Abbau des Staates
Unzweifelhaft steht die spanische Bewegung jetzt und noch lange einer grossen Gefahr gegenüber. In den ersten Tagen der Bewegung, als die öffentliche Situation so eindeutig dem freiheitlich und revolutionär gesinnten Teil der Arbeiter die Möglichkeit gab, für die ersehnten Veränderungen und Erneuerungen in der Gesellschaft zu arbeiten, waren die alten Mächte vollkommen aus dem Konzept geraten. Es war ihnen alles aus den Händen gefallen und die Angst, die sie vor dem Ansturm der siegreichen Bewegung von unten auf hatten, gab die Möglichkeit, Alles in Frage zu stellen und Alles zu beginnen.
Nicht dass heute die Reaktion wieder am Ruder wäre, aber es ist auch nicht mehr ganz so wie am Anfang. Unter neuen Fahnen und Vorwänden haben sich viele wiedergefunden und erholt, die am 19. Juli von der Bildfläche verschwunden waren. Vielleicht wechselten sie ihr Gesicht, vielleicht haben sie sich mit anderen verbündet, auf jeden Fall werden von ihnen alle, aber auch alle Wege gegangen, die ihnen ihre Gegenspieler, die CNT und die FAI lassen, um mit krampfhafter Gier und mit Gefrässigkeit zu retten, was zu retten ist. Sie nützen die Schwierigkeiten des Krieges bis zum Letztmöglichen zu ihren Gunsten aus, ja bis zur Gefährdung des Sieges. Sie schieben und drehen an den internationalen Verknüpfungen herum, um mit Erpressungen ihre Ziele zu forcieren. Und welches sind diese Ziele? Nichts weiter, als für neue Kreise die alten Privilegien zu sichern, die alten Grundsätze der Autorität, wenn auch unter andern Formen, wieder zur Geltung zu bringen. Es ist schwer für sie umzulernen und mit wirklicher Bereitschaft und Aufgeschlossenheit der Sache ihrer Mitmenschen zu dienen. Ihr revolutionäres Gebaren ist eine Komödie, weil sie nicht wirklich bereit sind, auf die Hervorkehrung ihrer politischen Geltungsgelüste und ihres Favoritentums zu verzichten.
Uns kommt es auf den freiheitlichen Charakter des kommenden Lebens an, und nichts erscheint uns schädlicher und verräterischer für die Zukunft, als die Versuche, genau wie früher wieder die alte staatliche Bürokratie zu betätigen oder sogar noch auszubauen.
Das heisst nicht, die öffentlichen Dinge sich selbst überlassen. Gerade die Anarchisten sind geleitet von dem Geiste der Humanität und dem Wunsche, die menschliche Brüderlichkeit harmonisch geordnet zu verwirklichen. Aber die Staatseinrichtungen sind diesem Wunsche gerade entgegengesetzt. Niemals, und heute weniger als irgendwann, können die Anarchisten auf die Verwirklichung ihrer Grundsätze verzichten; die Bundesgenossen, die ihnen heute Konzessionen abzwingen, können sich nicht beklagen, wenn man sich später ihres jetzigen Verhaltens entsinnt.
Der Staat muss abgebaut und nicht verstärkt werden. Dass immer mehr Dinge des Lebens in den sozialen Bereich gezogen werden, steht dem nicht entgegen, es kommt dabei auf die Form der Organisation an. Dass die Anarchisten unter dem Druck der Umstände noch vieles nach den alten Methoden weiter machen, spricht noch nicht gegen sie. Die systematische Sabotage der im alten Geiste Denkenden trägt hieran ein grosses Mass Schuld. Hätten sich alle wie unsere Genossen Mühe gegeben an der Verwirklichung freiheitlicher Zustände zu arbeiten, so wäre viel mehr erreicht worden. Hier gibt es nur eine Rettung, die der Sinn der Revolution überhaupt ist. Die freiheitlichen Kräfte müssen sich noch mehr als bisher für die Bewegung verantwortlich fühlen.
Die Revolution, das ist die vereinigte Anstrengung der bisher nieder gehaltenen Schichten des Volkes, die öffentlichen Dinge in ihre Hände zu nehmen. Was allgemein wahr ist, gilt auch für die besonderen Fälle, für unsere augenblickliche Situation. Noch mehr als bisher muss jeder an dem allgemeinen Aufstieg durch die Übernahme und Erfüllung von Aufgaben in immer wichtigerer Bedeutung helfen. Wenn es einen Grund gibt, der es möglich macht, den Staatsapparat gegen die Freiheit zu restaurieren, dann den, dass wir unsere Kräfte, Fähigkeiten und Kenntnisse noch nicht auf das höchste Mass gebracht haben. Und hier darf sich keiner selbst zurücksetzen, keiner darf auf den andern oder auf ein Wunder vom Himmel warten. Denn geschenkt wird uns nichts, und wer dem andern die Initiative bei der Reorganisation der öffentlichen Dinge gleichgültig überlässt, muss wissen, dass er seine Freiheit bald verloren haben wird.
Jeder muss sich um alles kümmern. Das bedeutet nicht, dass er alles kritisieren soll, sondern dass er sich an allem helfend beteiligt, dass er lernt allein und mit seinen Kameraden zusammen. Denn entscheidend ist, dass wir nicht nur den Willen haben eine gerechte öffentliche Ordnung zu schaffen, sondern dass wir auch technisch zu deren Durchführung in allen Einzelheiten fähig sind und gegen jede neue Reaktion unseren geschlossenen Willen und unsere schöpferische Aufbauarbeit setzen.
Aus: Die Soziale Revolution Nr. 3, 1937. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ä zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.