. Einige Gefangene mussten bis zu 26 Stunden mit erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand stehen.

In der Nacht kommt aus Mailand die Meldung, dass etwa 60 Deutsche abgeschoben werden sollen, die Abschiebung erfolgt über Österreich in einem Reisebus. Alle Betroffenen erhalten ein 5-jähriges Einreiseverbot nach Italien.

Mittwoch, 8.8.:
Zweiter Haftprüfungstermin, die Volxtheaterkarawane aus Österreich wird aus der Haft entlassen und abgeschoben. 15 Deutsche und ein Italiener bleiben in Untersuchungshaft. Ihre Haftbeschwerde wurde mit der Begründung abgeschmettert, es lägen gravierende Indizien vor, die die Zugehörigkeit zum "Black Block" vermuten ließen. Bei einer Verurteilung nach § 416 des italienischen Gesetzbuches (Bildung einer kriminellen Vereinigung) und § 419 (Zerstörung und Plünderung) drohen ihnen Haftstrafen von acht bis 15 Jahren.

Samstag, 1.9.:
Ein Mailänder Gericht ordnet die Freilassung von zehn deutschen inhaftierten Gefangenen an, ein Deutscher steht unter Hausarrest, vier Deutsche, ein Italiener und zwei Tschechen sind weiterhin in Haft.

Montag, Dienstag 17.9/18.9.:
In der Nacht und im Laufe des Tages werden im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G8-Gipfel in verschiedenen Städten Italiens Razzien in linken Zentren und besetzten Häusern durchgeführt. Bei den ca. 100 Razzien wurden mindestens 60 Menschen verhaftet. Im besetzen Haus in Mailand wurden zwölf Leute festgenommen, gegen zwei wird nach § 270 - Bildung und Unterstützung einer subversiven Organisation - ermittelt.

Anfang Oktober: Die letzten Gefangenen aus dem Knast in Genua sind frei. Es befinden sich noch drei Italiener in Hausarrest in Genua und Torino. Ihnen wird u.a. illegaler Besitz von bombenfähigem Material, Bewaffnung bis zu Mordversuch vorgeworfen. Gegen einen weiteren läuft ein Verfahren wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Mitte September.:
Die Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschusses legen den Abschlußbericht zu den Ereignissen des G-8-Gipfels in Genua vor. "Es gibt keine Zweifel am positiven Gelingen des Gipfels" so der Ausschussvorsitzende Donato Bruno. Mißhandlungen in Polizeigewahrsam hätten nicht stattgefunden, auch für die Kaserne Bolzaneto gelte "die vollständige Einhaltung der Regeln".

Donnerstag, 8.11.: Der Innenausschuss des Bundestags lehnt den PDS-Antrag für einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Polizeiübergriffe auf GlobalisierungskritikerInnen ab.

Freitag, 9.11.:
Ein Mailänder Gericht erklärt die Ausweisung einer deutschen Globalisierungsgegnerin als ungesetzlich. Die Präfektur von Genua hat während der Demonstrationen gegen den G8-Gipfel Abschiebungsverfügungen gegen 40 AusländerInnen getroffen, zudem wurde den DemonstrantInnen ein fünfjähriges Einreiseverbot nach Italien erteilt. Mit Verweis auf das jedem EU-Bürger zustehende Recht auf Reisefreiheit wurde das Vorgehen der Präfektur als unzulässig eingeordnet.

Nicole Vrenegor

Aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 456 / 22.11.2001

Originaltext: http://www.akweb.de/ak_s/ak456/05.htm


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