Mujeres Libres - Sexuelle Probleme und die Revolution
Das wirkliche Ende des Problems
Wir möchten nicht über die Materie theoretisieren. Eine Theoretisierung der Sexualität erscheint uns bis heute ebenso unnütz wie steril. Treu unserer Losung, den täglichen Pulsschlag und das tägliche Streben einzufangen, wollen wir nicht mehr, als hier ein merkwürdiges Phänomen aufzuzeigen: die unterschiedliche Reaktionsweise von Mann und Frau gegenüber den sexuellen Fragen während des revolutionären Prozesses.
Schon vor der Bewegung vom Juli begann sich vor allem in den Arbeiterkreisen eine intensive Kampagne für die Sexualerziehung zu entwickeln, wie das die Urheber selbst nannten. Es wurden auch die Reden veröffentlicht, die in den meisten Fällen von wirklichen Laien gehalten worden waren, wenn sie nicht sogar von den Zwangsvorstellungen des Redners geprägt waren. In der Mehrzahl der Fälle wurden dadurch nicht die gesetzten Ziele erreicht.
Bei dieser ganzen Kampagne wurde ein Konzept gründlich durcheinander gebracht, das innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nicht über reines Vorhaben hinauskommen konnte: die sexuelle Befreiung der Frau. Dieses Konzept hatte nur bei einer beschränkten Zahl von Individuen zu einer Bewußtwerdung führen können.
Der stürmische Wind des Juli brachte die alte Wahrheit an den Tag: daß alle Probleme des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft nur eine einzige Lösung haben können, die soziale Revolution.
Durch die soziale Revolution lösen sich kollektiv die ökonomischen, politischen und sexuellen Probleme; ein beängstigendes Dreieck, an dessen Ecken sich die vergangenen Generationen den Kopf zerbrochen haben.
Mit dem Juli wurde damit aufgehört, die Probleme zu vereinzeln. Sie wurden vielmehr alle dem gemeinsamen Nenner - der sozialen Frage - untergeordnet, die die Arbeiter lösen wollen. Dabei werden all diejenigen nicht beachtet, die den Lauf der Dinge stören wollen, indem sie betont und herausfordernd an die erste Stelle nur einen einzigen Bereich setzen wollen: den politischen.
Die politischen und sexuellen Probleme können nur zusammen mit den ökonomischen Problemen gelöst werden.
Wer könnte bestreiten, daß die sexuelle Versklavung der Frau nicht von Anfang an und durch die Jahrhunderte hindurch die Folge der ökonomischen Probleme gewesen wäre?
Beobachtungen am Rande der Revolution
Mehr als einmal hat man uns in diesem Zusammenhang Fragen gestellt und uns aufgefordert, sie in unserer Zeitschrift zu behandeln. Wir haben es aber vorgezogen, bescheiden zu schweigen, Beobachtungen zu notieren und den geeigneten Augenblick abzuwarten.
Eines Tages brachten wir die Idee der Befreiungszentren der Prostitution ("Liberatorios de Prostitucion") auf, nicht als Lösung des Problems, sondern als einen Notbehelf für eine ihrer schwerwiegendsten Erscheinungsformen. Die Fortsetzung des Krieges und der revolutionäre Prozeß haben die Bedeutung unserer Initiative herabgesetzt und uns zu besinnlichen Beobachterinnen der Ereignisse gemacht.
Der Krieg hat die wirtschaftliche Situation der Frau verschärft und den Graben zwischen den Geschlechtern so vertieft, wie er gestern zwischen den Klassen klaffte. Eine unendliche Anzahl von Frauen, die im ausschließlichen Dienst der Bourgeoisie arbeiteten - "Dienstmädchen", Modistinnen, Hutmacherinnen etc. und alle jene Berufe, die man gewöhnlich als die dem Geschlecht eigene bezeichnet -, standen plötzlich auf der Straße. Sie waren nicht darauf vorbereitet, andere Aktivitäten zu ergreifen, um sich Mittel zum Überleben zu verschaffen. Obwohl die männliche Jugend auf der einen Seite kein Verhältnis zum natürlichen Reiz und zu sexueller Spannung mehr hat, womit sie leben muß und wodurch ihre Fähigkeit zur Sinnlichkeit zerstört wird, hat sie auf der anderen Seite genügend Geld. Und in diesem Überfluß und in jener Armut, verstärkt durch die anderen erwähnten Bedingungen, hat sich als natürliche Konsequenz die Prostitution beträchtlich verschärft.
Möglicherweise würde ein guter Beobachter entdecken, daß hierbei nicht nur die Notwendigkeit ausschlaggebend gewesen ist, sondern daß auch zahlreiche Frauen, die zum Teil oberflächlich die Theorien der sexuellen Befreiung kannten oder sich zum Teil wirklich im Zuge des geräuschvollen Zusammenbruchs der moralischen Wertvorstellungen von gestern befreit haben, den einfachen Weg ihres Instinkts gegangen sind und sie damit ein unbestreitbares Recht für sich in Anspruch genommen haben.
Der großen Mehrzahl dieser Frauen fehlte es an allgemeinen Vorstellungen über Pflichten, und deshalb hatten sie entsprechend auch kein Gefühl für Verantwortung. So bedauerlich ihr Verhalten uns auch erscheinen mag, so verdient es doch kein Wort der Mißbilligung durch die bewußten Genossen. Die Frauen waren blindes Spielzeug in einem historischen Prozeß. Im ersten Augenblick einer Revolution läßt man sich nur von den Instinkten leiten, nur sie treiben uns zu Taten an. Es mögen sich die Genossen äußern, die noch nie daran gedacht haben, einer Fliege etwas zu Leide zu tun, und die dann das warme Blut zwischen ihren Fingern gespürt haben. Es mögen sich die harten Männer äußern, die sich an den behaglichen, von der Bourgeoisie verlassenen Sesseln und weichen Betten ergötzt haben.
Wenn die Revolution dieses Problem nicht auch mit umfaßt...
Wie wir bereits gesagt haben, bildet das sexuelle Problem eine Einheit mit den politischen und ökonomischen Problemen. Es darf in der Revolution weder beiseite geschoben noch negiert werden. Wenn wir wirklich die soziale Revolution wollen, sollten wir nicht vergessen, daß ihr erstes Prinzip in der ökonomischen und politischen Gleichheit besteht - nicht nur der Klassen, sondern auch der Geschlechter. Wenn auch nur in irgendeinem sozialen Bereich Unterschiede bei den Rechten und Pflichten geschaffen werden, ist der Kampf unter den verschiedensten Gesichtspunkten nach wie vor notwendig. Wir bestehen darauf, daß der einzige Weg zur Lösung der sexuellen Probleme die politische und ökonomische Gleichheit ist; Faktoren, die die Frau auch dazu befähigen, einen Sinn für Pflichten und Verantwortung zu entwickeln. Jede Institution, wo die Frau lernen kann, ist mehr als nur ein Befreiungszentrum: Es ist auch ein Vorbeugezentrum gegen die Prostitution.
Kommen wir zum Schluß: Das sexuelle Problem ist zugleich ein ökonomisch-politisches, und wenn es in der Revolution nicht gelöst wird, muß man es für unlösbar halten, wodurch die Revolution konsequenterweise verstümmelt bliebe und jede Sehnsucht nach der Befreiung der Menschheit zur Utopie erklärt würde.
Aus: "Mujeres Libres", Nr. 9, XI. Monat der Revolution
Originaltext: Mary Nash: Mujeres Libres. Die freien Frauen in Spanien 1936 - 1978. Karin Kramer Verlag, Berlin 1979. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Freundeskreis Karin Kramer Verlag. Das Copyright des Textes liegt weiterhin beim Karin Kramer Verlag, der Text darf ohne Rückfrage nicht weiter kopiert oder gedruckt werden. Im Karin Kramer Verlag sind zahlreiche Bücher zum Anarchismus erhältlich.