Paul Mattick - Marinus van der Lubbe. Proletarier oder Provokateur?
Das von der 3. Internationale herausgegebene „Braunbuch“ über den Reichtagsbrand enthält neben vielen Wahrheiten über den Naziterror auch weiterhin die Behauptung, das Marinus van der Lubbe ein Werkzeug der Hitlerbewegung sei. Als einziges Beweismaterial weist man auf die angebliche Homosexualität v.d.L. hin, als ob die Führer der Nazis einen jahrelang arbeitslosen Proleten als homosexuellen Partner nötig hatten? Dafür sollten doch die Nazis genug „anständige“ Leute in ihren eigenen Reihen haben. Aber selbst die Homosexualität v.d.L. haben sich die Schmierfinken der K.P. aus den Fingern gesogen. Ihre ganze Beweisführung ist von A bis Z erlogen und doch machen sie sie zum Zentralpunkt ihrer ganzen Argumentation.
M.v.d.L. gehörte bis zum November 1932 der Gruppe Internationale Kommunisten Hollands an. Er kennt den Parlamentarischen Verrat der S.P.D. und den parlamentarischen Kretinismus der K.P.D. Er sieht wie sich in Deutschland der Faschismus entwickelt und wie die Arbeiterpartien nichts zu seiner Abwehr tun. Kurz vor der Machtergreifung versuchen S.P.D und K.P.D. die Arbeiter vom wirklichen Kampf abzuhalten, indem sie ihnen empfehlen, mit den Faschisten an der Wahlurne abzurechnen. Der Stimmzettel soll die Revolution verhindern. Als die Hitlertruppen vor dem Karl Liebknechthaus demonstrieren, schreiben die K.P.D. Blätter: „Arbeiter gebt ihnen die Antwort am 5. März, wählt Kommunisten.“ Die Atmosphäre ist die des Bürgerkriegs, sie zieht den Revolutionär v.d.L. nach Deutschland. Die Arbeiterparteien tun aber alles um diesem Bürgerkrieg auszuweichen und bereiten damit die Niederlage vor. Am Abend vor der Aufrichtung der politischen Macht des Faschismus haben die Führer den Arbeitern nichts anderes zu empfehlen als den parlamentarischen Betrug. Zum Protest gegen diesen Schwindel setzt sich v.d. Lubbe den Reichtag in Brand. Ein Zeichen, dass es nicht zur Wahl Urne, sondern zur Revolution gehen soll. Ein Signal, dass mit dem parlamentarischen Schwindel Schluss gemacht werden muss.
Die Nazis lügen: „v.d.L. arbeitet für die K.P.D.“ - Kein Mensch glaubt ihnen das. Die K.P.-Bonzen lügen: „v.d.L. ist ein Provokateur der Nazi.“ Und viele Arbeiter glauben diesen Schwindel. Wohl haben die K.P.-Bonzen keinen wirklichen Beweis für diese ehrabschneidende Beschuldigung, aber was machts, sie haben Papier, das sich bedrucken lässt. Einmahl ist v.d.L. für sie ein Naziagent, ein andermal ist er von Deterding bestochen, um die Nazis zu zwingen, die Handelsbeziehungen mit dem russischen Petroleumtrust abzurechen: Jede neue Behauptung widerspricht einer früheren. Doch was ist v.d.L. für ein eigentümlicher Provokateur? - Er hat keine, die Schuld der K.P.D. oder S.P.D-Führer aufweisenden Papiere bei sich finden lassen. Er hat keinerlei Erklärungen abgegeben, die der Nazi-Polizei Gelegenheit zu Verhaftungen gegeben hätten.
Es ist außer Zweifel, dass die Nazis hunderte von Agenten und Spitzeln in den Reihen der K.P.D. und S.P.D hatten und haben. Weshalb dann, wählten sie sich für die Tat einen einfachen, holländischen Arbeiter, einen Rätekommunisten, also einen erklärten Gegner der parlamentarischen Arbeiterbewegung? Welch ein seltsamer Provokateur, der immer wieder erklärt: „Ich habe ganz allein gehandelt“, obwohl er als Agent doch andere zu belasten hätte? Obwohl er doch angeblich angestellt war, die Schuld am Reichtagsbrand auf die K.P.D. zu schieben, betont er immer wieder die K.P.-Angeklagten nicht zu kennen, weist er jede Verbindung mit der K.P.D. zurück. Die Beschuldigungen v.d.L. durch die K.P. stimmen nicht mit den Tatsachen überein. Sie können es nicht, weil sie schamlose Lügen sind.
Warum verwickeln sich die „roten Journalisten“ der Zweiten - und Dritten Internationale in derartige Widersprüche? Sie wollen die Welt zeigen, dass ein Kommunist so etwas, wie den Reichtag anzuzünden, nicht täte. Dazu kann nur ein Nazi fähig sein. Sie wollen den Bourgeois zeigen, dass die K.P.D. in Wirklichkeit nichts weiter will, als Handlangerdienste leisten für die Bourgeoisie. V.d.L. muss für die 3. Internationale ein Nazi sein, er muss für die Nazis ein Kommunist sein. Die Nazis zeigen der Welt die Gefährlichkeit des Bolschewismus in Person v.d.L., um Verständnis für ihre imperialistische Aufrüstung zu finden. Die 3. Internationale zeigt der Welt, dass die Nazis Mordbrenner sind in der Person v.d.L., um die deutsche Position zu schwächen. Im ganzen Prozess um den Reichtagsbrand widerspiegeln sich nur die Kriegsvorbereitungen indem ein Staatenblock gegen andere Staatenblocks steht. Noch gehört Deutschland nicht zum russischen Staatenblock, deshalb ist v.d.L. ein Agent des Mörders Göring. Im engeren Rahmen sehen die Parlamentarier in der Tat v.d.L. einen Schlag gegen sich selbst, gegen die Unterhändler, die Führer. Mit unfehlbarem Instinkt erkennen die Bonzen in v.d.L. den Mann einer ihnen feindlichen Welt. Aus den Millionen von Stimmvieh hat ein Arbeiter dem parlamentarischen Gesindel ins Gesicht geschlagen.
Arbeiter! Lasst Euch nicht dauernd von einer feilen Schreiberbande belügen. Verlangt die Beweise für die Behauptung, dass v.d.L. Mitglied des Mordsturmes 33 gewesen ist, dass Deterding ihm 25.000 Mark Belohnung versprochen hat. Wenn sie dies behaupten, so müssen sie Beweise haben, und können sie es nicht, dann schlagt ihnen ihre Lügen in den Schlund zurück. Man mag über den Wert oder Unwert der Tat v.d.L. denken wie man will, sie war eine Überzeugungstat, für die v.d.L. selbst einsteht. Das Signal, das er geben wollte, war zu schwach, um den ganzen Betrug der alten, verkommenen Arbeiterbewegung blitzschnell zu beleuchten. Aber das Signal wurde von einem Revolutionär gegeben.
Man wird, lässt sich die Lüge vom Naziagenten nicht mehr aufrecht erhalten, euch sagen, dass v.d.L. verantwortlich gemacht werden muss für den Hitlerterror , der nach den Brand einsetzte. Aber damit werden sie den alten Lügen nur eine neue anfügen. Die Nazis übten den Terror schon vor den Brand aus. Sie sprachen schon vorher öffentlich aus, dass sie alle Arbeiter, die sich ihnen entgegenstemmen werden, niederschlagen werden. Die Zahl der Arbeitermorde stieg schon vor dem Brand in schnellem Tempo. Der faschistische Terror war nicht eine Folge der Tat v.d.L., sondern seine Tat sollte der Beendigung des Terrors gegen die Arbeiterschaft dienen. Die Niederlage des deutschen Proletariats auf die Tat v.d.L. zurückzuführen zu wollen, ist nur ein Versuch, den eigenen Bankerott zu verbergen.
Mit dem Beginn des Reichtagsbrand-Prozesses schrieb die „Neue Weltbühne“, dass die Gefahr der Vergiftung der Angeklagten Torgler, Dimitrov usw. bestände und man deshalb nicht erstaunt sein solle, wenn diese Angeklagten Dinge aussagen, die man von ihnen nicht erwartet. Dass man dasselbe auch mit v.d.L. tun kann und hier tatsächlich tat, das kam den Herren nicht in den Sinn. Das war ja der Provokateur, der musste ja im Interesse des Gerichts aussagen, den brauchte man nicht erst vergiften, der wurde ja bezahlt. Über die Vergiftungserscheinungen v.d.L. machte sich die Intelligenzija und die K.P.-Presse nur lustig, v.d.L. wurde auf einmal ein Halbidiot. Und doch, nur die Vergiftung v.d.L. konnte für das Gericht einen Sinn haben. Seine Aussagen, die die anderen Angeklagten entlasteten, mussten entkräftet werden. V.d.L. durfte nicht sprechen, um den letzen Schein der Anklage gegen Torgler und Genossen nicht zu vernichten.
Die K.P. weiß, dass v.d.L. kein Naziagent ist, aber sie wird das Lügen nicht aufgeben, selbst dann nicht, wenn v.d.L. hingerichtet ist. Nach Monaten der Verhandlung die das ganze Lügengebäude um v.d.L. das die K.P. aufgebaut hatte, zerschlug, wagt die „Rundschau“ - ein kommunistischen Parteiorgan am 30. November noch zu schreiben: „Lubbe har den Auftrag erhalten, seine bisherige Schweigetaktik zu brechen.“. Die Forderung v.d.L. die Leibziger Komödie zu beenden, kommentiert die „Rundschau“ wie folgt: „Lubbe fordert die Einlösung der von den Faschisten ihm gemachten Versprechungen. Er selber besteht auf die Todesstrafe, weil er glaubt, dass man die ihm gemachten Versprechungen, ihn nachher laufen zu lassen, einlösen werde." War v.d.L. erst ein Agent, der die parteikommunistischen Angeklagten zu denunzieren hatte, so ist er heute ein Agent, weil er das nicht tut. Wenn v.d.L. vor dem Gericht erklärt: „Kein Mensch kann an die Schuld Torglers und der Bulgaren glauben“, dann schreibt die „Rundschau“: „An dieser Stelle scheint Lubbe sich besonders ungeschickt in seiner Rolle benommen zu haben.“ Und dann folgt ein sehr seltsamer Satz: „Es ist auch möglich, dass die plötzliche Lebendigkeit Lubbes darauf zurückzuführen ist, dass er am Tage vorher weniger gegessen und infolgedessen die Giftmengen, die seinem Essen beigemischt werden, diesmal nicht ganz gewirkt haben“. Weshalb soll man wohl einen Mann, der auf Auftrag handelt, der genau stets das tut, was die Nazis von ihm wollen, noch obendrein vergiften? Was mutet die NX „Rundschau“ ihren Lesern zu, was mutet die K.P., die 3. Internationale ihrem Anhängern zu ? Vor dieser Abgebrühtheit treten selbst die Nazis in den Schatten.
Arbeiter, zerstört diesen schmutzigen Schwindel. Zwingt die Kommunistische Partei, Euch Beweise zu geben, die die Provokateurtätigkeit v.d.L. bestätigen. Lasst die Bonzen weder mit dem Leben noch mit der Ehre von Revolutionären spielen. V.d.L. ist kein Agent der Nazis, sondern ein klassenbewusster Arbeiter, dem die Sympathien des revolutionären Proletariats gehören.
(4. Januar 1934)
Aus: Der Freidenker, Nr. 5/6, 4. Januar 1934, S. 7,New Ulm, Minnesota, U.S.A. Mattick verfasste diesen Aufsatz 1934 im Auftrag des „Comite International pour la defense et la rehabilitation de Marinus van der Lubbe." [Paris}. Kopiert mit Dank vom Council Communist Archive bei www.kurasje.org HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Originaltext: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/mattick/1934/01/lubbe.htm