Klassenkampf in der Ukraine - Ein Bericht von einem Besuch bei der RKAS (2001)

Während eines Ukraine-Besuches, den ich zusammen mit zwei Arbeitskollegen durchführte, besuchte ich die RKAS - die Revolutionäre Konföderation der AnarchoSyndikalisten. Es war ein Erlebnis welches ich bis jetzt in seiner Intensität noch nicht verarbeiten konnte.

Nach dem faktischen Zerfall der KAS (einer ziemlich großen anarcho-syndikalistischen Organisation der Wende-Zeit in der UdSSR), wurde 1994 in der Ukraine die RKAS gegründet. Gerade während meines Besuches feierten die Genossen der RKAS mit einem Rockkonzert ihren 6. Geburtstag. Mittlerweile hat die RKAS nur wenige hundert Mitglieder, jedoch einen wesentlich bedeutenderen Einfluß auf die Gesellschaft als vergleichbare Organisationen hierzulande.

Die meiste Zeit meines Besuches verbrachte ich bei Genossen in Donezk, einer Großstadt im Donbass (dem Kohlebecken der Ukraine). Ihr lokaler Zusammenschluß - die Föderation der Anarchisten des Donbass (FAD) hat mehrere Dutzend Mitglieder, zumeist aus den Reihen der radikalisierten Arbeiterjugend und anarchistischen Arbeitern. Die FAD besitzt außerdem eine Schutzorganisation - die Schwarze Garde - deren Mitglieder eine Kampfsportausbildung (WT) durchführen und sozusagen den militanten Arm der Organisation repräsentieren. Die Schwarze Garde befaßt sich vor allem mit dem Schutz der Veranstaltungen der RKAS, sowie mit aktivem Antifaschismus.

Die Präsenz der RKAS in Donezk fiel mir bereits am Tag meiner Ankunft auf, denn die ganze Stadt ist mit ihren Propagandaplakaten förmlich zugeklebt. Ganz anders als ich es mir vorgestellt habe, besitzt die RKAS eine ungeheure Popularität bei den Arbeitern. Kurz vor meiner Abreise begann ein Streik in einem Bergwerk, welches ich daraufhin auch aufsuchte. Victor, ein Arbeiter aus dem Bergwerk „Oktjabrskaja“ und seit 1992 in der anarchistischen Bewegung aktiv, und Sascha, Geschichtslehrer und mein Gastgeber, zeigten mir das Werk, die Räume der unabhängigen Gewerkschaft der Bergarbeiter NPG (die dereinst von AnarchoSyndikalisten mitgegründet wurde) und machten mich mit den Problemen der Bergarbeiter bekannt. Die von uns mitgebrachte Zeitung der RKAS „Anarchija“ wurde uns förmlich aus den Händen gerissen. Von den Bergleuten kamen dazu Kommentare wie „Warum kommt ihr nicht häufiger vorbei?“ - „Bringt uns beim nächsten Mal Maschinengewehre mit!“ (um Mißverständnisse zu vermeiden - die RKAS propagiert nicht den bewaffneten Kampf - d.S.) und „Anarchie ist die Mutter aller Ordnung!“

Die Streiks der Bergarbeiter, die, wie in diesem Fall meist spontan wegen nicht ausgezahlter Löhne ausbrechen, enden allzuhäufig negativ, was bei den Bergleuten eine ungeheure Wut anstaut. Viele leben heute hart an der Hungergrenze oder sogar darunter, perspektivlos und durch den Kohleabbau völlig ausgezehrt (Dieser wird aufgrund der verrottenden Technik zunehmend wieder in Handarbeit ausgeführt).

Bislang sind es nur wenige, die sich in der RKAS organisiert haben, aber das Erlebte macht Hoffnungen für die Zukunft. Denn, so Victor, die Sympathien für den AnarchoSyndikalismus sind auch in den anderen Bergwerken stark ausgeprägt - es dauert allerdings seine Zeit, ehe ein Arbeiter organisatorische Konsequenzen daraus zieht.

Neben dem Bergwerk nahmen mich die Genossen auch zu einem Abstecher nach Guljaj-Polje mit, der einstigen Hochburg Nestor Machnos (legendäre Gestalt der anarchistischen Bauernrevolution von 1918-21 in der Ukraine, die später von der Bolschewiki niedergeschlagen wurde - d. S.). Dort wurde von uns ein Kranz an der Gedenktafel für Nestor Machno niedergelegt, die Stadt bekam eine Verzierung mit FAD-Plakaten und die „Anarchija“ wurde uns wiederum - nun von den Einheimischen - aus den Händen gerissen. Und dann das offensichtlich Übliche - Arbeiter beschwerten sich bei uns, warum wir denn keine Waffen mitgebracht hätten - sie bekämen monatelang ihren Lohn in Farbe ausgezahlt, die ihre Frauen dann auf dem Markt verkaufen dürften - und wer braucht schon Farbe? Mit einem leichten Wink in Richtung einer Nobelkarosse, die irgendein Neureicher in der Nähe geparkt hatte und deftigen Flüchen auf die Regierung, bekamen wir mitgeteilt, gegen wen sie die Waffen gern einsetzen würden. „Kommt wieder und wir kämpfen zusammen!“

Wieder in unserer Absteige, dem kleinen Hotel von Guljaj Polje angelangt, kam zu uns prompt der Bürgermeister gelaufen. Sichtlich beunruhigt fragte er, was wir denn so im Schilde führten und wie lange wir noch bleiben wollten. Dann äußerte er Verständnis für unsere Ansichten und sicherte uns bei etwaigen Problemen mit den Ordnungshütern seinen Beistand zu. Außerdem teilte er uns freundlicherweise mit, daß der SBU (Nachfolger des KGB) ihn unseretwegen bereits angerufen hätte. Als wir uns danach wieder auf den Weg nach Donezk machten, boten uns die Straßen Guljaj Poljes ein interessantes Bild - wir hatten nur 100 Exemplare der „Anarchija“ mitgebracht -und nun saßen überall auf den Bänken Gruppen von Arbeitern, die die Zeitung kollektiv lasen und die Inhalte lebhaft diskutierten.

Obwohl ich nur wenig mehr als eine Woche bei den ukrainischen Genossen verbracht habe, hat mir diese Woche Mut gemacht. In so mancher Hinsicht scheinen die Uhren in der Ukraine schneller zu laufen als bei uns. Und ich bin voller Zuversicht, daß dem Anarcho-Syndikalismus in der Ukraine eine große Zukunft bevorsteht.

Aus: "Der Störenfried - Fachblatt für Magdeburg und umliegende Provinzen" (Ausgabe Nr. 5, Sommer 2001)

Originaltext: http://home.pages.at/der-stoerenfried/zeitung/a05/9.htm


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Der beste Streik in der Ukraine (2001)

Im März 1998 auf dem AKW Chmelnizki im westukrainischen Neteschin kam es zu einem für die heutige Ukraine einmaligen Streik. Weder die offiziellen noch die quasi-"oppositionellen" Medien haben die Ereignisse mit auch nur einem Wort erwähnt, und deshalb ist es wichtig, kurz darüber zu informieren.

Wie immer wurden die Unruhen in Neteschin durch massive Lohnrückstände ausgelöst. An die Betriebsleitung und die offiziellen Gewerkschaften vorbei wurde ein Streikkomitee gebildet, das während des ganzen Streiks illegal funktioniert. In der Nacht vor dem Streik blockierten ein Hundert der entschlossensten AKW-Angestellten in einer gut vorbereiteten Aktion die Wohnungen der führenden Geheimdienstleute und oberen Polizeibeamten der Stadt sowie der Betriebsleitung und Mitglieder des AKW-Notfallsstabs - insgesamt ca. 40 Wohnungen. Eine Gruppe der Streikenden besetzte die Telefonzentrale und sorgte dafür, dass die Anschlüsse der "Festgesetzten" stillgelegt wurden. Auf der Straße, die in die Stadt führt, wurden beladene LKW abgestellt und Beobachtungsposten eingerichtet.

Am nächsten Morgen ging beim Ministerium für Atomkraft ein Telegramm ein: "Die Macht in Netschin liegt jetzt in den Händen der AKW-Belegschaft. Wir fordern die Auszahlung der Löhne, sonst geht das Werk sofort vom Netz und zwar so, dass es nie wieder hochgefahren werden kann."

Die Behörden hätten die Möglichkeit gehabt, eine Einheit der OMON-Spezialtruppe nach Neteschin zu entsenden, um die Festgesetzten mit Gewalt zu befreien und den Streik zu unterdrücken. Aber statt dessen entschieden sie sich, damit die Nachricht sich möglichst nicht verbreitet, die Forderungen schnell und unauffällig zu erfüllen. Bereits am Abend des nächsten Tages trafen in Neteschin LKW mit Bargeld ein. Die Lohnrückstände und Kommunalgebühren der AKW-Angestellten wurden in vollem Umfang gezahlt.

Es muss betont werden, dass die Ereignisse am AKW Chmelnizki sich ohne die Einmischung irgendwelcher politischen Parteien abspielten und entgegen allen Gesetzen liefen - hier waren Selbstorganisation und direkte Aktion am Werk. Das zeigt, dass der Syndikalismus nicht die Erfindung irgendwelcher Schreibtischtheoretiker ist, sondern eine lebendige Praxis der entstehenden Arbeiterbewegung. Den Begriff "Syndikalismus" kennt diese Bewegung noch gar nicht, aber wichtig ist nicht das Etikett, sondern die konkreten Erfahrungen.

Die Erfahrung zeigt: echte, wenn auch zahlenmäßig kleine „Arbeiterinitiativen“ ignorieren den Weg der parlamentarischen Betätigung, gründen keine "Arbeiterparteien", die um die Beteiligung an der Macht kämpfen würden, sondern verlassen sich auf ihre eigenen Kräfte und die Mittel des direkten Klassenkampfes.

Der zweite Schluss: auch die erfolgreichsten und radikalsten Arbeitskämpfe sind vollkommen unzureichend, solange sie episodisch bleiben.

Im Jahr 2000 wurden einige Dutzend AKW-Mitarbeiter der "Unzuverlässigkeit" verdächtigt und entlassen. Das heißt, man hätte den Kampf kontinuierlich führen müssen. Man braucht eben Solidarität, gegenseitige Unterstützung und koordinierte Aktion. Früher oder später wird dies vielen klar werden - dann werden die elementaren Keime des Syndikalismus aufgehen und eine überzeugte, tatkräftige syndikalistische Massenorganisation entstehen lassen.

Aus: „Direkte Aktion“ - anarchosyndikalistische Zeitung # 147, Sept./Okt. 01, vorher abgedruckt in: "Anarchija", Donezk/Ukraine, Nr. 2 (17) 2001

Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/as10.html


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