Anton Pannekoek - Die Arbeit im Sozialismus

Der Genosse Pannekoek hat diesen Beitrag mit einem Begleitbrief geschickt, aus dem wir einleitend eine Stelle zitieren wollen. Er schreibt:

„ ... Ich lese manche Artikel in Funken mit großem Interesse, aber nicht immer mit Freuden. Was so oft Ihre besten Mitarbeiter betonen, daß die marxistischen Grundlagen einer guten sozialistischen Praxis fehlen, darin muß ich Ihnen recht geben. Weil ich selbst in meinen besten Jahren die deutsche sozialistische Bewegung mitmachte (um und nach 1900, zuerst von Holland aus, dann in Deutschland selbst), empfinde ich den Unterschied zur Gegenwart sehr stark. Kein Wunder, wenn man bedenkt, daß seitdem die deutschen Arbeiter erst den Reformismus und den Weltkrieg, dann 15 Jahre Ministerialismus durchmachten, und dann die geistige Leere unter Hitler. Während die heranwachsende Generation immer wieder durch die bolschewistische Entartung des Marxismus irregeführt wurde. Deutsche Sozialisten, die jetzt in einer gründlichen theoretischen Durchbildung eine neue Basis schaffen wollen, haben dabei zwei Schritte zu machen: zuerst die Höhe des theoretischen Bewußtseins der SPD um 1900 wieder zu erreichen; und dann an die Ansätze zur weiteren Entwicklung der Theorie und der Taktik anzuknüpfen, wie sie in den Jahren 1903 bis 1914 in den Parteidiskussionen und bis 1920 im praktischen Kampf auftauchten (Imperialismus, Massenstreikdebatten, Massenaktionen), und diese weiterzuführen. Es sind damals und in den Zwanziger Jahren manche wertvollen und fruchtbaren neuen Gedanken entwickelt worden, aber sie erreichten nur kleine Gruppen; und es ist alles in kaum aufzutreibenden Zeitschriften und Zeitungen verschollen. Und was sich jetzt SPD nennt, ist eine nur-parlamentarische, völlig bürgerliche Partei, die danach trachtet, die christliche Partei durch ein Übermaß von Nationalismus zu schlagen.“

Bei den Arbeitern wird, mehr als auf Organisationsfragen, das Hauptinteresse auf die Frage nach dem Charakter der Arbeit im Sozialismus gerichtet sein. Nun wird der Ausdruck „Sozialismus“ für sehr verschiedene Dinge gebraucht. Wenn wir von Sozialismus reden, denken wir immer an ein grundsätzlich vom Kapitalismus verschiedenes Arbeitssystem. Bei dem russischen Staatskapitalismus, obgleich er sich Sozialismus nennt, ist das nicht der Fall. Ebensowenig bei den von der englischen Labourregierung verstaatlichten Industriezweigen.

Hier sind die Arbeiter noch immer Untergebene, die dem Kommando eines von oben eingesetzten Direktors zu gehorchen haben. Eine grundsätzliche Änderung tritt erst ein, wenn die Arbeiter selbst Herren in der Fabrik, Meister des Produktionsapparates sind und selber, durch den gemeinsamen Beschluß der Belegschaft, ihre Arbeit regeln. Bedingung dafür ist, daß die Machtmittel des Kapitals, wodurch es die Produktion beherrscht, durch die Revolution der Arbeiterklasse vernichtet werden. Damit wird die Ausbeutung aufgehoben.

Die kapitalistische Ausbeutung bedeutet nicht nur, daß das Kapital das Produkt der Arbeit als sein Eigentum beschlagnahmt und davon den Arbeitern nur den zum Leben notwendigen Teil überläßt. Sie bedingt auch den besonderen Charakter der Arbeit im Kapitalismus. Diese ist Verausgabung von Arbeitskraft schlechthin, von unterschiedsloser, quantitativer Arbeitskraft, und deren Umsetzung in ein Quantum Mehrwert für das Kapital. Das Produkt selbst ist gleichgültig, wenn es nur verkäuflich ist. Ob es Schund ist oder Qualitätsware, ob es dem Arbeiter Freude macht oder ihn anekelt, spielt keine Rolle. Er kann nicht in dem Produkt seine Schaffensfreude zum Ausdruck bringen; er hat durch Verausgabung seiner Arbeitskraft bis zur Erschöpfung ein möglichst großes Quantum Mehrwert zu liefern. Hier ist der Mensch zu einer Maschine degradiert, die Profit für das Kapital produziert.

Die Arbeit im Sozialismus unterscheidet sich durch das Verschwinden all dessen, was sie im Kapitalismus unerträglich macht. Statt der Produktion von Mehrwert wird sie Produktion der zum Leben notwendigen Dinge, zugleich natürliche Betätigung aller menschlichen Kräfte und Anlagen. Wenn die Arbeiter Herren in der Fabrik sind und selber ihre Arbeit regeln, werden sie selbstverständlich anfangen, alles zu beseitigen, was durch den Befehl des Kapitalisten die Arbeit zu einer geisttötenden Abrackerung machte. Die endlose Wiederholung der gleichen Handgriffe kann leicht durch automatische Vorrichtungen ersetzt werden. Warum macht der Kapitalismus das nicht? Weil er über genügend zu Automaten herabgewürdigte billige Arbeitskräfte verfügt. Ebenso selbstverständlich ist es, daß die Arbeiter sich dann nicht länger mit veralteten Werkzeugen und unproduktiven Arbeitsmethoden herumquälen werden, sondern überall die fortgeschrittenste Technik einführen werden. Damit wird die notwendige Arbeitszeit erheblich verringert werden. Es kommt hinzu, daß alle Arbeitskraft, die jetzt Zwecken der Kriegsproduktion, sowie des Luxus und der persönlichen Versorgung der herrschenden Klasse dient, dann für die Mitarbeit an den gesellschaftlichen Bedürfnissen frei wird.

In seinem in der August-Nummer der Funken abgedruckten Brief weist Paul Frölich noch auf einen anderen Faktor der Degradierung des arbeitenden Menschen im Kapitalismus hin. Durch die Entwicklung der Technik und die immer weiter getriebene Arbeitsteilung sind die Menschen „ahnungslose, bewußtlose Werkzeuge dieser gewaltigen Entwicklung, tote Teilchen der riesenhaften Maschine“ geworden. „Sie kennen weder die Funktionen noch den Zweck dessen, was sie herstellen.“ „Der einzelne Mensch ist und wird immer mehr Teil eines organischen Ganzen. Wie sein Produkt wird er zum Splitter.“ Das ist in der Tat ein weiterer Umstand, der die Arbeit im Kapitalismus zu einer Qual macht. Dies tritt noch schärfer hervor, wenn man einen Vergleich mit dem mittelalterlichen Handwerk zieht. Da war der Handwerker selbst Besitzer seines Werkzeugs, seines Produktionsmittels, und konnte es nach eigenem Plane verwenden. Uebrigens soll dabei bedacht werden, daß unter dem Kapitalismus die Arbeitsteilung, mit Rücksicht auf den größeren Profit, viel weiter getrieben wird, als es rein technisch notwendig wäre.

Teilung der Arbeit als technisch-organisatorische Struktur bedeutet jedoch zugleich Zusammenarbeit. Die großen Maschinen und die großen Betriebe können nur durch große organisierte Arbeiterscharen in Bewegung gesetzt werden. Wenn hier von Arbeitern gesprochen wird, so sind damit natürlich alle Mitarbeitenden einschließlich der technischen Beamten gemeint. Jetzt geschieht das unter dem Kommando des Kapitals. Im Sozialismus geschieht es nach dem Beschluß und Willen der Gemeinschaft der Arbeitenden, durch die Belegschaft. Die die Arbeit verrichten, regeln sie auch. Als Mitglied der Gemeinschaft hat jeder Einzelne sich nicht nur an der tatsächlichen Arbeit zu beteiligen, sondern auch an der Planung, der Organisation, der geistigen Führung. Wo der Kapitalist die Organisation befehligt und das Ganze überblickt, gilt, was Frölich ausdrückt: die Einzelnen, auch die Techniker, arbeiten blind, ohne zu wissen, was sie schaffen. Wo jedoch die Gemeinschaft die Organisation der Arbeit selbst entwerfen, beschließen und durchführen muß, durchschaut und weiß sie auch, was sie schafft. Und jedes Mitglied der Gemeinschaft, weil es mit diskutiert, beschließt und ausführt, hat Teil an dieser Erkenntnis. Daß es ein Teil eines organischen Ganzen ist, ist dann nicht ein Übel, sondern ein Glück, keine Erniedrigung seiner Persönlichkeit, sondern eine Erhebung. Der vergesellschaftete Mensch ist nicht eine degradierte Entartung sondern eine höhere Form des Menschentums. Er ist der neue Mensch der Zukunft, Träger einer höheren Kultur.

Denn es ist klar, daß durch diese Neuordnung der Arbeit die Grundlagen allen Fühlens, Denkens und Handelns der Menschen umgewälzt werden. Aus dem ständigen Zusammenwirken bei den gemeinsamen Aufgaben erwächst ein immer stärkeres Gemeinschaftsgefühl, das immer mehr das Wesen der Menschen beherrscht. Es ist die weitere Ausbildung der Solidarität, die zuvor im Klassenkampf aufblühte, und die in den schweren Kämpfen zur Vernichtung der Kapitalsherrschaft, die noch vor uns liegen, immer mehr zu einem festen Charakterzug der Arbeiter wird.

Und schließlich wird es fraglich, ob man die Arbeit, d. h. die menschliche Tätigkeit, dann noch mit diesem Namen bezeichnen kann. Unter dem Kapitalismus besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Arbeit und Muße. Mit dem Augenblick, wo das Schuften der erzwungenen Lohnarbeit aufhört, fängt das eigene freie Leben an. Wenn aber durch die Steigerung der Produktivität der Lebensunterhalt Aller mit geringer Mühe gesichert wird, dann wird die Tätigkeit der Menschen immer mehr darauf gerichtet sein, Werke zu schaffen, die das Leben reicher und die Erde schöner machen. Wo solche Ziele die Gedanken fortwährend beschäftigen, geht der Gegensatz von Arbeit und Muße verloren in der Tätigkeit zum Aufbau einer neuen Welt.

(November 1954)

Aus:
Funken 5, Nr. 11 (1954): 168-70. HTML-Markierung und Transkription: J.L. Wilm für das Marxists’ Internet Archive.

Originaltext: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1954/11/arbeit.htm


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