Paul Mattick - Die kapitalistischen Tendenzen Russlands

Vortrag, gehalten vor der „Freisinnigen Gemeinde“ der Südseite, Chicago, Ill., am 19. Januar 1932

Die in den letzten Jahren auffallende Beschäftigung der kapitalistischen Presse, Ökonomen, Politiker mit der russischen Frage, die Millionenauflagen erreichende Literatur die sich mit dem russischen „Problem" befaßt, beides hat seine Ursache in der sich immer schneller abwickelnden Umgestaltung Rußlands in einen die kapitalistischen Sphären berührenden Machtfaktor. Parallel hierzu hat sich das Angstgeschrei der kommunistischen Presse, die ihre Gebetsmühle „Rettet den Fünfjahrplan, gegen einen Anti-Sowjetkrieg“ mit bemitleidenswertem Geklapper dreht, noch verstärkt. Nicht zufällig wird die Rußlandhysterie in der bolschewistischen Presse immer unangenehmer, während die kapitalistische Presse nur noch in sanften, brüderlichen Ermahnungen eine Art freundlicher Kritik am „Vaterland der Arbeiter“ übt. Alle Fish-Kommissionen sind abgeblasen, die wahren Freunde der Sowjet-Union sind in den Büros der internationalen Bourgeoisie zu suchen; alle Auffassungen über Rußland ändern sich, nur die Oppositionsparteien treten in ihrer Kritik noch immer auf der Stelle. Hass und Liebe bringen sie abwechselnd in Wallung, die Rolle des verschmähten Liebhabers ist ihnen zum Beruf geworden.

Es sollte eigentlich für jeden einzelnen schon offensichtlich sein, daß sich die Stellung der Bourgeoisie zu Rußland geändert hat, aber da die Ideologen langsamer wechseln als die Verhältnisse, identifizieren große Arbeitermassen das Rußland von 1932 noch immer mit dem Rußland der Revolution von 1917. Die oppositionelle Kritik erschöpft sich zum größten Teil noch in einem Kampf gegen den „Stalin-Kurs“; d. h., sie steht auf dem idealistischen Standpunkt, daß die Politik einer von einem Mann geleiteten Clique über Jahre hinaus die Geschichte zu bestimmen vermag. So glaubt eine große Gruppe, daß, wäre z. B. Trotzki an Stelle Stalins Haupt der russischen Regierung, daß die Trotzki-Gruppe eine wesentlich andere, eine revolutionäre Politik in Rußland treiben würde. Wir wollen von vornherein erklären, daß wir mit einer derartigen „Opposition“, die da glaubt, daß große Männer die Geschichte machen, nichts zu tun haben. Wir opponieren nicht gegen „Stalin“: sondern sind der Überzeugung, daß die „Stalinsche Politik“, die den russischen Klassenverhältnissen- und Notwendigkeiten angepaßte richtige, weil einzig mögliche und geschichtlich-gegebene Politik ist. Die Frage die jedem Rußlandkritiker gestellt wird: „Was er denn in Rußland tun würde, oder getan hätte?“, wollen wir schon sofort zurückweisen mit der Zusicherung, daß auch wir in Rußland keine andere Politik treiben könnten, als die die getrieben wurde und noch wird. Will man die „Russische Frage" behandeln, muß man unbedingt von Personenpolitik absehen, sondern man muß die geschichtlichen Verhältnisse, muß man unbedingt von Personenpolitik absehen, sondern man muß die geschichtlichen Verhältnisse betrachten. Und nur die drücken sich in allem aus, was in Rußland geschieht. Was auf Rußland zutrifft, paßt auch für die 3. Internationale, da die 3. Internationale ihre ganze Politik den Notwendigkeiten Rußlands angepaßt hat, also nur als Auslandsagentur spezifisch russischer Interessen zu betrachten ist.

Bevor wir jedoch auf das gestellte Thema „Die Aufzeigung der kapitalistischen Tendenzen Rußlands“ eingehen ist es notwendig, die bisherige russische Entwicklung zu skizzieren.
Der prinzipielle Charakter der russischen Revolution.

Als die Bolschewiki am 7. November 1917 die politische Macht eroberten, stand das russische Proletariat keinesfalls geschlossen hinter ihnen. Es war das Bauerntum, nicht das Proletariat, das die Klassenbasis für die Machtergreifung bildete. Auf dem 11. Parteitag der russischen Kommunistischen Partei (März-April 1922) sagte Sinowjew folgendes:

„Entscheidend für unsern Sieg 1917 war nicht die proletarische Avantgarde auf unsrer Seite, sondern der Übergang des Heeres, das zu uns kam, weil wir den Frieden forderten. Das Heer aber bestand aus Bauern. Hätten uns nicht die Millionen von Bauernsoldaten unterstützt, so hätte von unserem Sieg über die Bourgeoisie nicht die Rede sein können.“

Lenin selbst erklärte auf dem 8. Parteitag (März. 1919): „In diesem Lande wo das Proletariat die Macht nur mit Hilfe des Bauerntums ergreifen konnte, wo dem Proletariat die Rolle einst Agenten der Kleinbürger-Revolution zufiel, in diesem Lande war unsere Revolution bis zum Sommer und sogar Herbst 1918 in beträchtlichem Masse eine bürgerliche Revolution. Wir haben in der Form von Gesetzen durchgeführt, was in den Zeitungen der Sozialrevolutionäre gefordert wurde, was das feige Kleinbürgertum versprach aber nicht verwirklichen konnte. Erst seit wir begonnen haben, die Komitees der armen Bauern zu organisieren, erst in dem Augenblick begann unsere Revolution in die proletarische überzugehn!“ (Ges. Werke, 1. Aufl. XVI. S. 195.):

Diese Komitees der armen Bauern existierten von Juni 1918 bis Dezember 1918. Wenn sie erst den Übergang in die proletarische Revolution bedeuteten, was bedeutete dann ihre Auflösung nach einem halben Jahr, die auf den Druck der reichen und mittleren Bauern erfolgte? Nach der Logik Lenins: den Verlust des proletarischen Inhalts der Revolution. Nach ihm hatte die Periode der proletarischen russischen Revolution ein halbes Jahr gedauert.

Doch bevor wir die Entwicklung weiter verfolgen, müssen wir uns über die damalige Ideologie der Bolschewiki klar sein, um ihre Politik zu verstehn. Vor 1917 und noch kurz nachher glaubten die Bolschewiki selbst nicht daran, ihre Revolution als eine sozialistische zu betrachten. Nicht der Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Produktionsweise sollte den Inhalt der Revolution bilden, sondern der beschleunigte Übergang vom rückständigen, russischen zum fortgeschrittenen Kapitalismus. Was ihnen vorschwebte, war eine Art Staatskapitalismus und so sagte Lenin auch am 29. April 1918 folgendes:

„Wir nehmen uns den deutschen Staatskapitalismus zum Muster, er ist uns weit überlegen. Die Sicherung eines solchen Staatskapitalismus hier bei uns in Sowjetrußland wäre unsere Rettung“.

Nachweisbar aus allen Schriften und Debatten dieser Periode, ergibt sich, daß die Bolschewiki damals nichts anders forderten als den Staatskapitalismus ohne allgemeine Expropriation der Industriellen Bourgeoisie. Nur die Banken und Transportmittel sollten verstaatlicht werden, im übrigen verlangte man nur die Kontrolle der Privatunternehmen durch die Regierung und die Arbeiterräte. Die Volksmiliz sollte diese Kontrolle sichern.

Auf eine Formel gebracht, kann an ihren eigenen Schriften nachweisbar, die Stellung der Bolschewiki 1917 wie folgt betrachtet werden: wir können bei der ökonomischen Rückständigkeit Rußlands die proletarische, sozialistische Revolution nicht durchführen, aber wir werden einen Kapitalismus aufbauen, von dem später aus der Übergang zur proletarischen Revolution gemacht werden kann. Das heißt eben: wir Bolschewiki übernehmen es, in Rußland die objektiven historischen Aufgaben der Bourgeoisie durchzuführen. Die Phrase vom proletarischen Inhalt kam erst später. Der prinzipielle Charakter der russischen Novemberrevolution (25. Okt.) ist nach der Auffassung Lenins und der gesamten Bolschewiki kein proletarischer gewesen.

Die Periode des Kriegskommunismus

Die ökonomische Forderung des Proletariats ist die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die planmäßige Leitung der vergesellschafteten Produktion- mit dem Zweck, nicht der Akkumulation von Mehrwert, sondern der Befriedigung zu dienen. Die ökonomische Politik des Bauerntums in Rußland erforderte die Entwicklung der Warenproduktion unter Verwandlung des bäuerlichen Kleineigentums in kapitalistisches Eigentum. Diesen beiden widerstrebenden Tendenzen standen die Bolschewiki gegenüber. Sie mußten mit beiden in Konflikt kommen, wollten sie die Macht behaupten.

Der erste Konflikt zwischen den Bolschewiki und dem Bauerntum entstand im Frühjahr und Sommer 1918, eben in jener Periode, die Lenin als den Übergang in die proletarische Revolution bezeichnete, als man die Komitees der Dorfarmen organisierte und mit deren Hilfe versuchte, den reichen Bauern das Getreide zu entreißen. Der Versuch mißlang. Wohl enteigneten die armen Bauern das Getreide, ja, sie gingen noch weiter und zerschlugen die bäuerlichen Großbetriebe, aber nicht um das Getreide abzuliefern, sondern um es für sich selbst zu behalten, und an Stelle der Großbetriebe bäuerliche Zwergwirtschaften zu setzen. Im Dezember 1918 wurden die Dorfarmenkomitees aufgelöst und durch Sowjets ersetzt, d. h., man setzte an Stelle der armen Bauern die „breite Masse“ des Bauerntums. Im März 1919 veranlaßte Lenin auf dem 8. Parteitag die Losung „wir müssen die Mittelbauern zu unsern Verbündeten machen“, herauszugeben. Der Widerstand der Bauern, der sich in zahlreichen Aufständen äußerte, erzwang diese Änderung der bolschewistischen Bauernpolitik. Blutig geführte Bauernaufstände erzwangen 1921 ebenfalls die Einführung der NEP. (Neue Ökonomische Politik.)

Jedes radikalere Vorgehen gegen die Bauern endete immer mit neuen Zugeständnissen an die Bauernschaft, die stets die Machtprobe stellte. Als zum Beispiel im Frühjahr 1928 Stalin auf den Getreidestreik der Bauern mit der „radikalen“ Agrarpolitik antwortete (Getreiderequisitionen, Verhaftungen, gewaltsame Niederhaltung der Getreidepreise u. s. w.) erzwangen die Bauern bereits im Juli 1928 die Zurücknahme dieser Maßnahmen, und die Erhöhung der Getreidepreise um 15- 20%. Wir streifen diese Entwicklung nur, um zu zeigen, daß es den Bolschewiki selbst in der Epoche des Kriegskommunismus nicht gelang, Politik „gegen" die Interessen der Bauern zu machen.

Der erste Konflikt zwischen den Bolschewiki und dem Proletariat drehte sich um die Arbeiterkontrolle. Das System der Arbeitsgemeinschaft zwischen Proletariat und Bourgeoisie, das Lenin 1917 in der Form des Staatskapitalismus vorschwebte, fiel bereits im Frühjahr 1918 zusammen. Die Arbeiterschaft expropriierte und allen Versuchen der Bolschewiki zum Trotz die Arbeiterkontrolle über die Produktion zu zerschlagen, sah sich der erste Kongreß der Volkswirtschaftsräte gezwungen, durch Dekret vom 28. Juni die Verstaatlichung der gesamten Industrie vorzunehmen. Damit verwandelte sich die bolschewistische Partei von einer bloßen Kontrollinstanz zum Gesamtkapitalisten. Und von da ab trat sie auch den Arbeitern als solcher gegenüber.

Steigerung der Produktion um „jeden Preis“, „absolute Disziplin“, „Unterordnung der Arbeiterinteressen unter das Produktionsinteresse“, das sind die Losungen, die jetzt die ökonomische Politik bestimmen.

Streikverbot, Verwandlung der Betriebsräte aus Organen der Belegschaft in eine Aufsicht über die Belegschaft, das sind die Formen, in denen diese Politik durchgeführt wurde. Und dies schon in der Periode des Kriegskommunismus, die von vielen Bolschewisten als die wirkliche Periode der proletarischen Revolution in Rußland angesehen wird. Sie datierten den Rückzug der Bolschewisten erst vom Zeitpunkt der Einführung der NEP, während in Wirklichkeit schon im Frühjahr 1918 der Rückzug zum Kapitalismus vollzogen wurde. Wir werden auf den entscheidenden Wendepunkt noch zurückkommen; hier sei noch die Charakterisierung dieser Epoche durch Lenin wiedergegeben, was uns erspart, auf die Details dieser Zeit im besonderen einzugehn:

„Unsere bisherige ökonomische Politik (d. h. der Kriegskommunismus) beabsichtigte den unmittelbaren Übergang von der alten russischen Ökonomie zur staatlichen Produktion und Verteilung nach kommunistischen Prinzipien. Wir machten den Fehler, daß wir unmittelbar zur kommunistischen Produktion u. Verteilung übergehn wollten. Wir dachten uns die Sache so: die Bauern würden uns unentgeltlich das nötige Getreidequantum abgeben, wir würden es gleichmäßig auf die Betriebe verteilen, womit wir eine kommunistische Produktion und Verteilung hätten. Die ist leider Tatsache. Ich sage „leider“, weil wir uns vor noch nicht zu langer Zeit von der Fehlerhaftigkeit dieser  Konstruktion überzeugen mußten, die allem widersprach, was wir früher über den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus geschrieben haben.“ (Lenin, aus einer Rede vom 17. Okt. 1921, Werke XVIII. S. 871.)

Der wirkliche Wendepunkt der russischen Revolution

Die Monate April- in 1918 haben zwei bleibende Resultate gezeigt, die seitdem die ganze Struktur des bolschewistischen Regimes bestimmt haben. Erstens, die Zerschlagung der proletarischen Organisationen von 1917 und die Fesselung des russischen Proletariats durch die Verwandlung der Gewerkschaften in Unterorganisationen der bolschewistischen Regierungspartei. Zweitens, der Übergang der Industrie in die Hände der Bolschewiken, und damit der Verwandlung des letzteren in einen Gesamtkapitalisten. Scheinbar beweist gerade diese letzte Maßnahme den proletarischen Charakter der bolschewistischen Politik, aber eben nur scheinbar, denn um tatsächlich als solche angesprochen zu werden, müßte die Revolution proletarischen Charakter haben. Wir wiesen aber nach, daß sie diesen Charakter nicht besaß. In den Thesen der „linken Opposition“ innerhalb der russischen KP, in der Radek und Bucharin arbeiteten, wurde schon 1918 der ganze Weg der russischen Revolution auf Grund ihrer Maßnahmen vorgezeichnet.

Die NEP, die Kollektivierung und der Fünfjahrplan

Mit dem Beginn der NEP. bestand die Politik der Bolschewiki aus immer mehr und mehr Zugeständnissen an die sich entwickelnde kapitalistische Gesellschaft. Zwar entwickelt man den Kapitalismus mit immer wiederkehrenden Einschränkungen, da man als Staat die Balance zwischen den Bauern- und Arbeiterinteressen im Interesse des Burgfriedens zu halten hat; aber die kapitalistischen Elemente wurden doch immer stärker. Die zahlreichen Oppositionsgruppen entstanden u. wurden blutig unterdrückt, bis mit der Kollektivisierung der Bauern scheinbar eine Linksschwenkung einsetzte. Aber diese Kollektivisierung, die wohl auf der Produktionsbasis liegt und eine technische Weiterentwicklung bedeutet, hat an den Eigentumsverhältnissen nichts geändert. Die Ausbeutung von Arbeitskraft, die Akkumulation des individuellen Bauernkapitals bleibt bestehn. Die etwaige Möglichkeit die mit der Kollektivisierung auftauchte, daß evtl. die ganze Agrarwirtschaft mit dem Staat als Ausbeuter der russischen „Landproletarier“ industrialisiert werden könnte, verschwand bald, als neue Maßnahmen die Positionen der Kulaken gerade durch die Kollektivisierung kräftigten. Mit dem Fünfjahrplan setzte die gewaltmäßige Entwicklung der Staatsindustrie ein, die auf der Basis der Mehrwertbildung nur akkumulieren kann durch die Ausbeutung der Arbeiter. Und sich wiederum schneller entwickeln wird durch die Verschärfung der Ausbeutung. Wie in allen Anfängen kapitalistischer Entwicklung ist der Kapitalismus für eine Periode imstande, die Lebenslage des Proletariats zwar nicht in der Höhe der Akkumulation, aber doch in eine bestimmte Höhe hinaufzutreiben. Diese Tendenz, allen Kapitalismen eigentümlich, wird oft als Beweis des „marschierenden Sozialismus“ ausgegeben. Im Jahrbuch der Sowjet-Union Von 1930 wird auf S. 97 angegeben, daß am Ende des Fünfjahresplans sich die Produktion verdoppelt haben wird, während die Löhne nur um 70 % gestiegen sein werden. Karl Marx sagt im 1. Band seines „Kapitals“ S. 554 [MEW 23, S. 646]:

„Steigender Preis der Arbeit infolge der Akkumulation des Kapitals besagt in der Tat nur, daß der Umfang und die Wucht der goldenen Kette die der Lohnarbeiter sich bereits selbst geschmiedet hat, ihre losere Spannung erlauben.“

Die Steigerung der russischen Löhne, die immer noch hinter der Steigerung der Produktion zurückbleibt, beweist nicht den sozialistischen Fortschritt, sondern bezeichnet nur eine Etappe in der kapitalistischen Entwicklung.

Die kapitalistischen Tendenzen, Rußlands wurden selten in solcher Schärfe klargelegt wie in der am 23. Juni 1931, vor den russischen Wirtschaftsfunktionären von Stalin gehaltenen Rede, die so großes Aufsehen erregte, daß die kommunistische Presse sich erst dann entschloß sie zu veröffentlichen, als die kapitalistische Presse schon lange ihren Hohn über sie ausgegossen hatte.

Der Inhalt dieser Rede, die bisher noch keinen wesentlichen Widerhall in der Arbeiterschaft gefunden hat, wurde von den Kapitalisten sofort begriffen: Hier war Geist von ihrem Geist! Die neue Politik, die durch die Stalinrede besiegelt wurde, ist nur für das Heer der Schwätzer, das nicht marxistisch denken kann, „neu“. Sie ist nicht neu, sie ist nur ein weiterer Schritt im gesetzmäßigen Verlauf der russischen Entwicklung, die nur mit dem Marxschen Wertgesetz erklärt werden kann, was allerdings keinem der russischen „Marxisten“ bisher eingefallen ist. Auch der Zeitpunkt, in dem die „neue Politik“ fällt, ist nicht zufällig, sondern bestimmt von der Weltwirtschaftskrise, auf die auch Rußland zu antworten hat. Aus der Unzahl der kapitalistischen Zeitungen, die sich mit der Stalinrede und der „neuen“ Politik befaßten, greifen wir nur eine heraus, die aber absolut charakteristisch für die Haltung der gesamten Bourgeoisie ist. In der Chicagoer „Daily Times“ heißt es nach einem albernen Vergleich der Marxschen und Stalinschen Auffassungen vom Sozialismus, nach einer Verhöhnung des Kommunistenfressers Matthew Woll, der nach ihrer Meinung einen nichtexistierenden Kommunismus bekämpft, zusammengefaßt folgendermaßen:

„Ohne Rücksicht darauf, was Stalin auch reden mag, beweisen die Tatsachen, daß Rußland nicht zum Kommunismus marschiert, sondern auch vom Sozialismus immer mehr und mehr entfernt. Stalins Politik ist der Beweis dafür. Laßt uns nicht mehr Zeit verlieren mit der Sorge um die russische, rote Gefahr, Rußland beginnt zu denken. Es entdeckt gerade die fundamentalen Erkenntnisse nach denen sich Amerika entwickelte.“

„Der Marxismus ist sauer geworden“, heult die bürgerliche Meute und weist mit dem Finger auf Stalin. Aber was sie so reden läßt, ist ihre Unkenntnis von der Marxschen Theorie, sie verstehn davon genau so viel wie Stalin.

Die Stalinrede

Die Stalinrede vom 23. Juni setzt sich aus verschiedenen Themen, die aber untereinander verbunden sind, zusammen. Ihr gesamter Inhalt kann in den einen Satz gebracht werden, daß mehr akkumuliert werden muß, und die zu diesem Zweck erforderlichen Maßnahmen auch durchgeführt werden müssen. Will man mehr akkumulieren, so ist dies nur möglich durch eine Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiter, was sich an den persönlichen Arbeitsverhältnissen, im Fallen des relativen Arbeitslohnes, und der Erweiterung der Produktivkräfte durch Rationalisierung, technische Verbesserungen und stärkere Industrialisierung feststellen läßt.

Daß die russische Akkumulation eine kapitalistische Akkumulation ist, wird wohl jedem Arbeiter, der die Grundgesetze des Marxismus nur ungefähr begriffen hat, durch die Stalinrede klar werden. Der erste Angriff Stalins richtet sich gegen die Löhne der Arbeiter. Er sagt:

„In einer Reihe von Betrieben wurden die Tarifsätze in der Weise festgelegt, daß der Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit, zwischen schwerer und leichter Arbeit fast verschwindet. Die Nivellierung (gleicher Lohn) führt dazu, daß der unqualifizierte Arbeiter nicht daran interessiert ist, Qualifikation zu erlangen und infolgedessen der Perspektive des Hinaufrückens beraubt ist. - Es kann nicht geduldet werden, daß der Eisendreher denselben Lohn erhält wie der Hilfsarbeiter. Es kann nicht geduldet werden, daß der Lokomotivführer im Eisenbahntransport ebensoviel erhält als ein Kopist. Marx und Lenin haben gesagt, daß der Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit auch unter dem Sozialismus, sogar nach der Vernichtung der Klassen bestehen bleibt;  daß erst im Kommunismus dieser Unterschied verschwindet, daß infolgedessen der Lohn auch im Sozialismus je nach der geleisteten Arbeit und nicht nach den Bedürfnissen verteilt wird - -.“

Es wird Stalin unmöglich sein nachzuweisen, daß Marx eine Periode des Sozialismus vor dem Kommunismus kannte. Für Marx identifizierten sich die Begriffe - klassenlose Gesellschaft - Sozialismus - Kommunismus. Lenin sprach nach einer langen Periode der sozialistischen Bewegung, die Friedrich Engels in ihren Reihen zählte, nur deshalb wieder von der Notwendigkeit, sich Kommunist zu nennen, weil die reformistische, sozial-verräterische Rolle der SP mit einer klaren Scheidung von ihr, auch einen klaren Namen für die neue Arbeiterbewegung erforderte. Das „Kommunistische Manifest" erzählt nicht, daß seine Geschichte erst nach dem Sozialismus beginnt und auch nicht, daß zwischen Sozialismus und Kommunismus mehr liegt, als die Terminologie der Sprache. Was Stalin da Marx in die Schuhe schiebt, beweist den ganzen „Marxismus“ der heutigen Bolschewisten.

Vor dem Kommunismus besteht die Diktatur des Proletariats, die notwendig ist, um die nach der proletarischen Revolution noch verbliebenen kapitalistischen Reste zu beseitigen, und Schritt für Schritt die Herrschaft der Produzenten über die Produktion zu festigen. Was Stalin vom Sozialismus verlangt, ist das, was jede kapitalistische Gesellschaft gibt. Nach seiner Theorie des Marxismus kommt nach dem Kapitalismus wieder Kapitalismus, den er aber „Sozialismus“ nennt, und dann erst der Kommunismus. Von dieser Ideologie aus wird jener sozialdemokratische Ausspruch „Sozialismus wohin wir blicken" endlich zur Wahrheit.

Doch wir wollen über diesen Stalinschen Witz hinweggehn und nachprüfen, ob Marx tatsächlich von einer Differenzierung der Löhne im „Sozialismus“ (wie Stalin sie fordert) gesprochen hat. Dies fiele gewiß schwer, denn selbst in den diesbezüglichen Marxschen Ausführungen wird nicht von Sozialismus, sondern von der kommunistischen Gesellschaft gesprochen, wie sie sich gerade aus dem Kapitalismus entwickelt hat. Marx sagt:

„Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schosse sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent - nach den Abzügen - exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z. B. der gesellschaftliche Arbeitstag besteht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstages, sein Teil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, der ihm bestätigt, daß er so und soviel Arbeit geleistet hat (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds) und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleichviel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft gegeben hat, erhält er in einer andern Form wieder zurück.“ (Programmkritiken S. 25 [MEW 19, S. 20].)

Wohl spricht Marx von einer im Anfangsstadium es Kommunismus noch ungleichen Entlohnung er Arbeiter, aber nicht in Hinsicht auf die qualitativen Unterschiede ihrer Arbeit, sondern durch den Umstand, daß manche Arbeiter verheiratet sind und Kinder haben , und andere nicht, wodurch eine Ungleichheit entsteht, da sie vom Ertrag ihrer Arbeit, die allein auf Arbeitsstunden basiert, mehrere ernähren müssen und die andern nur sich selbst. Marx läßt noch weiter zu, daß die Arbeit, um als Maß zu dienen, der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden muß. Er setzt noch ein „oder“ zwischen Ausdehnung und Intensität; aber er spricht nicht von einer Bezahlung nach der Art der Arbeit, beurteilt sie nicht nach Berufen, sagt nicht wie Stalin, „es wäre unerhört, daß ein Lokomotivführer genau so viel erhalte als ein Kopist.“.

Stalin fälscht hier Marx und er fälscht auch Lenin, denn Lenin hat in seinem „Staat und Revolution“, worin er diese Frage behandelt keine andere Auffassung wie Marx. (S. 89-02.) An anderer Stelle spricht Stalin über die Fünftagewoche. Er sagt: „Manche von unsern Genossen haben sich hier und da mit der Einführung der Fünftagewoche allzusehr beeilt und sie in die „Obeslitschka“ verwandelt." (Obeslitschka nennt Stalin ein System, das die Bindung zwischen Arbeiter und Arbeitsstätte gefährdet). „Entweder muß die Durchführung der Fünftagewoche so umgeändert werden, daß keine Obeslitschka aus ihr wird, wie dies im Transportwesen erreicht wurde, oder aber, falls Vorbedingungen für entsprechende Maßnahmen fehlen, muß die papierne Fünftagewoche fortgeworfen und vorübergehend durch die Sechstagewoche ersetzt werden.“

Zwar führte man mit großem Geschrei die „papierne“ Fünftagewoche ein, um nach her über diejenigen, die sie ernst genommen hatten, herzufallen, und erneut die Sechstagewoche zu verlangen. Das kapitalistische Mehrwertgesetz ist eben stärker als die reformistische Phrase, will man akkumulieren, muß man die Arbeitszeit verlängern oder erweitern. Diese Selbstentlarvung russischer Sozialpolitik spricht für sich, so daß dieser kurze Kommentar vollkommen ausreicht.

Den Ausweg, den Stalin, seinen Vortrag zusammenfassend, aufzeigt, finden wir in folgenden Sätzen: „Beseitigung der Unwirtschaftlichkeit, Mobilisierung der inneren Ressourcen der Industrie, Einführung und Festigung des Prinzips der Wirtschaftlichkeit in allen Betrieben, systematische Senkung der Gestehungskosten, Festigung der innerindustriellen Akkumulation in allen Industriezweigen ohne Ausnahme.“

Nehmt euch irgend einen Bericht von einer Industriekonferenz in irgend einem kapitalistischen Land und ihr werdet genau die gleichen Sätze finden. Auch, daß davon die Lage der Arbeiter abhängt, denn jeder Ausbeuter behauptet, daß er ausbeutet allein im Interesse des Ausgebeuteten. Im selben Moment, in dem die Rede Stalins veröffentlicht wurde, teilte die Juni-Ausgabe der „Soviet Union Review“ mit, daß die Reorganisation der russischen Gewerkschaften vollzogen wäre. D. h. daß die großen Industrieverbände und Gewerkschaften in kleine enge Berufsgewerkschaften aufgelöst worden sind. Man setzt voraus, daß evtl. möglich sei, die Kontrolle in den großen Organisationen bei zu drastischen Maßnahmen gegen die Arbeiter zu verlieren. Die kleinen Verbände mit ihren engen Interessen sind nützlicher für eine Gesellschaft, die die Arbeiter zersplittern muß, um sie zu beherrschen. Mit Gewalt werden neue Klassen durch die Lohnunterschiede innerhalb der Arbeiterschaft gebildet, ideell werden sie getrennt durch die Vereinsmeierei zahlloser, keiner Verbände. Wenn man überlegt, daß sich die Lohnunterschiede in Rußland zwischen 60 und 800 Rubel im Monat bewegen, dann begreift man, daß die Interessen der 60-Rubel-Empfänger andere sind, als die der 800-Rubel-Empfänger; dann weiß man, daß sich diese verschiedenen Interessen nicht in den Rahmen einer Organisation pressen lassen dann erkennt man, daß sich die Konkurrenz zwischen Arbeitern verstärkt und diese Konkurrenz ist eines der typischen Merkmale der kapitalistischen Produktion. Man begreift den Sinn der „Stossbrigaden“ und den ganzen Schwindel, den Stalin die Periode des „Sozialismus“ nennt.

Die Einwirkung der Weltkrise

Als die Sensationsmache der bürgerlichen Presse von der nahenden deutschen Revolution schrieb, war jeder gefühlsmäßig revolutionäre Arbeiter überrascht, folgende Bankrotterklärung der 8. Internationale zu lesen: „Die Kommunistische Internationale erklärt, daß sie nicht imstande ist, festzustellen, welche Situation in Deutschland besteht. Sie über läßt die ganze Verantwortlichkeit den Händen der Kommunistischen Partei Deutschlands.“

Der Satz Kautskys, daß die Internationale kein Instrument des Krieges ist, ist jetzt erweitert worden, nach Moskau ist sie auch kein Instrument der Revolution. Was für ein Instrument ist sie eigentlich? Karl Radek gibt in einem Artikel in der „Moskauer Rundschau“ vom 21. Juni folgende nette Erklärung:

„Die Plenarsitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, die vom 11. bis 15. Juni stattfand, hatte nur drei Fragen auf ihrer Tagesordnung die Berichte und Debatten über die Saatkampagne, über die Entwicklung des Transport und über die sowjetische Städtewirtschaft, insbesondere die Moskauer Kommunalwirtschaft. Schon diese äußere Tatsache zeigt den Unterschied zwischen der Lage der Sowjetregierung und der der kapitalistischen Regierungen. Fragen, die die sogenannte Weltpresse beschäftigen: die Reparationen, die Kriegsschulden, das Verhältnis zwischen dem Vatikan und der faschistischen Regierung, die schwere Regierungskrise in Deutschland und vor allem die Weltwirtschaftskrise, die Grundlage aller inneren und äußeren Kämpfe der kapitalistischen Welt, - sie klingen für den Sowjetleser wie eine Kunde aus einer fremden Welt.“

Jetzt wissen wir's: die Internationale ist ein Instrument der Kapitalsakkumulation in Rußland. Alle andern Interessen des internationalen Proletariats klingen ihr wie eine Kunde aus einer fremden Welt.

Die KPD hat denn auch ihre ganze Verantwortung begriffen und als einzige Aktion um die Eröffnung des Reichstags gebeten, Volksrevolution für die Reichstagseröffnung, wo bleibt der kleine Stalinist, der auch das mit Marx erklärt?

Die Interessen Rußlands sind nicht mit denen des deutschen Proletariats verbunden, sondern mit denen seiner Ausbeuter. N. Kornew schreibt in der „Moskauer Rundschau“ vom 28. Juni anläßlich der Verlängerung des deutsch-russischen Vertrages folgenden Satz, den jeder Arbeiter aufmerksam lesen sollte:

„Wir werden nicht müde zu wiederholen, daß die Industrialisierung der Sowjet-Union nicht nur keine Gefahr für Deutschland oder Untergrabung des deutschen Anteils am sowjet-russischen Markt darstellt, sondern umgekehrt, der deutschen Industrie, dem deutschen Unternehmergeist- und Willen immer neue, ungeahnte Möglichkeiten bietet.“

In dem schon erwähnten Jahrbuch der Sowjet-Union von 1930 wird dem „Unternehmergeist“ auch gezeigt, daß sein Feld in diesem Sechstel der Erde nicht zuende ist. Auf Seite 208 weist man nach, daß die in Rußland Investierten Kapitalien 12% Zinsen bringen, und daß die konzessionierten Gesellschaften einen Durchschnittsprofit von 81%-96% gebracht haben.

Aber zur Entfaltung der kapitalistischen Produktion ist immer mehr und mehr Profit notwendig. Und jetzt mitten in die Entwicklung der Kapitalsanhäufung durch den Staatskapitalismus, dem Konzessionskapital und privaten Kulakenkapital fällt die internationale Wirtschaftskrise, von der nur die Propagandaphrase, aber nicht die russische Wirklichkeit freiblieb. Im selben Artikel von Radek in der „Moskauer Rundschau“ heißt es weiter:

„Auch die Sowjetunion spürt die Lage des Kapitalismus an ihrem eigenen Leibe. Die Wirtschaftskrise hat einen Preisfall zur Folge, der am schwersten die Agrarprodukte trifft. Das mindert den Erlös des Sowjetexports, verschärft den Kampf um den Weltmarkt.“

Der Fall der Profitrate, auch in Rußland, zwingt zu dem Stalinschen Programm und seinem Witzblatt-Sozialismus. Die Wirtschaftskrise wird in absehbarer Zeit auch in Rußland weitere vernichtende Kreise ziehn, und das russische Proletariat wird begreifen das alles, was von der Revolution blieb, im balsamierten Leichnam Lenins besteht, dessen letztes Wort an die Bolschewisten war „Lernt handeln, werdet gute Kaufleute!“

Die Revolution von 1917 war keine proletarische Revolution, diese wird noch von den russischen Arbeitern geschlagen werden, die heute noch ihr Sparkonto entwickeln, soweit sie dazu imstande sind. 1923 gab es in Rußland 357 Sparkassen, 1931 bereits 41.494. Auch diese Sparkassen werden als „Sozialismus“ ausgegeben. Was sie in Wirklichkeit sind, bezeichnet Karl Marx, folgendermaßen: 1. „die Sparkasse ist die goldene Kette, woran die Regierung einen großen Teil der Arbeiterklasse hält. Sie bekommen so nicht nur ein Interesse an der Erhaltung der bestehenden Zustände. Es tritt nicht nur eine Spaltung ein zwischen dem Teil der Arbeiterklasse, der a den Sparkassen beteiligt, und dem Teil, der nicht an denselben beteiligt ist.“ 2. „Die Arbeiter liefern so ihren Feinden selbst Waffen in die Hand, zur Erhaltung der bestehenden, sie unterjochenden Organisation der Gesellschaft." (K. Marx: Über den Arbeitslohn, 1847 [MEW 6, S. 645].)

Aber daß sich kapitalistisch entwickelnde Rußland hat nicht mehr die Zeit vor sich, die die andern Kapitalisten hinter sich haben. Sein kapitalistischer Akkumulationsprozeß fällt in die Periode der permanenten Krise, und was sich akkumuliert, ist die permanente Krise auch für Rußland. Aber so wenig, wie der internationale Kapitalismus freiwillig abtritt, weil ihm bewiesen wird, daß er historisch überlebt ist, so wenig wird die kapitalistische Entwicklung in Rußland aufgegeben. Es wird nur eins nicht kennen lernen: die reformistische Periode, die in der Aufwärtsentwicklung die gesellschaftliche Forderung des Proletariats war. Die Besserung der Lage des russischen Proletariats ist der Potenz eines Schwindsüchtigen vergleichbar, die früh vergeht.

Die internationale Arbeiterschaft kann nicht gefühlsmäßig auf die Gesetze der Ökonomie reagieren; die Welt läuft nicht nach ihren Wünschen.

Sie muß mit nüchternen Augen auf Rußland sehn u. ihre eignen Handlungen dem internationalen Klasseninteresse dienstbar machen. Mit der Waffe der marxistischen Wissenschaft muß sie kritisch an alles herangehn, um zu analysieren und ihre Maßnahmen danach einzurichten. Wer kritiklos ist, ist kein Marxist. Nicht umsonst heißt eine Marxsche Arbeit: „Die Kritik der kritischen Kritik.“

In der „Moskauer Rundschau“ vom 1. November 1931 finden wir die Notwendigkeiten Rußlands wie folgt aufgezeichnet: „Der Ökonomische Nichtangriffspakt hat nicht die Aufgabe, den Kapitalismus von der Krise zu heilen, aber seine Annahme könnte gewisse, bösartige Formen der Krise mildern, die die Entwicklung des Welthandels beeinträchtigt.“

Mit dieser Begründung forderte Litwinow im Namen der russischen Regierung in Genf einen ökonomischen Nichtangriffspakt. Rußland ist heute daran interessiert, daß sich die kapitalistische Krise nicht weiter verschärft. Es muß importieren und folglich auch exportieren. Die Wirtschaftskrise hat den Fünfjahrplan aufs tiefste erschüttert. Der Export der Sowjet-Union, der im ersten Halbjahr 1930 noch 464 Millionen Rubel betrug, ist in der gleichen Zeit 1931 um volle 100 Millionen gesunken. Im ersten Halbjahr 1931 betrug die mengenmäßige Steigerung der Ausfuhr 10%, gegenüber der gleichen Zeit 1930, trotzdem war der Erlös um 21 % geringer. Die Schwierigkeiten der kapitalistischen Länder vergrößern auch die Schwierigkeiten für Rußland. Diese Schwierigkeiten durch Revolution noch zu vertiefen, kann nicht im Interesse Rußlands liegen; jedenfalls tut es alles, um diese Schwierigkeiten abzuschwächen. Deshalb hassen Rußland und die 3. Internationale heute nichts mehr als eine Revolution. Auf Grund der Entwicklung der russischen ökonomischen Verhältnisse, ist Rußland heute die stärkste konterrevolutionäre „Macht“ geworden. Die stärkste schon deshalb, weil sie neben der materiellen Gewalt auch noch die Ideologien des Proletariats beherrscht,.

Nicht die Phrase „Fünfjahrplan" gilt es, für ihren schönen Klang anzuerkennen, sondern was dieser Plan im Rahmen der Weltwirtschaft ökonomisch bedeutet, muß klar gestellt werden. Das zeigt schon ein einziger Punkt, und zwar der Export, daß Rußland die Prosperität braucht, die Krisenabschwächung, wenn weiter nichts möglich ist. Aber die Verschärfung der Krise ist der einzig revolutionäre Faktor der Weltgeschichte.

Den russischen Friedens- und Prosperitätsschreiern seien folgende Sätze von K. Marx entgegengehalten: „Bei einer allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich üppig entfalten, wie dies innerhalb, der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution nicht die Rede sein. Eine Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen miteinander in Widerspruch geraten. Eine Revolution ist nur möglich im Gefolge einer Krise, sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.“ [MEW 7, S. 440]

Was ist in Rußland?

Nicht bestritten wird vom russischen „Sozialismus“:

1. daß Lohnarbeit existiert, d. h. daß der Arbeiter seine Arbeitskraft verkauft. „Solange der Lohnarbeiter Lohnarbeiter ist, hängt sein Los vom Kapital ab." „Kapital und Lohnarbeit sind zwei Seiten eines und desselben Verhältnisses. Die eine bedingt, die andere.“ (K.Marx. [MEW 6, S. 411])
2. daß für den Markt und nicht für den Bedarf produziert wird, was mit der Tatsache der Lohnarbeit vollkommen verbunden ist.
3. daß Mehrwert erzeugt wird, den die Arbeiter nicht erhalten, worin eben die Ausbeutung des Arbeiters besteht.
4. daß die Produktion nicht von den Arbeitern bestimmt wird.

Da die russische Ökonomie auf Ausbeutung der Arbeitskraft basiert und die Ideologien sich nur in den Produktionsverhältnissen widerspiegeln, so muß auch die Ideologie der privilegierten Klassen in Rußland kapitalistisch werden. Die traditionelle Revolutions-Ideologie, die noch die Arbeiter zum Teil im Bann hält, existiert auch dann noch weiter, wenn ihre materielle Basis schon geschwunden ist. Aber sie hat keine Wirkung mehr, da die herrschenden Ideen bestimmt werden von den herrschenden Klassen. Karl Marx sagt, daß die Produzenten nur in dem Masse frei sein können, als sie die Produktionsmittel im Besitz haben. (Inauguraladdresse) Sie haben sie in Rußland nicht im Besitz.

Im Besitz der Produktionsmittel sind:

1. die private Bauernschaft (auch in den Kollektiven.)
2. der Staatskapitalismus (die Bürokratie um die Bauern als Nutznießer.)
3. der Privatunternehmer (Konzessionskapital)

Was ist Kommunismus?

Unsere rein „negative“ Kritik der Politik der Bolschewistischen Partei in Rußland, die den Nachweis erbringen soll, daß das, was sich in Rußland entwickelt, nicht die kommunistische Gesellschaft ist, verpflichtet uns auch zu sagen, was wir nur eigentlich für Kommunismus halten. Wir schilderten die Entwicklung Rußlands von 1917 bis 1931 um den Beweis anzutreten, daß das Proletariat in Rußland nicht die dominierende Klasse ist. Und wir hätten nicht einmal nötig gehabt, die ganze Periode zu durchstreifen, da schon allein die russische „Fabikordnung“ klar erkennen läßt, daß die Arbeiter keinen Einfluß auf den Gang des Wirtschaftslebens haben, was darauf hinausläuft, daß einzelne Leiter der Produktion die Verfügung über den Produktionsapparat haben und die russischen Arbeiter unter dem „Staatskommunismus“ Lohnarbeiter geblieben sind. Man muß auch weiter blind sein wenn man nicht sieht, daß der Profit die Grundlage der russischen Produktion ist, daß, wie überall auf der Welt, die Produktion nicht eingestellt ist auf den Bedarf der Produzenten.

Der Ausgangspunkt

In revolutionären Perioden finden wichtige ideologische Umformungen statt, die sich mit nie gekannter Schnelligkeit vollziehen. Die Zielsetzung der Arbeiter wird eine vollkommen andere, sie wird völlig radikalisiert. Eine der wichtigsten Lehren die die revolutionäre Periode 1917-23 uns gebracht hat, ist wohl die, daß die ungeformten Ideologien einen anderen organisatorischen Ausdruck haben, als die alte Arbeiterbewegung. Die Betriebsorganisationen und die Arbeiterräte sind die organisatorischen Waffen, womit die Arbeiter die Revolution durchführen.

Über die Wichtigkeit der Räte war man sich vor 1917 nicht klar. Der Sowjetgedanke ist ausschließlich eine Folge der Revolution. Wenn jemals das Wort von Mehring, daß die Intuition den handelnden Massen genialer sein kann, denn das größte Genie, sich bewahrheitete, dann in diesem Falle. Das vornehmste, Positive, welches die revolutionäre Periode von 1917-23 uns gebracht hat, ist, daß wir die Formen gesehen haben, in denen sich die proletarische Revolution vollzieht. Die Übernahme des gesellschaftlichen Produktionsapparates wird vollzogen durch die Betriebsorganisationen und deren Zusammenschluß, die Arbeiterräte. Deshalb muß jede Untersuchung der Probleme kommunistischer, Produktion und Verteilung von dieser Grundlage, ausgehen.
Worin besteht die Beherrschung der Arbeiterklasse?

Die Beherrschung und Ausbeutung der Arbeiterklasse ist in ihren Ursachen außergewöhnlich einfach und für jeden Arbeiter sofort zu begreifen: sie sind eingeschlossen in der Tatsache, daß der Arbeiter von den Produktionsmitteln getrennt ist. Die sind Eigentum der Kapitalisten, der Arbeiter besitzt nur seine Arbeitskraft. Die Bedingungen unter denen der Arbeiter arbeiten muß, werden von den Kapitalisten bestimmt, der Arbeiter ist ökonomisch vollkommen rechtlos mag die politische Demokratie auch bis zur äußersten Vollendung durchgeführt sein, er ist abhängig vom Kapital. Mit dem Verfügungsrecht über die Produktionsmittel hat die besitzende Klasse zugleich die Verfügung über die Arbeitskraft, das heißt, sie beherrscht die Arbeiterklasse. Die Arbeiter verfügen nicht über die von ihnen erzeugten Produkte, sie gehören nicht ihnen, sondern ihren „Brotherrn“. Was damit geschieht, ist nicht ihre Sache, sie haben nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen und empfangen dafür ihren „Lohn“: sie sind Lohnarbeiter. Die Lohnarbeit ist der Ausdruck der Tatsache, daß die Arbeit von der Arbeitsproduktion geschieden ist, von der Tatsache, daß die Arbeiter weder über das Produkt, noch über den Produktionsapparat etwas zu sagen haben.

Worum es geht

So einfach die Grundlage der Beherrschung der Arbeiterklasse ist, so einfach ist auch die Formulierung in der Aufhebung der Lohnsklaverei: „sie kann nur aufgehoben werden, wenn die Trennung zwischen Arbeit und Arbeitsprodukt aufgehoben wird, wenn das Verfügungsrecht über das Arbeitsprodukt und somit auch über die Produktionsmittel wieder den Arbeitern zukommt.“ [Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, s. 155]

Das ist das Wesentliche der kommunistischen Produktion. Das kann natürlich nicht mehr in der Weise geschehen wie früher, als der Handwerker selbst über sein Werkzeug und Arbeitsprodukt verfügen konnte. Die heutige Gesellschaft erfordert einen vergesellschaften Arbeitsprozeß, die gesellschaftliche Produktion und deshalb müssen die Arbeiter die Produktionsmittel gemeinschaftlich besitzen. Gemeinschaftlicher Besitz aber, der nicht zugleich das Verfügungsrecht darüber in sich schließt, verfehlt seinen Zweck. Der gemeinschaftliche Besitz ist kein Ziel an sich, sondern nur das Mittel, um das Verfügungsrecht über die Produktionsmittel für die Arbeiter möglich zu machen, um die Trennung möglich zu machen, um die Trennung von Arbeit und Arbeitsprodukt aufzuheben, um die Lohnarbeit abschaffen zu können.
Ziel und Mittel

Hier liegt die schwache Stelle der heutigen Arbeiterbewegung. Man setzt sich zum Ziel, die Produktionsmittel in Gemeinschaftsbesitz zu bringen und ahnt nicht, daß dies überhaupt kein Ziel sein kann; man vermutet nicht, daß mit dem Übergang zum „Gemeinschaftsbesitz" das Problem einer neuen Produktionsweise erst gestellt ist. Die Arbeiterklasse lebt fälschlich in dem Vertrauen, daß der Kommunismus „von selbst“ kommen muß, wenn der Privatbesitz an Produktionsmitteln aufgehoben ist. Aber die Voraussetzung, daß damit die Lohnarbeit notwendigerweise verschwinden muß, ist falsch. Die wirkliche proletarische Zielsetzung kann nur sein, daß die Arbeiter das Verfügungsrecht über die Produktionsmittel (und damit über das Produkt) erobern und dadurch in der Tat die Lohnarbeit abschaffen. Erst dadurch wird die Arbeiterklasse „frei“. Die gemeinschaftlich ausgeübte Verfügung über die Produktion durch die freien Produzenten, das ist die Grundlage der kommunistischen Gesellschaft.

Die freien Produzenten können aber nicht willkürlich über die Produktionsmittel verfügen, so wie es die freien Produzenten im Kapitalismus (die Fabrikbesitzer oder „Führer") tun. Ist die Verfügung willkürlich, dann kann von einer gemeinschaftlichen Verfügung keine Rede sein. Die erste Bedingung, eine gemeinschaftliche Verfügung über den Produktionsapparat möglich zu machen, ist daher, daß sich die Produktion nach allgemein geltenden Regeln vollzieht; Regeln, auf denen alle gesellschaftliche Arbeit ruhen muß. Dann erst ist ein gemeinschaftliches Handeln und Beschließen möglich. Die freien Produzenten müssen darum gleiche Produktionsbedingungen für alle Produzenten schaffen. Die Betriebsorganisationen verkörpern in ihren Verbindungen der verschiedensten Art, die „Assoziation der freien und gleichen Produzenten.“

Die alte Auffassung

Sowohl die radikale Sozialdemokratie (Bolschewiki) wie auch die reformistische haben beide die marxistische Lehre gerade in dem entscheidenden Punkt der „Assoziation freier und gleicher Produzenten“ revidiert. Beide Richtungen glauben, daß es nur notwendig sei, den Staat zu beherrschen, um die Ausbeutung aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen zu entfernen.

„Die ganze Volkswirtschaft organisiert nach dem Vorbild der Post - das ist unsere erste Aufgabe.“ (Lenin in „Staat und Revolution“.)

Hilferding sagt: „Das heißt nichts anderes, als daß unserer Generation das Problem gestellt ist, mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der bewußten gesellschaftlichen Regelung diese von den Kapitalisten organisierte und geleitete Wirtschaft in eine durch den demokratischen Staat geleitete Wirtschaft umzuwandeln.“ [Referat auf dem Kieler Parteitag der SPD 1927]

Die Unterschiede zwischen den Sozialdemokraten und den Bolschewiki treten erst dann auf, wenn es um die Mittel geht, um die Taktik, womit man diesen gesellschaftlichen Zustand erreichen will. Die einen wollen es auf dem Wege des allgemeinen Wahlrechts, wollen diesen bürgerlich-kapitalistischen Staat „erobern“ und durch ihn die Organisationen des Kapitals unterwerfen. Die andern bekämpfen diese Politik mit aller Entschiedenheit. Sie propagieren die Vernichtung des bürgerlichen Staates in der Revolution und Bildung einer neuen politischen Macht durch die Partei der Arbeiterklasse, den Staat der proletarischen Diktatur.

Die Berufung des „Staatssozialismus" auf Marx

Der radikalen, wie der reformistischen Sozialdemokratie fällt es tatsächlich leicht, ihre oben geschilderte Auffassung mit dem „Kommunistischen Manifest“ in Einklang zu bringen. Das Manifest enthält am Ende des Absatzes 2 Forderungen, die theoretisch denen der heutigen sozialdemokratischen Auffassungen entsprechen. Starke Progressivsteuer, Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben, Sozialisierung der Großbetriebe zur Durchführung staatlicher Planwirtschaft u. s. w. [MEW 4, S. 481] Diese Forderungen wurden aber 1847 nicht als Allheilmittel für die Beseitigung der kapitalistischen und Aufbau der kommunistischen Gesellschaft aufgestellt, sondern sie waren Teilforderungen ihrer Zeit, Forderungen, die vor 84 Jahren eine Ungeheuerlichkeit darstellten, die aber in der heutigen Zeit für Marxisten undiskutabel sein sollten. Karl Marx sagt selbst im Vorwort zum kommunistischen Manifest 1872

„Die praktische Anwendung dieser Grundsätze, erklärt das Manifest selbst, wird überall und jederzeit von den geschichtlichen Umständen abhängen, und wird deshalb durchaus kein besonderes Gewicht auf die Abschnitt II vorgeschlagenen revolutionären Maßnahmen gelegt. Dieser Passus würde heute in vielen Beziehungen anders lauten.“ [MEW 4, S. 573]

Weiter heißt es: „Gegenüber der immensen Fortentwicklung der großen Industrie in den letzten 25 Jahren und der mit ihr fortschreitenden Parteiorganisation der Arbeiterklasse, gegenüber der praktischen Erfahrungen, zuerst die Februarrevolution und noch weit mehr die Pariser Kommune, wo zum ersten mal das Proletariat zwei Monate lang die politische Gewalt inne hatte, ist heute das Programm veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann. Indes das Manifest ist ein geschichtliches Dokument, an dem zu ändern wir uns nicht mehr das Recht zuschreiben.“ [ebd. S. 573f]

Der lebendige Marxismus, der Klassenkampf des Proletariats, hätte nichts mehr mit Marx und dem Manifest zu tun, wenn es dieses als ein Nachschlagewerk für die heutigen Aufgaben der Arbeiterklasse ansehn würde, daß sich die Vertreter des „Staatskommunismus" auf Marx berufen, ist eine absolute Verkennung des Marxismus selbst.

Das russische Experiment

Die russische Revolution hat uns die praktische Durchführung der Theorie des Staatssozialismus gebracht. Die Darstellung dieser Entwicklung war der Inhalt unsres vorhergehenden Artikels. Die Bolschewiki gaben keine Richtlinien, nach denen die Arbeiter selbst ihren Betrieb in das kommunistische Wirtschaftsleben einfügen können, sie zeigten nicht, wie Leitung und Verwaltung tatsächlich in die Gesellschaft übergeht. Für sie war die Befreiung der Arbeiter nicht das Werk der Arbeiter selbst, sondern für sie war die Durchführung des Kommunismus eine Funktion der „Männer der Wissenschaft“, der „Intellektuellen“ der „Statistiker“ usw. Die Bolschewiki glaubten, es handle sich nur darum, die alten Industrieführer zu verjagen und die Kommandogewalt über die Arbeit in die eigene Hand zu nehmen, um alles in den sicheren Hafen des Kommunismus zu lotsen.

Was in der Sozialdemokratie aller Schattierungen als Sozialismus oder Kommunismus gilt, ist nicht die Durchführung neuer ökonomischer Bewegungsgesetze für die Güterbewegung, sondern nichts anderes als die Übertragung der Organisation des Kapitals in das kommunistische Wirtschaftsleben. Soll nach diesen Sozialisierungsprojekten das sozialistische Produktionssystem funktionieren, dann muß die Leitung vor allem darauf bedacht sein, die Verfügung über den Produktionsapparat und damit das Kommandorecht über die Arbeiter zu sichern. ("Wenn wir ernsthaft von einer planmäßigen Wirtschaft sprechen wollen, wenn die Arbeiterschaft in Übereinstimmung mit dem Wirtschaftsplan im gegebenen Entwicklungsstadium verteilt werden soll, darf die Arbeiterklasse kein Nomadenleben führen. Sie muß ebenso wie die Soldaten verschoben, verteilt, abkommandiert werden.“ Trotzki: Russ. Korr. 1930. Heft 10.) In der Theorie wird dieses Recht im Namen des Wirtschaftsplanes gefordert, in der Praxis richtet es sich auch gegen jede unerwünschte Einmengung von Seiten der Lohnarbeiter. Die Entwicklung des russischen Staatskommunismus gibt dafür ein lehrreiches Beispiel.
Die Lehren

„Die Lehre von der sozialistischen Wirtschaft kennt nur einen einzigen Wirtschaftler: die Gesellschaft, welche ohne Gewinn- und Verlustrechnung, ohne Zirkulation eines Geldes, sei es nun Metall- oder Arbeitsgeld, auf Grund eines Wirtschaftsplanes, ohne Zugrundelegung einer Recheneinheit, die Produktion organisiert und die Lebenslagen nach sozialistischen Grundsätzen verteilt.“ (Otto Neurath: Wirtschaftsplan und Naturalrechnung, S. 84.)

Von 1918-1921 haben die Bolschewiki versucht, dies Prinzip zu verwirklichen, es war unmöglich, man kehrte von der prinzipiellen Naturalform der Verteilung zum „wertbeständigen Geld“ zurück. Es war erwiesen, daß ohne die Neu-Organisierung der Produktion und ohne die Aufstellung eines allgemeinen Maßes, für die Berechnungen im Wirtschaftsleben es unmöglich ist, rationell Wirtschaft zu führen. Es war erwiesen, daß die Versuche, die Regierungsgewalt über die Produktionsmittel nach einer zentralen Regierungsstelle zu verlegen, die Initiative der Arbeiter immer mehr ausschalten muß. Die Trennung von Arbeit und Arbeitsprodukt ist das wesentlichste Merkmal der russischen Produktion gerade wie im Kapitalismus. In der Konzentration der Verfügungsgewalt über den Produktionsapparat, die gesellschaftliche Arbeit und das gesellschaftliche Gesamtprodukt, sehen wir die Form, In welche die Diktatur des Proletariats in die Diktatur über das Proletariat, übergeht. Kommunistische Produktion und Verteilung Bei der „marxistischen“ Erklärung der Beherrschung der Arbeiterklasse haben wir gesehen, daß das eigentliche Problem des Kommunismus in dem Aufheben der Trennung von Arbeit und Arbeitsprodukt liegt. Nicht der eine oder andere Oberste Volkswirtschaftsrat, sondern die Produzenten selber müssen durch ihre Betriebsorganisationen die Verfügung über das Arbeitsprodukt haben. Nur dadurch werden sie zu freien Produzenten und können sich dann in gegenseitigem Zusammenhang zu den Assoziationen von freien und gleichen Produzenten gruppieren. Weil die heutige Technik die ganze Produktion vergesellschaftet hat, alle Betriebe technisch vollkommen voneinander abhängig sind und zusammen einen ununterbrochenen Arbeitsprozeß bilden, so ist es die Aufgabe der Revolution, sie auch ökonomisch aneinander zu schmieden. Das ist aber nur möglich, wenn ein allgemeines ökonomisches Gesetz den ganzen Wirtschaftsprozeß vereinigt.

Das neue allgemeine ökonomische Gesetz, das den ganzen Wirtschaftsprozeß vereint, sagt noch gar nichts über den organisatorischen Zusammenschluß der Wirtschaft. Es setzt nur die Bedingungen fest, unter denen die in den Betriebsorganisationen vereinigten Produzenten am großen allgemeinen Wirtschaftsprozeß teilnehmen. Diese Bedingungen müssen in erster Linie für jeden Teil des Totalprozesses dieselben sein. Im Gegensatz zu Lenin, der von dem Grundsatz ausgeht, „die ganze Volkswirtschaft organisiert nach dem Vorbild der Post, das ist unsere Forderung“, sagen wir: „gleiche ökonomische Bedingungen für alle Teile der gesellschaftlichen Produktion.“ Dann erst kann zu der Frage der Organisationstechnik Stellung genommen werden.

„Gleiche ökonomische Bedingungen“ hat in erster Linie Bezug auf die Durchführung eines allgemein geltenden, festen Maßes, wonach alle Berechnungen in Produktion und Verteilung vorgenommen werden. Dieses Maß kann nicht mehr das Geld sein, weil sich keine zweite Person mehr zwischen den Arbeiter und sein Produkt einschieben soll. Der Arbeiter steht hier nicht als Fremder dem gesellschaftlichen Arbeitsprodukt gegenüber. Wohl konsumiert er nicht direkt das durch ihn hergestellte Produkte, aber sein Produkt trägt etwas in sich, das alle gesellschaftlichen Güter gemeinsam haben: die notwendige Arbeitszeit, die ihre Herstellung kostete. Alle Güter sind also gesellschaftlich gesehen qualitativ vollkommen gleich. Sie unterscheiden sich nur in der Menge gesellschaftlicher Arbeit, welche sie im Produktionsprozeß erforderten. So wie der Maßstab für die individuelle Arbeitszeit die Arbeitsstunde ist, so muß der Maßstab für die Menge gesellschaftlicher Arbeit, die in der Produktion enthalten ist, die gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitsstunde sein.

Die Revolution besteht aber nicht nur in einer Umwälzung der ökonomischen Bedingungen der Produktion, sie bringt auch für die individuelle Konsumtion neue ökonomische Bedingungen. Haben die Arbeiter das Verfügungsrecht über das Arbeitsprodukt in Händen, dann muß ihr Verhältnis zu diesem Produkt auf neuer Grundlage festgelegt werden und geregelt; d. h. auch hier werden die neuen Produktionsverhältnisse zu neuen Rechtsverhältnissen. Denn wohl haben die Arbeiter das Verfügungsrecht über das Produkt, aber nicht mehr im Sinne des Privatkapitalismus mit willkürlich freier Verfügung. Die Verfügung über das Produkt kann sich nur unter gesellschaftlichen und für alle gleichen Bedingungen vollziehen. Die Produzenten und Konsumenten sind wohl frei, doch nur durch ihre gesellschaftliche Gebundenheit. Jeder Betrieb ist nur eine Zelle im großen Gesamtwirtschaftskörper, aber auch nicht weniger. Jede Zelle hat ihre eigene Aufgabe, ihre eigene Differenzierung, die sich nur in Selbstbewegung vollziehen kann. Und zugleich ist diese Selbstbewegung nur möglich in und durch den begrenzenden Rahmen der allgemeinen Bewegungsgesetze des Gesamtkörpers. In diesem Rahmen entfaltet sich die freie Selbstaktivität und Selbstbewegung welche durch ihre Begrenzung die Arbeiter zu freien Produzenten macht.

Gleiche Bedingungen für die individuelle Konsumtion können wiederum nur in einem gleichen Maßstab für die Konsumtion liegen. So wie die individuelle Arbeitsstunde der Maßstab ist für individuelle Arbeit, so ist die individuelle Arbeitsstunde zugleich der Maßstab für die individuelle Konsumtion. Hiermit ist auch die Konsumtion gesellschaftlich geregelt und bewegt sich in vollkommen exakten Bahnen.

Aus: Der Freidenker (New Ulm), 19. Februar & 7. Februar. Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.

Originaltext: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/mattick/1932/01/kaprus.htm


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