Anton Pannekoek - Religion und Sozialismus. Ein Vortrag (1906)

Einleitung

Das Thema, das ich heute Abend vor Ihnen behandeln soll, ist für die Arbeiterbewegung von allergrößter Wichtigkeit, überall bietet die Schicht der christlichen Arbeiter unserer Propaganda den zähesten Widerstand. Diesen Arbeitern wird von ihren Hirten, die da fürchten, sie könnten ihre Schäflein verlieren, erzählt, daß Religion und Sozialismus unvereinbare Gegensätze sind, und daß der Sozialismus eigentlich nur eine Abart des Atheismus ist und hauptsächlich bezweckt, ihnen ihre Religion zu rauben. Demgegenüber tritt in unseren eigenen Reihen aus dem Bedürfnis, jenem Mißtrauen zu begegnen und rascher in jenen Schichten vorzudringen, das Streben hervor, unsere Grundanschauungen zu vertuschen, und dem Augenblickserfolge das klare Denken und Fühlen der eignen Genossen zu opfern.

Wie steht es nun in Wirklichkeit mit jenem Gegensatz? Jedermann weiß, daß das Ziel der sozialdemokratischen Partei nicht ist, die Menschen zu einem neuen religiösen Glauben oder vielleicht besser, zu einem unreligiösen Unglauben, zu bekehren, sondern einzig und allein, eine wirtschaftliche Umgestaltung der Gesellschaft zu bewirken. In unserem Parteiprogramm, in den Reden und Schriften unserer Wort- und Schriftführer, überall findet man nur dies eine als Ziel unseres Strebens, unseres Kampfes: die kapitalistische Produktionsweise durch die sozialistische zu ersetzen, und zwar zunächst: die Produktionsmittel zu gesellschaftlichem Eigentum zu machen; als Mittel dazu sind wir bemüht, die politische und gesellschaftliche Gewalt in die Hände des Proletariats zu bringen, Jeder, der zu diesem Zwecke aufrichtig mitarbeiten will, ist als Kampfesgenosse willkommen, welchem Glauben er sonst anhangen mag. Dies mag zur Wiederlegung des erwähnten pfäffischen Geredes genügen.

In diesem Kampfe um die gesellschaftliche Macht werden an das Proletariat die höchsten Anforderungen gestellt. So gewiß unser Sieg ist, so gewiß ist es auch wahr, daß wir nur dadurch siegen werden, daß wir alle unsere Kampfesmittel zur höchsten Vollkommenheit bringen. Zu den hauptsächlichsten Kampfesmitteln gehört aber die Aufklärung der Massen. Unsere ganze Propaganda ist nichts als fortwährende Aufklärung der Arbeiter über die Ursache ihres Elends, über den Kapitalismus mit allen aus ihm hervorgehenden Erscheinungen, Die materielle Macht, die das Proletariat durch seine Anzahl und durch seine Bedeutung für den Produktionsprozeß besitzt, würde ihm wenig nützen, wenn nicht geistige Ueberlegenheit über den Gegner hinzukäme. Gegenüber der Verständnislosigkeit der herrschenden Klassen, die in nervöser Angst vor einer Zukunft, die sie nicht begreifen können, und die sie dennoch unwiderstehlich herannahen sehen, bald zu diesem, bald zu jenem Mittel greifen – liegt unsere Kraft in dem tiefen Verständnis der Arbeiter für alle Umstände des jetzigen Kampfes, in ihrer Einsicht in das Wesen des Kapitalismus, also in der sozialistischen Wissenschaft, in der Theorie des Sozialismus.

Kann es da je im Interesse unserer Bewegung sein, Unklarheit walten zu lassen statt Klarheit zu bringen, selbst wenn es auch scheinen mag, daß die klare, offene Darlegung unserer Ansichten die unaufgeklärte Masse abstößt, weil sie mit ihren Vorurteilen kollidiert? Nein; je tiefer unsere Einsicht, je besser und vollständiger unser Wissen, um so leichter werden wir in allen Schwierigkeiten unseres Kampfes das Richtige treffen.

Die Religionslosigkeit des Proletariats

Wenden wir uns nach dieser allgemeinen Einleitung über den einzunehmenden Standpunkt der Frage zu, was unsre eigne Erfahrung und unsre sozialistische Wissenschaft über das Verhalten von Sozialismus und Religion zu einander lehren. Da fällt uns zu allererst die Tatsache auf, daß das kämpfende sozialistische Proletariat im allgemeinen religionslos ist, oder es doch immer mehr wird. In früheren Zeiten gab es dann und wann einzelne Personen, in dem Zeitalter der bürgerlichen Aufklärung sehr viele, die sich von der Religion abwandten oder sie bekämpften. Jetzt, in dem modernen Proletariat tritt zum ersten Male die Religionslosigkeit als Massenerscheinung auf.

Nicht in dem Sinne, daß schon die Mehrzahl bewußt alle Religion von sich abgeschüttelt hätte. Wo nicht einmal das ganze Proletariat sich im politischen Denken ganz von der Tradition befreit hat, kann das noch viel weniger der Fall sein mit dem religiösen Denken, da hier die Bande der Tradition unendlich viel stärker und fester sind.

Doch das ist für uns nicht das wichtigste. Für die Zukunft ist nicht entscheidend, wie die Zustände sind, sondern in welchem Sinne sie sich ändern. Die Aenderungen weisen auf neue Kräfte hin, die im weiteren Wirken das Alte ganz umbilden werden. Nehmen wir als Beispiel den Sozialismus selbst. Als unsere Stimmenzahl hier in Deutschland nur ein paar hunderttausend betrug, war unsere Siegesgewißheit und der Schrecken der herrschenden Klassen um kein Haar geringer, als jetzt nach dem Dreimillionensieg. Damals wie jetzt zeigte die stetige Zunahme unseres Einflusses die werbende Kraft des Sozialismus, die im weiteren Wirken immer mehr die Arbeiterklasse aufrüttelt. Und da wir den Ursprung dieser Kraft kennen: die immer schärfer zutage tretende Unhaltbarkeit des Kapitalismus, so wissen wir auch, daß sie nicht eher zu wirken aufhören wird, als bis der Kapitalismus besiegt und vernichtet ist.

Dürfen wir nun auch etwa das massenhafte Auftreten der Religionslosigkeit im Proletariat für ein Anzeichen davon halten, daß in der Zukunft, in der sozialistischen Gesellschaft, die Religion ganz verschwinden wird? Wir stehen hier vor einer der ehrwürdigsten Erscheinungen der menschlichen Geschichte, die nicht wie der Kapitalismus erst ein Paar Jahrhunderte, sondern die mehrere Jahrtausende alt ist. Schon bei den wildesten und rohesten Völkern finden wir ein religiöses Bedürfnis, das sich bei der Entwickelung der zivilisierten Gesellschaft immer reicher und tiefer gestaltet hat. Ist es da nicht verwegen, das Verschwinden der Religion, die anscheinend so fest und tief in der menschlichen Natur begründet ist, vorauszusagen?

Glücklicherweise brauchen wir uns nicht auf Behauptungen zu beschränken. Wir brauchen nur den Kräften nachzuspüren, welche die jetzige Religionslosigkeit im Proletariat verursachen; dann wird sich von selbst zeigen, ob sie dauernd' und immer stärker wirken werden, oder ob sie nur eine vorübergehende Erscheinung bilden.

Sittlichkeit und Glauben

Doch zuvor ist es nötig, einigen Mißverständnissen zu begegnen, die auf diesem Gebiete so häufig sind, und hier gerade einsetzen könnten, „Wie kommen Sie dazu“, wird vielleicht einer einwenden, „zu sagen, daß die Arbeiter durch den Sozialismus religionslos werden? Im Gegenteil, nirgends findet man soviel Selbstlosigkeit, eine so große Hingebung an ein erhabenes Ideal, so viel Begeisterung und Ueberzeugungstreue, so viel Aufopferungsfreude, als bei dem kämpfenden sozialistischen Proletariat! Mögen sie auch nicht mehr zur Kirche und zur Messe laufen, und nicht in allem mehr den Pfaffen Glauben schenken: in Wirklichkeit sind sie viel religiöser geworden in dem höheren, besseren Sinne des Wortes“.

Zu diesem Einwand müssen wir bemerken, daß er einem Mißverständnis entspringt. Gewiß, es ist vollkommen wahr, daß sich jetzt in der Arbeiterklasse Tugenden entwickeln, die sie in sittlicher Hinsicht hoch über die gläubigen Bekenner der überlieferten Religionen stellen, und die sich in der Zukunft immer stärker entwickeln werden. Aber bei der Frage, die uns hier beschäftigt, verstehen wir unter Religion das, was immer ihr wesentliches Merkmal war: den Glauben an ein übernatürliches Wesen, das vermeintlich die Welt regiert und die Geschicke der Menschen lenkt.

Bisher waren alle hohen und sittlichen Regungen der Menschen mit diesem Glauben eng verknüpft und äußerten sich in dem Gewand der Religion. Das leuchtet sofort ein, wenn man bedenkt, daß in der Religion die ganze Weltanschauung verkörpert war, so daß alles, was über das platte Alltagsleben hinausging, bei ihr Zuflucht suchte; alles, dessen Ursprung unbekannt war, in ihr eine übernatürliche Erklärung suchte und zu finden glaubte. Daß diese von jedem Menschen anerkannten Tugenden und sittlichen Triebe in den Lehren der Religion eine erste Stelle einnehmen, macht jedoch nicht das wesentliche und besondere der Religion aus; dieses Wesentliche ist vielmehr die Begründung, die sie ihnen gibt, die Art und Weise, wie sie sie als Ausflüsse von Gottes Willen erklärt. Wir kennen für die höheren sittlichen Triebe im Proletariat eine natürliche Ursache; wir wissen, daß sie aus seiner besonderen Klassenlage entspringen. Die Aufopferung des Einzelnen für die Gesamtheit, die Selbstlosigkeit, die Solidarität sind die einzigen Mittel, durch die das Proletariat den Kapitalismus besiegen kann; wo es diese Tugenden nicht besitzt, unterliegt es fortwährend schon im Alltagskampfe; daher müssen die Bedürfnisse des Kampfes selbst diese Tugenden immer mehr ausbilden und verstärken.

Hier zeigt sich also ein tiefgehender Gegensatz zwischen unseren Anschauungen und den religiösen, indem wir als natürliche und aus natürlichen Bedingungen zu erklärende Erscheinungen ansehen, was der religiöse Mensch als übernatürlich betrachtet.

Wollte man jetzt über diese Verschiedenheit der Grundanschauungen hinwegsehen und allem, was sonst Tugend, Sittlichkeit und Idealismus heißt, den Namen Religion beilegen, so würde man Verwirrung der Begriffe statt Klarheit schaffen. Nicht um die Zukunft der Sittlichkeit oder der verschiedenen Tugenden handelt es sich in dieser Erörterung – darüber besteht unter Sozialisten keine Meinungsverschiedenheit –, sondern um die Zukunft des Gottesglaubens. In diesem Sinne werden wir fernerhin über das Verhalten von Sozialismus und Religion reden.

Der Einfluss der wirtschaftlichen Verhältnisse

Wenn wir jetzt versuchen, die Ursachen zu finden, welche den religiösen Glauben bestimmen, so lehrt uns schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse hier einen tiefgreifenden Einfluß ausüben müssen. Große gesellschaftliche Umwälzungen, die immer das Auftreten neuer Produktionsweisen bedeuten, werden von dem Emporkommen neuer Religionen begleitet; und die Träger der verschiedenen religiösen Ansichten sind dabei die verschiedenen Gesellschaftsklassen, die miteinander um die Herrschaft kämpfen. So hob sich aus dem Zusammenbruch der antiken Sklavenwirtschaft, jener Grundlage der römischen und griechischen Kultur, das Christentum empor. Im Mittelalter war die katholische Kirche aufs engste mit der ganzen feudalen Gesellschaft verwoben. Mit dem Emporsteigen des Bürgertums und den Anfängen des Kapitalismus tritt aber sofort die Ketzerei auf. Die gewaltigen Klassenkämpfe im 16. Jahrhundert, die mit dem Zusammenbruch des Feudalismus und mit der Herrschaft der Fürsten und der Bourgeoisie endeten, find in der Geschichte als Religionskriege bekannt. Diese neu aufsteigenden Klassen, Bourgeoisie und Fürstentum, finden in den verschiedenen Selten des Protestantismus die für sie passenden Religionsformen, und schließlich treten im 19. Jahrhundert mit der modernen Großindustrie und im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Fortschritt der Naturkenntnis die freireligiösen Ansichten auf.

Wenn wir diese Zusammenhänge betrachten, die, wenn man ihren Einzelheiten nachforscht, noch viel treffender und fester hervortreten, wird uns der Gedanke nicht mehr seltsam erscheinen, daß mit dem Sozialismus eine neue Umwälzung der religiösen Ansichten stattfinden wird, deren Anfänge wir jetzt im sozialistischen Proletariat beobachten können. Mit dieser Analogie ist allerdings noch nichts bewiesen. Dazu muß der Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Religion mehr in seinen Wurzeln aufgedeckt werden.

Wie kommen die Menschen überhaupt dazu, übernatürliche Mächte, die ihr Leben mächtig beeinflussen, anzunehmen? Weil sie die wirklichen, natürlichen Kräfte, die ihr Geschick bestimmen, nicht kennen und begreifen.

Naturalwirtschaft und Natureligion

Betrachten wir als erstes Beispiel den rohen und urwüchsigen Zustand der Wildheit und der Barbarei. Die Verhältnisse, unter denen die Produktion stattfindet, sind hier klar und durchsichtig; jeder produziert für den eignen primitiven Bedarf, oder (auf bestimmten Stufen der Entwicklung) als Mitglied eines kommunistischen Gemeinwesens für den gemeinsamen Bedarf, Streit zwischen persönlichem und Gemeinwohl, Interessengegensatz innerhalb dieser kleinen, örtlich abgesonderten Gemeinschaften besteht nicht. Die Erfolge der Arbeit find vorauszusehen; die Menschen beherrschen ihre Produktion und sind Meister ihres Geschickes – wenigstens soweit die stärkeren Naturkräfte es zulassen. Diese Naturkräfte walten, unbegriffen und ungezügelt, als Meister, bisweilen als Tyrannen, über dieser primitiven Gesellschaft, Bald wohltätig und nötig für den primitiven Ackerbau oder die Viehzucht wie Regen und Sonnenschein oder wie z. B. im alten Ägypten die Nilüberschwemmungen, bald verheerend und verwüstend wie Stürme und Gewitter, müssen die Naturmächte den rohen, unwissenden Menschen immer als höhere geheimnisvolle Mächte vorkommen, deren Gunst sie zu gewinnen, deren Ungunst sie abzuwenden suchen durch Mittel, die diesem Kulturzustande angemessen sind: Geschenke, Bitten, Opfer, Drohungen oder Zaubermittel. So entwickeln sich örtlich beschränkte Naturreligionen, deren Priester zugleich die Träger derjenigen primitiven Kenntnisse von Wetter und Jahreszeiten, von Technik und Arbeitsmethoden sind, die die Produktion nötig macht. Diese Kenntnisse werden in der ehrwürdigen Gestalt religiöser Vorschriften und Zeremonien in den Priesterfamilien und -kasten überliefert und machen diese zu den geistigen Leitern der Produktion.

Warenproduktion und Zivilisation

Mit dem Aufkommen der Warenproduktion ändern sich diese Verhältnisse. Die Menschheit fängt an, sich von dem schweren, launenhaften Druck der Natur frei zu fühlen. Sie ist vor der täglichen unmittelbaren Not einigermaßen sichergestellt und nicht mehr ganz Sklavin der Natur. Die Naturkräfte verlieren für die zivilisierten Menschen nach und nach den dämonischen Charakter; aber an ihre Stelle treten jetzt, mächtiger und verderblicher und zugleich geheimnisvoller, neue Mächte gesellschaftlichen Ursprunges, Und die Weltreligionen, die sich jetzt allmählig ausbilden, finden ihre Wurzel nicht mehr in der Natur, sondern in jenen gesellschaftlichen, ökonomischen Kräften, die aus den Widersprüchen der Warenproduktion herauswachsen.

Die Welt der Warenproduktion ist voller Widersprüche, die Produktion findet nicht mehr für den eigenen Bedarf statt, sondern für den Austausch, Jetzt ist das Produkt nicht mehr einfach ein Gegenstand, den man für den eigenen Bedarf aus dem rohen Naturstoff herstellt und benutzt – nein, es wird jetzt eine Ware, von der Marx sagt: „eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches triviales Ding, Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ und die er an anderer Stelle ein sinnlich-übersinnliches Ding nennt. Es ist zum richtigen Verständnis nötig, diese Grundbegriffe der Nationalökonomie, die erst von Marx zu voller Klarheit gebracht worden sind, mit einigen Worten zu beleuchten. Denn sie bilden die Grundlage unserer ganzen Gesellschaftswissenschaft, den Angelpunkt, um den sich das Verständnis der gesellschaftlichen Verhältnisse und daher auch das Verständnis der menschlichen Ideen dreht.

Die Ware ist neben dem einfachen Gebrauchsgegenstand zugleich auch Träger des Wertes, jener geheimnisvollen Eigenschaft, in der der gesellschaftliche Charakter der individuellen Produktion aus Licht tritt. Jeder Produzent arbeitet selbständig. Dennoch ist die ganze Produktion gesellschaftlich, denn bekanntlich produziert jeder Gegenstände für eines anderen Bedarf, und seine eigenen Gebrauchsgegenstände muß er von anderen beziehen. Also arbeiten alle zusammen für den ganzen gesellschaftlichen Bedarf, Aber nicht bewußt. Jeder glaubt ganz selbständig zu produzieren; der gesellschaftliche Charakter liegt verborgen. Wie kommt dieser jetzt zum Vorschein? Wenn der Produzent sein Produkt gegen andere Produkte austauscht, bemerkt er, daß ein Wertgesetz über diesen Tausch gebietet, das außerhalb seines persönlichen Willens liegt, und das als eine über ihm stehende geheimnisvolle gesellschaftliche Macht auftritt, die bisweilen Armut als Lohn langen, emsigen Schaffens, bisweilen dem nichtsnutzigen Glückskind Reichtum bringt. In diesem Werte und in dem Gesetz, das ihn bestimmt, tritt also die gegenseitige Abhängigkeit der sich unabhängig dünkenden Produzenten, tritt der verborgene gesellschaftliche Charakter der scheinbar individuellen Produktion als eine dingliche Eigenschaft des Produkts zum Vorschein, als eine selbständige, über dem Willen der Menschen stehende Macht. Dies ist der Grund aller jener Widersprüche, welche die Warenproduktion nach und nach entwickelt, „Sobald die Produzenten“, sagt Engels, „ihr Produkt nicht selbst verzehrten, sondern es im Austausch aus der Hand gaben, verloren sie die Herrschaft darüber. Sie wußten nicht mehr, was aus ihn: wurde, und die Möglichkeit war gegeben, daß das Produkt dereinst verwandt werde gegen den Produzenten, zu seiner Ausbeutung und Unterdrückung. Das Produkt beherrscht die Produzenten.“

Man wird dies sofort verstehen, wenn man bedenkt, daß der Wert der Waren bald eine selbständige Gestalt annimmt, die des Geldes, in welcher Gestalt er unbegrenzt aufgehäuft werden kann und als Kapital zu einer neuen gesellschaftlichen Macht wird, die zur Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse, seines eigenen Produzenten dient.

Das gesellschaftliche Zusammenwirken der Einzelproduzenten findet statt in der Gestalt seines geraden Gegenteiles, des heftigen Konkurrenzkampfes der Produzenten unter einander, in dem jeder die anderen niederzutreten und sich selbst zu erheben sucht. Wer darin Erfolg hat, das scheint vom Zufall oder von einem blinden Schicksal abzuhängen. Nicht der Zweck, den der Einzelne beabsichtigt, wird von ihm erreicht, sondern das, was die hinter seinem Rücken wirkenden gesellschaftlichen Produktionskräfte durchsetzen. Der Mensch denkt, aber eine stärkere Macht lenkt; er ist nicht mehr Herr seines eigenen Geschickes.

Zwar sind es im Grunde nur die eignen menschlichen Triebe und Leidenschaften, welche diesen Mächten als Werkzeug dienen; der Selbsterhaltungstrieb in dem Kampfe ums Dasein zu allererst. Aber weil die gesellschaftlichen Kräfte, welche diese Triebe bestimmen, den Menschen selbst nicht bekannt und bewußt und weil sie von ihrem Willen unabhängig sind, wirken sie ganz wie blinde Naturkräfte.

Und wie die Naturkräfte, so sind auch diese gesellschaftlichen Kräfte bald heilsam, bald verderbenbringend. Gutes bringen sie, trotz, oder gar mittelst der bösesten Absichten der Menschen – sie sind in der Tat jene Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft –, und umgekehrt bringen sie die fürchterlichsten Uebel trotz der besten Absichten der Menschen, Sie haben zu allererst Ordnung und Gesetz geschaffen, Kultur und Wissenschaft aufkommen lassen; sie haben die Welt aus Barbarei und Roheit zur Zivilisation emporgehoben, den menschlichen Geist zum Forschen erweckt, die Wissenschaft vorwärts getrieben zur Aufdeckung der Geheimnisse der Naturkräfte; sie haben das Antlitz der Erde völlig umgestaltet.

Jedoch viel tiefer und nachhaltiger ist der Eindruck, den die großen sozialen Uebel unbekannten Ursprungs auf den menschlichen Geist machen. Die Warenproduktion erzeugt Klassengegensätze, und daraus entspringen oft grausame Klassenkämpfe, in denen die Menschen gleich Tiger einander zerreißen, ohne daß sie selbst begreifen, warum, denn den wirklichen Grund dieser Kämpfe erkennen sie kaum. Der Interessengegensatz führt sogar in Zeiten, wo jeder den Krieg verabscheut, zu mörderischen Kriegen. Elend, Haß und Verbrechen wachsen um so üppiger auf, je weiter die Zivilisation fortschreitet. Statt der früheren Notstände aus Mißernten kommen jetzt Hungersnöte sozialen Ursprunges: die wirtschaftlichen Krisen. Trotz des Fortschrittes der Medizin treten noch immer verheerende Seuchen auf als Folgen wirtschaftlichen Elends. Nichts von alledem wird von den Menschen absichtlich herbeigeführt; fast jederman verabscheut es und möchte es ganz verschwinden lassen. Dennoch brechen solche Ereignisse mit elementarer Gewalt herein, nicht durch natürliche, sondern durch gesellschaftliche Ursachen erzeugt. Und da ihre Ursache unbekannt ist, sieht man auch nicht, wie die Welt je von ihnen zu erlösen ist. Und der Mensch, der das Bewußtsein nicht ertragen kann, daß die Welt so böse sei, muß eine Erlösung anderswo, aus übernatürlichem Wege oder in einer anderen Welt, suchen.

Denken wir uns einen Menschen, der vorurteilslos, in unserem Fall namentlich ohne Religion, aber auch ohne die Gesellschaftswissmschaft, die wir jetzt besitzen, erzogen worden ist, und der diesen gesellschaftlichen Erscheinungen als aufmerksamer Beobachter gegenübertritt, was für einen Eindruck muß er gewinnen? Zweifellos den, baß eine unbekannte, übermenschliche Macht die Geschicke der Welt regiert und nach ihren unergründlichen Ratschlüssen lenkt.

So ist es leicht verständlich, wie unter der Herrschaft der Warenproduktion – d, h. also während des Zeitalters der Zivilisation – die Unbekanntschaft mit dem Ursprünge der gesellschaftlichen Erscheinungen mit Notwendigkeit zu dem Glauben an einen alles regierenden Gott führen muß.

Bei den großen wirtschaftlichen Umwälzungen, die sich in dem Zeitalter der Zivilisation vollzogen haben, hat dieser Glaube selbstverständlich die verschiedensten Formen angenommen. Der Raum gestattet nicht, an diesen vielen Formen den Zusammenhang mit der Wirtschaftsordnung im einzelnen nachzuweisen, wofür namentlich das Reformationszeitalter zahllose Beispiele bietet. Außerdem ist es weniger nötig, da in mehreren Schriften aus unserer sozialistischen Literatur dieser Zusammenhang beleuchtet worden ist, z. B, in Kautskys „Vorläufer des Sozialismus“, und „Thomas More“, und in Mehrings „Gustav Adolf“. Wir müssen daher jeden, der sich darüber ausführlicher belehren will, auf das Studium dieser Werke verweisen.

Die sozialistische Produktionsweise

Jetzt nähert sich der Kapitalismus, diese höchste und letzte Form der Warenproduktion, seinem Untergang. Er ist die letzte auf Klassengegensätzen beruhende Gesellschaftsform, in der die Widersprüche der Warenproduktion zur höchsten Ausbildung gelangen. Indem mit dem Siege des Sozialismus die Produktion gesellschaftlich organisiert wird, hören diese Widersprüche auf. Kein Gegensatz mehr zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion; sie erscheint als das, was sie ist: gemeinschaftliche Produktion für den gemeinschaftlichen Bedarf. In dem gesellschaftlichen Zusammenarbeiten wird die Produktion wieder einfach und übersichtlich, genau wie die primitive Produktion für den eignen Bedarf, doch jetzt auf höherer Stufenleiter; dieses „eigen“ bezieht sich nicht mehr auf die Person oder auf die Familie, sondern auf die Gesellschaft als ein Ganzes, Der Kampf ums Dasein wird nicht mehr persönlich und gegeneinander, sondern von allen gemeinschaftlich gegen die Natur geführt. Der Tauschwert verschwindet, die Ware wird zu einem trivialen Gebrauchsgegenstand, dem nichts anhaftet als seine Nützlichkeit. Das gegenseitige Verhältnis der Menschen wird nicht mehr vermittelt durch den Wert, der als Geld zu des Menschen Tyrannen wird; ihr gegenseitiges Verhältnis als Mitarbeiter in einem gesellschaftlichen Arbeitsprozeß tritt unverhüllt und klar zutage. Aus der Produktion entspringen keine unbegriffenen Elend und Verderben bringenden Machte mehr, welche die Absichten des Menschen durchkreuzen. Er wird Meister seines Geschicks und vermag bei der bewußt geregelten Arbeit den Erfolg seines Schaffens vorherzubestimmen. Das unbegriffene Elend hört auf.

Denn nicht nur die sozialen Kräfte, sondern auch die Naturkräfte sind jetzt gefesselt und zu Dienern der Menschheit gemacht worden. Der Sozialismus wird die Fruchte der gewaltigen Entwicklung der Naturwissenschaft und der Technik unter dem Kapitalismus einheimsen. Darin besteht das Verdienst des Kapitalismus, daß er nach jahrhundertelangem, unmerklich langsamem Fortschritt in schnellem Laufe, in ein paar Jahrhunderten, den Menschen die Natur kennen, sie sich unterwerfen und ihre Kräfte sich dienstbar machen lehrte zur Vergrößerung der Produktivität, des Ertrages der Arbeit. Dadurch erst ist es jetzt möglich geworden, mit geringer Mühe Ueberfluß für alle zu produzieren; mit anderen Worten: dadurch ist erst der Sozialismus möglich geworden. Zwar hat die kapitalistische Aneignung bisher die volle Anwendung jener Wissenschaft verhindert; doch ist diese Schranke einmal gefallen, so steht ihrer bewußten zweckmäßigen Anwendung nichts mehr im Wege. Im Gegensatz zu dem urwüchsigen Kommunismus der Armut und der Sklaverei stehen wir in dem neuen Kommunismus der Natur als ihre Meister gegenüber, die über alle ihre Schätze nach Belieben verfügen können. Die Geister, die früher die Menschen ängstigten und beherrschten, sind jetzt gebändigt und zu ihren Dienern geworden.

Wo bleibt jetzt noch Raum für den Glauben an übernatürliche Mächte?

Jetzt können wir auch antworten auf die Frage, ob es nicht verwegen war, das Verschwinden einer so ehrwürdigen, Jahrtausende alten Institution, wie die Religion es ist, vorauszusagen. Nein! Eine so große tiefgehende ökonomische Umwälzung wie die bevorstehende hat die Welt noch nie erlebt und sie muß notwendig eine ebenso tiefgehende geistige Revolution mit sich bringen. „Mit dieser Umwälzung“, sagte Marx, „schließt die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“. Die Vorgeschichte! Alle bisherige Geschichte, sowohl die der Zivilisation als auch die des Kapitalismus, ist nur Vorgeschichte; der Mensch ist noch nicht eigentlich Mensch; erst mit dem Sozialismus wird er völlig Mensch und Herr der Erde; dann erst macht er bewußt seine Geschichte selbst; bisher erlebte er sie nur. Oder hören wir Engels: „Der Kampf ums Einzeldarsein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch in gewissem Sinne endgiltig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche ... Die objektiven fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, treten unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen; erst von da an werden die von ihnen in Bewegung gesetzten gesellschaftlichen Ursachen vorwiegend und in stets steigendem Maße auch die von ihnen gewollten Wirkungen haben Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“.

Bisher mußte der Mensch wie ein Tier um seine Existenz ringen; er war immerfort der Sklave seiner materiellen Bedürfnisse, Bisher wurde sein Geist, wie durch ein bleiernes Gewicht, durch Not und Sorge gedrückt, und mußte sich immerfort der Produktion des Lebensunterhalts zuwenden. Dadurch wurde der Mensch daran gehindert, sich frei zu entfalten und die Welt mit klarem, verständnisvollem Blick zu betrachten. Keiner von uns vermag nur im Entferntesten sich eine Vorstellung davon zu machen, wie hoch das Fortfallen dieser Sorge das kommende Geschlecht in körperlicher und geistiger, in intellektueller und moralischer Hinsicht über das jetzige erheben wird. Denn wir kennen in der ganzen Geschichte nur ein ringendes, vor unbekannten Schicksalen zurückbebendes, schwaches Geschlecht, das dem elementaren Selbsterhaltungstrieb wie ein Tier unterlegen ist. An diesen Menschen bildeten die Bourgeoisschriftsteller und -denker ihre Auffassungen über die ewig-menschliche Natur; doch was ihnen, und oft uns sogar noch, als ewig in dieser Natur begründet erscheint, wird in der Zeit des Sozialismus spurlos verschwinden wie ein Nachtgespenst im frohen Morgensonnenschein.

Ist es jetzt noch verwegen, oder ist es jetzt nicht vielmehr eine einfache, selbstverständliche Schlußfolgerung, wenn wir sagen, daß jenes freie, herrliche, goldene Geschlecht, das dann erstehen wirb, nicht mehr des Aberglaubens bedarf, der während der ganzen zivilisierten Periode notwendig und unvermeidlich war?

Weltanschauung des Proletariats

Kehren wir jetzt nach diesem Ausblick in die Vergangenheit und in die Zukunft zu der Jetztzeit zurück, wo das Proletariat damit beschäftigt ist, diese weltbefreiende Revolution durchzuführen und den Kapitalismus niederzukämpfen. Obgleich inmitten dieser Produktionsordnung lebend, steht es doch zugleich schon mit einem Fuße in der Zukunft; oder eigentlich nicht mit einem Fuße, sondern mit dem Kopfe, mit seinem Denken und Wissen. Indem es die sozialistische Zukunft Voraussicht und sich in Gedanken darein zu versetzen weiß, wachsen in ihm schon ähnliche Auffassungen wie diejenigen, die sich dann vollauf entwickeln werden. Dieselbe Wissenschaft, die das Proletariat in der Zukunft in den Stand setzen wird, die verheerenden Produktionskräfte zu zügeln und zu bändigen, lehrt es jetzt schon diese Kräfte und den ganzen Kapitalismus kennen und begreifen und hebt dadurch ihre geistbetörende Wirkung auf. Wem, die medizinische Wissenschaft, um ein anderes Beispiel zu nennen, die natürliche Ursache einer Seuche erkannt hat, hat sie bereits den ersten Schritt zu ihrer Bekämpfung gemacht; aber bevor dies gelungen ist, während die Krankheit noch furchtbar wütet, wirkt diese Erkenntnis doch schon dahin, sie nicht mehr als eine übernatürliche Plage, z. B. als ein Strafgericht Gottes, zu betrachten. Dies ist die geistbefreiende Wirkung der Wissenschaft.

So stehen auch die sozialistischen Arbeiter dem Kapitalismus gegenüber. Obgleich er gerade die Arbeiterklasse mit schweren Leiden und mit großem Elend trifft, wird diese dadurch nicht zu dem Glauben an eine überirdische Macht gebracht. Sie versteht, woher all dieses Leiden kommt: aus den natürlichen Bedingungen einer Produktionsweise, die als Glied einer langen Entwicklungskette unvermeidlich und notwendig ist, wenn auch nur zeitweilig notwendig und die durch den aus ihr selbst herauswachsenden Widerstand und durch die Organisation der Arbeiterklasse von einer folgenden Entwicklungsstufe ersetzt werden wird. Die Arbeiterklasse sieht also den Weg, wie sie sich selbst erlösen kann und braucht nicht Erlösung von einer höheren Macht zu erstehen. Sie weiß, daß diese Erlösung ein gewaltiges Stück Arbeit sein wird, doch sie kennt auch ihre Kräfte, und weiß, daß sie es leisten wird.

So erwächst und lebt in dem kämpfenden Proletariat ein Geistes- und Gemütszustand, bei dem für Religion kein Raum mehr übrig bleibt. Fassen wir also die Ursachen der Religionslosigkeit des Proletariats zusammen, so finden wir sie in der ganzen proletarischen Weltanschauung, die der der bürgerlichen Klasse völlig entgegengesetzt ist, begründet. Während diese das Elend und die Uebel der heutigen Gesellschaft als unvermeidlich und natürlich ansehen, weil sie deren Ursache nicht kennen, haben wir die wissenschaftliche Sicherheit, daß sie nur einen vorübergehenden Instand bilden und in absehbarer Zeit durch die Organisation der gesellschaftlichen Produktion überwunden werden können. Sie betrachten den jetzigen Zustand, wo jeder Mensch in seinen Mitmenschen Feinde, Konkurrenten sieht, die ihn vielleicht seines Brotes berauben werden, wo im tierischen Kampf ums nackte Dasein alles Schwache zertreten wird, höchstens durch ein bischen Philanthropie übertüncht, als das natürliche und ewige Verhältnis der Menschen. Wir dagegen empfinden diesen Zustand als eine unnatürliche Barbarei, die bald Raum machen soll und wird für eine Welt, wo Brüderlichkeit, Freundseligkeit und friedliches Zusammenarbeiten gerade so notwendig aus den natürlichen Wirtschaftsverhältnissen entspringen wird, wie die jetzige Feindschaft aus den jetzigen Verhältnissen. So steht unsere Weltanschauung der bürgerlichen gegenüber, wie die Kultur der Barbarei gegenüber steht.

Doch dieser hohe Kulturstandpunkt, den man die Gefühlsseite unserer Weltanschauung nennen könnte, ist nicht ihr bedeutendster Zug. Von einer besseren brüderlichen Zukunftswelt, wo kein roher Kampf ums Dasein mehr herrschen wird, haben auch viele geträumt, ohne daß sie unsere Weltanschauung kannten. Nicht darin besteht die hervorragendste Eigentümlichkeit der proletarischen Lebens- und Kampfesanschauungen, daß wir eine sozialistische Gesellschaft wünschen und wollen; sondern darin, daß wir mit wissenschaftlicher Gewißheit ihr Herannahen wissen und vorhersehen. Nicht der Wunsch, sondern die Wissenschaft, daß und in welcher Weise der Wunsch erfüllt werden wird, ist das wertvollste in unseren Ansichten. Ohne diese Wissenschaft wäre jener hohe Kulturstandpunkt nur wertlose Träumerei und die Entrüstung über den Kapitalismus eitle Sittlichkeitsgeberde; nur durch diese Wissenschaft gewinnt sie Realität und mißt einen vorhergehenden tieferen Kulturzustand mit dem Maße eines nachfolgenden höheren. Darum liegt der Hauptzug der proletarischen Weltanschauung in ihrem wissenschaftlichen Charakter, den man ihre intellektuelle Seite nennen könnte.

Worin besteht diese Wissenschaft? Es sind zwei Disziplinen, die wir beide Karl Marx verdanken, und die zusammen unser Endziel begründen: die politische Ökonomie und der historische Materialismus. Die politische Ökonomie, die Wert- und Mehrwertlehre, deckt den Mechanismus der heutigen (und damit zugleich jeder früheren) Wirtschaftsordnung auf; sie erklärt den Ursprung und die Bedeutung der wirtschaftlichen Klassen und läßt uns die große wirtschaftliche Umwälzung begreifen, die wir jetzt erleben. Der historische Materialismus lehrt uns die Gedanken und Ansichten der Menschen als Ausflüsse der materiellen, namentlich der wirtschaftlichen Verhältnisse kennen. Indem er unsere eigenen sozialistischen Ansichten, wie auch die entgegengesetzten Ansichten anderer Klassen aus den wirtschaftlichen Verhältnissen der Jetztzeit entwickelt, deckt er das Wesen des jetzigen Klassenkampfes auf und erklärt auf diese Weise auch die früheren Klassenkämpfe. In dem Lichte dieser beiden Wissenschaften erscheint uns die ganze Geschichte der Menschheit – in der die Bourgeoisie nur zusammenhanglose Tatsachen, Zufall und Wunder sieht – als eine natürliche EntWickelung aus tierischer Roheit bis zur höchsten Kultur, als eine Entwicklung, die aus ihrer materiellen Grundlage, der stetigen Entwicklung der Produktionskräfte, vollständig zu begreifen und zu erklären ist. Im Gegensatz zur Bourgeoisie, der dazu die Wissenschaft fehlte, hat das Proletariat zuerst das Wesen der Gesellschaft völlig wissenschaftlich, aus natürlichen Gründen begriffen, ohne daß es dabei irgendwann und irgendwo das Wunderbare, Unerklärliche zu Hilfe zu nehmen brauchte. Geradeso hat die Bourgeoisie die Natur wissenschaftlich begriffen. Aber ihr Mangel an einer genügenden Gesellschaftswissenschaft hinderte sie daran, die ganze Welt natürlich aufzufassen. Erst das Proletariat ist imstande, eine Weltanschauung zu bilden, welche die ganze Welt, Natur und Gesellschaft, auf natürliche Weise auffaßt.

Eine solche Weltanschauung wird oft eine materialistische genannt. Sie steht in vollkommenen Gegensatz zu der Religion, die ja selbst nichts anderes ist, als eine übernatürliche Auffassung der Welt, Kehren wir jetzt zurück zu der anfangs aufgeworfenen Frage, ob die Ursachen der jetzigen Religionslosigkeit des Proletariats auch in der Zukunft bestehen bleiben, so finden wir, daß die wissenschaftliche Einsicht nicht nur in der Zukunft sich immer besser und tiefer entwickeln wird, sondern daß noch neue Ursachen hinzukommen werden: die praktische Anwendung dieser Wissenschaft, die reale Beseitigung alles, Elends, Ursachen, die wir jetzt nur erst im Geiste vor uns sehen.

Der bürgerliche Materialismus und sein Ende

Zum richtigen Verständnis des Vorigen und um Mißverständnissen vorzubeugen, müssen wir die jetzige Religionslosigkeit des Proletariats noch kurz mit dem Materialismus vergleichen, der im vorigen Jahrhundert in der liberalen Bourgeoisie einige Bedeutung gewonnen hatte. Dieser stützte sich auf die außerordentlichen Fortschritte der Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, die dem Menschen früher nie geahnte Ausblicke in die Wirkungen und Zusammenhänge der Natur gestatteten; daher auch der Name naturwissenschaftlicher Materialismus. Im Gegensatz zu den Theologen und den einfachen Leuten, die überall in der Natur den Finger Gottes sehen, der alles nach seinem Belieben dirigiert, fand die Wissenschaft überall strenge, ausnahmslose Gesetze, nur Materie und Kraft. Mit diesen einfachen Begriffen und Gesetzen ließ sich die ganze Welt als ein erhabener Mechanismus begreifen, der sich von Ewigkeit her nach diesen Gesetzen bewegte. Diese neuen Erkenntnisse suchten die liberalen Aufklärer – die intelligentesten und kampflustigsten Schichten der damaligen Bourgeoisie – im Volke zu verbreiten.(1) Diese Aufklärer sahen mit Verdruß, daß die großen Volksmassen sich von den Pfaffen noch stets die dümmsten und von der Wissenschaft längst widerlegten Märchen ausbinden ließen und darum auch den konservativen, bourgeoisiefeindlichen Klassen willig folgten. Sie hofften, durch Verbreitung dieses Wissens die Massen von den Pfaffen und den feudalen Herren loszureißen und sie zu Anhängern der liberalen Bildung, der liberalen Freiheit und der liberalen Bourgeoisie zu machen.

Wie bekannt, ist dieser Versuch nicht gelungen. Die Ursache war die Gebrechlichkeit dieser bürgerlich-materialistischen Weltanschauung selbst. Sie glaubte, daß nur Mangel an Bildung die Wurzel der Religion bildete. So glauben auch jetzt noch viele Liberale, daß eine Reform des Unterrichts genügen würde, um dm Menschen eine andere Weltanschauung Zu geben. Wir wissen, daß dies nur ein Wahn ist, und so hohe Bedeutung wir Unterricht und Bildung beilegen, so liegt doch, wie wir oben schon ausführten, die tiefste Wurzel der Weltanschauung und der Religion in den ökonomischen Verhältnissen. Das zeigte sich auch bald an dem Schicksal dieses bürgerlichen Materialismus selbst.

Die Gebrechlichkeit und Beschränktheit des bürgerlichen Materialismus bestand darin, daß ihm jede Spur der Gesellschaftswissenschaft fehlte. Diese ist ja auch eine speziell proletarische Wissenschaft. Was des Menschen Geist bewegte und seine Ansichten bestimmte, wußten ihre Anhänger nicht, denn mit der Wahrheit, daß Gedanken aus dem materiellen Gehirn kommen, wissen wir noch herzlich wenig. Eben durch diesen Mangel an Einsicht in das Wesen der Gesellschaft konnten sie zu dem Glauben verführt werden, daß mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung das Ziel der Entwicklung erreicht sei und daß die übrig bleibenden Mängel und Schäden nach und nach durch die freie Konkurrenz verschwinden würden. Diese Leute konnten Aufklärer sein und glauben, alle Welträtsel lösen zu können, d. h. sie konnten religionslos sein, weil sie in dem falschen Glauben lebten, daß sie die Mängel des praktischen Lebens aufheben könnten, ohne die wirtschaftliche Grundlage ihrer Klasse anzutasten.

Mit dem Austreten einer selbständigen proletarischen Klassenbewegung schwindet dieser holde Traum. Jetzt kommt den Deutern der Bourgeoisie zum Bewußtsein, daß die Gesellschaft noch etwas ganz anderes ist, und daß die Zukunft noch etwas ganz anderes in ihrem Schoße bergen könnte, als sie früher vermuteten. Sie begreifen ihre Welt nicht mehr; wo sie lauter Harmonie blühen sahen, erhebt sich vor ihren Augen die tausendköpfige „Hydra der Revolution“, die stürmende Gewalt der ungezählten Massen des niederen Volkes, die den „Irrlehren“ des Sozialismus lauschend, die bürgerliche Ordnung und Kultur – in ihren Augen also alle Ordnung und Kultur überhaupt – zu vernichten droht. Jetzt brechen in der Bourgeoisie immer stärker die reaktionären Tendenzen hervor und zwar nicht nur in der Politik, sondern auf allen Gebieten des geistigen Lebens, ihre Gelehrten fangen an, die Schwächen des Materialismus nachzuweisen; „die Grenzen der Erkenntnis“ und „die Welträtsel“ bilden beliebte Themen der Erörterung; in Kunst und Philosophie tritt der Mystizismus auf. Hier liegt also der Grund, weshalb die moderne Bourgeoisie, obgleich gebildet und vor materieller Not sichergestellt, dennoch wieder fromm und religiös wird. Nicht allein, weil sie meint, daß dem Volke die Religion erhalten bleiben muß, damit es gehorsam und zufrieden sei – nein, diese neue Religiosität unter den besitzenden Klassen ist echt und in den ökonomischen Verhältnissen begründet. Sie stammt daher, daß die Gesellschaft ihnen ein unbegriffenes, geheimnisvolles Gebiet ist, wo sie verderbenbringende Mächte aufkommen sehen, die zugleich unwiderstehlich und unverständlich sind.

Diese Darlegungen werden genügen, um zu zeigen, daß der alte bürgerliche Materialismus und die neue bürgerliche Religiosität beide von der proletarischen Weltanschauung völlig verschieden sind und ihr schnurstracks gegenüberstehen. Beide leiden an der nämlichen Beschränktheit: au dem Mangel an wissenschaftlicher Einsicht in die Gesellschaftserscheinungen.

Sympathisch mußte uns der Materialismus erscheinen, weil er seiner eigenen Beschränktheit nicht achtend, keck und voller Wagemut das Banner des Fortschrittes emporhob; aber er paßte zu wenig in die Bourgeoisie, wie sie ward und ist jetzt völlig tot.

Im modernen Mystizismus der jetzigen reaktionären Bourgeoisie verglichen mit der materialistischen Weltanschauung des Proletariats, tritt der Gegensatz dieser beiden Klassen während der Periode ihres Kampfes um die Herrschaft viel klarer zutage. Dort: eine Abkehr von der Wirklichkeit in verschlossener Stube, ein stilles Sichversenken in philosophische und mystische Schwärmerei, wie Nachteulen die Augen verschließend vor dem blendenden Lichte der aufgehenden Sonne; hier bei uns die Wirklichkeit, die frische Luft, die in vollen Zügen genossen wird, während das jubelnd begrüßte Licht des kommenden Tages alle Zusammenhänge der Welt hinter uns und der Welt vor uns klar und durchsichtig vor unseren Augen ausbreitet.

Praktische Konsequenzen

Es bleibt jetzt zum Schlusse noch übrig, einige praktische Konsequenzen aus dem hier Angeführten zu ziehen.

Der heutige Kampf der Arbeiterklasse hat vor allen früheren Klassenkämpfen den großen Vorzug, daß wir unser Ziel, die Umänderung der Produktionsweise, klar vor uns sehen, ohne es in das trügerische Gewand religiöser, juridischer oder sonstiger ideologischer Forderungen zu kleiden: eine Folge unserer jetzigen ökonomischen Kenntnisse.

Zur Zeit der Reformation war die Denkweise vorwiegend religiös und die Forderungen und die Ziele der damaligen Klassenkämpfe traten daher in der religiösen Gestalt von Glaubensartikeln auf. Die katholische Kirche des Mittelalters war eine mächtige ökonomische Institution, die sehr bedeutende wirtschaftliche Funktionen erfüllte, jedoch nach und nach, wie jede herrschende Klasse, im Laufe der Entwicklung zu einer vorwiegend ausbeutenden Institution geworden war. Die Klassen, die mit ihr in Kampf gerieten, mußten das in der Form tun, daß sie die religiöse Autorität des Katholizismus bekämpften und neue religiöse Ansichten, verschieden für die verschiedenen Klassen, befürworteten. Die Fürsten unterstützten den Lutheranismus, der die Aufhebung der Kirchengüter forderte und die Seligkeit von dem Glauben an alles, was die fürstendienenden Pfaffen lehrten, abhängig machte; die fortschrittliche Bourgeoisie in Holland und Frankreich befürwortete im Kampfe mit ihren Fürsten den demokratischen Kalvinismus; die rebellischen Bauern forderten die Wiederherstellung der urchristlichen Gleichheit. Die neu entstehenden Kirchen waren wesentlich Kampfesorganisationen, die in religiöser Gestalt den Klassenkampf führten, gleich wie jetzt die politischen Parteien. Nachher sind bei der fortschreitenden ökonomischen Entwicklung diese kirchlichen Organisationen zu toten Hülsen versteinert, innerhalb deren zahlreiche neue Klassengegensätze entstanden sind.

An diesem Beispiel können wir sehen, wie die Menschen einmal glauben konnten, sie kämpften für neue religiöse Anschauungen, während es in Wirklichkeit um ökonomische Interessen ging – die sie auch durchsetzten, jedoch nicht ohne viel Mühe auf Nebenziele zugleich zu verwenden. Setzen wir nun einen Augenblick den Fall, wir wären auch heute noch nicht über jenen Standpunkt hinausgekommen, wie würden wir dann handeln? Wir würden alle unsere Ansichten über die Zukunft, den Kommunismus und die Freiheit, über Gott und die Welt zu einem Ganzen von Glaubensartikeln zusammenfassen, und dafür dm Kampf aufnehmen wider allen anderen Glauben.

Das tun wir jedoch nicht, denn wir wissen, daß es sich in allen großen weltgeschichtlichen Umwälzungen umwirtschaftliche Interessen handelte, daß das Ziel immer eine wirtschaftliche Umgestaltung der Gesellschaft war, und daß es jetzt wieder so ist. Daher können wir uns jetzt von jenem Wahn freimachen; indem wir unsere Kräfte nur auf dieses wirklich zu erreichende Ziel richten, können wir uns vor Kraftvergeudung und vor dem überflüssigen und gefährlichen Verfolgen von Nebenzielen hüten.

Dieses ist der Grund, warum in unserer Partei die Religion als Privatsache gilt. Das heißt, daß wir von keinem unserer Kampfesgenossen das Bekenntnis zu bestimmten Ansichten auf diesem Gebiete fordern, ebensowenig wie wir fordern, daß sie z. B. ihren Glauben an die Marx'sche Werttheorie bekunden sollen, obgleich wir alle die hohe Bedeutung dieser Theorie für unsere Bewegung unumwunden anerkennen. Man wird jetzt verstehen, warum dieser Standpunkt keine Schwäche, nicht eine aus opportunistischen Gründen übertriebene Toleranz bedeutet, sondern gerade ein Zeichen unserer Kraft ist, ein Ausfluß davon, daß wir unser Ziel richtig und unverhüllt vor uns sehen. Weil unser Ziel nur ist: den Kapitalismus niederzuwerfen und durch den Sozialismus zu ersetzen, können wir für unsre Kampfgenossen auch keine andre Bedingung stellen, als daß sie an der Erreichung dieses Zieles mitarbeiten sollen. Und wenn unsre Erörterungen uns zu dem Schlusse geführt haben, daß vor dem freien Denken der Zukunft der Gottesglaube nicht Stand halten wird, so entspringt dies nicht aus irgend einer Feindseligkeit gegen die Religion, die wir gerade durch unseren historisch-materialistischen Standpunkt als Zeitlich notwendige Erscheinung zu begreifen und zu würdigen wissen.

Unsere wissenschaftlichen Ansichten, wie sie hier auseinandergesetzt wurden, zeigen uns, daß die Religionslosigkeit des kämpfenden Proletariats ein Ausfluß der Geistesstimmung ist, die das verständnisvolle Teilnehmen au dem jetzigen Emanzipationskampf bei uns erzeugt, eine Folge desjenigen Wissens, das aus theoretischer Belehrung und aus praktischer Erfahrung zugleich erworben wird. Daher kommt sie erst nach und nach als Folge längeren Mitlebens und Mitarbeitens in diesem Kampf. Daher muß der Kreis der tätigen Mitkämpfer für den Sozialismus immer weit größer sein, als der Kreis derjenigen, die sich über alle Konsequenzen ihrer theoretischen Ansichten ganz klar geworden sind. Mau soll dabei berücksichtigen, daß der größte Teil des Proletariats in zu elender Lage dahinleben, körperlich und geistig zu schwer leiden muß, um sich geistig genügend weit emporarbeiten zu können. Daher kann die geistesbefreiende Wirkung unserer Wissenschaft erst voll zur Geltung kommen, wenn die materielle Not beseitigt ist, d. h. in der sozialistischen Gesellschaft selbst. Umsomehr ist es aber nötig, daß unter den im Kampfe für den Sozialismus vorangehenden Arbeitern über eine so wichtige Frage die größtmögliche Klarheit verbreitet wird. Nicht nur weil theoretische Klarheit im Interesse der praktischen Bewegung liegt, sondern auch noch darum, weil solche allgemein gehaltenen Erörterungen geeignet sind, den Arbeitern die Großartigkeit und Erhabenheit ihrer Sache in glänzendem Lichte zu zeigen, und dadurch ihren Geist über die schwere Alltagsarbeit hinaus zu erheben und ihre Kampfesfreudigkeit zu erhöhen.

(1906)

Anmerkung des Verfassers:
(1) Jeder kennt wohl die ziemlich überholten Schriften von L. Büchner.

Quelle: Religion und Sozialismus. Ein Vortrag. (1906) Hrsgb. Bremer Bildungsausschuß des Gewerkschaftskartells. HTML-Markierung und Transkription: J.L. Wilm für das Marxists’ Internet Archive.

Originaltext: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/pannekoek/1906/religion/vortrag.htm


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