Ernst H. Posse - Georges Sorel

Anmerkung: George Sorel ist eine umstrittene Persönlichkeit des Syndikalismus - auf ihn beriefen sich nicht nur die französischen SyndikalistInnen, sondern auch die Faschisten Mussolinis in Italien. Sorel und andere Französische Linke näherten sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs kurzzeitig nationalistischen Gruppen an - eine ideologische Melange, die relevant für die Herausarbeitung der Ideologie des Faschismus italienischer Prägung wurde, indem der Klassenkampf durch die Nation ersetzt wurde. Zeev Sternhell hat diesen Zusammenhang in seinen lesenswerten Arbeiten über die faschistische Ideologie herausgearbeitet.

Georges Sorel* ist seit zwei Jahrzehnten eine umstrittene Persönlichkeit. Rechts- und links-aktivistische Kreise beanspruchen ihn gleichzeitig als ihren Theoretiker, besser: geistigen Führer und Lehrmeister. Theoretiker klingt nach Gebäude systematisch geordneter Gedanken, und bei Sorel kann man wohl von einer Fülle – und teils höchst überraschender – Gedanken, weniger von systematischer Ordnung sprechen. Er war stolz, keine Methode zu haben. Genieblitze eines historisch, philosophisch und ökonomisch Gebildeten und Revolutionärs. Ihm fehlt die Disziplin des Marxisten, die dank übertriebener Marxgläubigkeit leicht Überdisziplin, das heisst unproduktiv werden kann. In dieser Gegenüberstellung liegen die Vorteile von Sorels Denken: er erkennt und ahnt Zusammenhänge, wo sogenannte Marxisten haltgemacht haben, da der Weg noch nicht vorgezeichnet war.

Das Echo seines Todes war wie Leben und Werk verwirrend, zwiespältig. Während die linksradikalen Kreise ihrer tiefen Sympathie Ausdruck gaben, taten das Gleiche die Leute der ‘Action Française’ und Georges Valois, der Theoretiker des französischen Fascismus. Mussolini selbst nennt sich Schüler Sorels und hat das des öfteren betont. So antwortete er einmal auf die Frage eines Redakteurs des ‘A.B.C.’ Madrid, welcher Einfluss für seine Entwicklung der Entscheidende gewesen sei: ‘Der Sorels. Für mich war die Hauptsache Handeln. Ich wiederhole, Sorel schulde ich am meisten. Dieser “maître” des Syndikalismus hat durch seine schroffen Theorien der revolutionären Taktik am meisten dazu beigetragen, die Disziplin, Energie und Stärke der fascistischen Kohorten zu begründen’. Sorel hat 1912 in persönlichem Kontakt mit Mussolini gestanden. Aus dieser Zeit wird folgender Ausspruch überliefert, der Mussolinis Natur und spätere Auswirkung prophetisch erfasst: ‘Notre Mussolini n‘est pas un socialiste ordinaire. Croyez-moi: vous le verrez peut-être un jour à la tête d‘un bataillon sacré saluer de l‘épée la bannière italienne. C‘est un italien du quinzième siècle, un Condottière. On ne le sait pas encore, mais c‘est le seul homme énergique capable de redresser les faiblesses du gouvernement.’

Doch zu Sorel zurück. Vor der Andeutung seiner objektiven Leistung einige Stichworte über die Hauptetappen seines Lebens: Geboren 1847, Schüler der école politechnique, über zwanzig Jahre Ingenieur. Von der Schule bringt er das naturwissenschaftliche mathematische Denken mit, im Gegensatz zu dem mehr ideologischen der ‘normaliens’ (Schüler der école normale supérieur) – ein Gegensatz der von grösster Bedeutung ist und bei vielen Franzosen ausschlaggebend. Der Ingenieur-Beruf verstärkt dies rein technische Denken, das in seinen späteren Arbeiten vorwiegt. Er beginnt erst nach dem 40. Jahre zu schreiben. 1898 glühender Verteidiger der Dreyfussache, Schulter an Schulter mit dem reformistischen Sozialismus, voller Bewunderung für Jaurès, dessen eigentlicher Gegenspieler er später werden sollte.

Der Ausgang der Dreyfusaffäre und die Festigung der kleinbürgerlichen Demokratie wandelt ihn. Einige Jahre später lehnt er den nur parteipolitischen parlamentarischen Sozialismus als unproduktive Alterserscheinung ab. Durch Kompromisse, Aufgehen in Nurreformismus sieht er in ihm nicht genügend élan vital um als konstruktiver Faktor im Gesellschaftsleben gelten zu können. Genau so wendet er sich gegen das etwas hohle Pathos des marxistischen Doktrinarismus eines Jules Guesde und Lafargue. Bald ist er der Apologet des revolutionären Syndikalismus geworden. Damals gab ihm Jaurès die populär gewordene Bezeichnung ‘métaphysicien du syndicalisme’.

Um 1912 sympathisiert er mit den Doktrinen des Traditionalismus, steht mit konservativen und nationalistischen Theoretikern in enger Verbindung. Der Krieg enttäuscht ihn nicht als Erscheinung an sich, die unerwartete Reaktion der Massen (und vielversprechender Einzelner!) ist es, die ihn unfähig macht, Wege in eine klarere, geordnetere sozialistische Zukunft zu sehen. Und Hauptmotiv dieser Depression ist eine Einsicht die für ihn charakteristisch: die Alliierten verstehen es, mit der Parole ‘Demokratie in Gefahr!’ die Massen zu begeistern und eine einheitliche geistige Kampffront herzustellen.

Sorel der sich von dem Glauben an die parlamentarische Demokratie abgewandt hatte, erwartete nicht mehr eine so wirksame Resonanz demokratischer Parolen. – Der Sieg des Bolschewismus lässt ihn, der damals im französischen Geistesleben durch die grosse Reihe seiner soziologischen Werke eine Rolle spielt, angesehene bürgerliche Zeitungen öffnen ihm ihre Spalten, zum ersten französischen Verteidiger des Bolschewismus werden, zum ersten Verteidiger von Format, auf dessen Worte man hört. Der vierten Ausgabe der ‘Réflexions sur la violence’ (1920) fügt er ein vielbeachtetes Plaidoyer für Lenin bei.

Über das Werk (oder die Werke, denn wie das Echo ist das Fundament nicht einheitlich) kann hier nur ganz Allgemeines gesagt werden. Sorel basiert auf Saint-Simon, Proudhon und…Marx. Doch würde das nicht allein erklären, warum er über die sozialistische Gedankenwelt hinaus auch den aktiv traditionalistischen Strömungen (wie action française) Lehrmeister sein kann. Der grosse Einfluss, den Nietzsche und später Bergson auf Sorel ausgeübt hat, schafft – kombiniert mit der bestehenden sozialistischen Gedankenwelt – das irrationalistische, aktivistische Element in seinem Werk. Und dies ist das eigentlich Neue, das Sorel, die politischen Lehren des 20. Jahrhunderts wesentlich beeinflussend, produziert hat. Es ist die Idee von der ‘action directe’, vom Generalstreik als Mythos (von Mussolini umgewandelt in die Nation als Mythos. Mussolini 1922 vor dem Marsch auf Rom: ‘unser Mythos ist die Nation, die grosse Nation, die wir zu einer konkreten Realität machen wollen’), weiter die grundlegende Idee von der produktiven Rolle der Gewalt in der Geschichte. In der französischen Presse ist noch heute der Streit nicht beendet, ob Sorel, der Lehrer Mussolinis, wohl jemals die fascistischen Gewalttaten bejaht hätte. Wer die moralisch ethischen Motive berücksichtigt, die er als Rechtfertigung der revolutionären Gewaltanwendung anführt, muss zu dem Schlusse kommen: der Lehrer hätte seinen Schüler verdammt…wie er Lenin verehrte! Oder denken wir im Sinne Sorels, lassen jede banalisierende Vereinfachung fort und konstatieren ruhig, dass er in Mussolini zwar den Verräter aber den grossen Verräter gesehen hätte.

Die wahre Bedeutung Sorels liegt in der Wiedererweckung proudhonistischen (teils auch bakunistischen) Geistes. Man denke nur an die Grundstimmung von ethischen und moralischen Wertungen in seinem Werk (die Verachtung des ‘bourgeois’) die ihn ebenso in Kampfstellung gegen die marxistischen wie alle parteisozialistischen Bewegungen bzw. deren Führer (Guesde, Jaurès usw.) gegen die Typen der ‘Berufspolitiker’ brachte. Um es kurz auszudrücken, ihm schien die Ethik des Sozialismus und die moralische Integrität u. Intensität des proletarischen Befreiungskampfes wichtiger als die blosse Feststellung des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte. Wenn Sorel auch mit Marx den rücksichtslosen rein proletarischen Klassenkampf betonte (das im Gegensatz zu Proudhon, der alle ‘Gutgesinnten’ einschloss das heisst auch die integeren Elemente der Bourgeoisie) so ist doch sein Werk eine teils widerspruchsvolle aber geniale Kombination von Proudhon und Marx, in der proudhonistischer Geist vorwiegt.

Eine solch kurze stichwortartige Übersicht muss vieles offen lassen, kann vieles nur andeuten und mag auch vieles als Zweifel zurücklassen. Die Übereinstimmungen im an sich sozialistischen Werk Sorels mit den Lehren des extremen Nationalismus und Traditionalismus werden zu derartigen Zweifeln führen. Und da kann nur allgemein gesagt werden, dass diese beiden Lager, die aus entgegengesetzten Motiven Gegner des in Europa herrschenden bourgeoisen, parlamentarischen und demokratischen Geistes sind, in negativen Zielen, in der Vernichtung dieses Geistes, in der Kritik notwendigerweise übereinstimmen müssen. Erst der Aufbau des Neuen führt sie auseinander, endgültig. In dieser Situation ist das Werk Sorels entstanden, daher seine eigenartige Resonanz. Der Sinn seines Werkes dagegen liegt im Sozialismus, für den er kämpfte.

*Vor Kurzen erschien Pierre Lasserre: Georges Sorel, théoricien de l‘impérialisme. Ses idées, Son action, in den Cahiers de la Quinzaine. Soeben erschien eine deutsche Übersetzung der ‘Réflexions’: Über die Gewalt, von Georges Sorel. Mit einem Vorwort von Gottfried Salomon und Nachwort von Edouard Berth, Universitäts-Verlag Wagner, Innsbruck, 1928, 386 S. Brosch. 9 R.M. Geb. 12 R.M.

Aus: Internationale Revue i 10 1927-1929. [Ingeleid door Arthur Lehning]. Kraus Reprint, Nendeln 1979, p. 155-156.

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/02/23/ernst-h-posse-georges-sorel/


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Georges Sorel - Apologie der Gewalt (1908)

Wer sich mit revolutionären Worten an das Volk wendet, muß seine Aufrichtigkeit einer genauen Probe unterziehen. Denn die Arbeiter verstehen diese Worte in dem Sinne, wie sie sich ihnen in ihrer Sprache darstellen, und geben sich nicht mit Deutungen ab. Als ich zuerst über proletarische Gewaltmaßnahmen schrieb, war ich mir vollständig klar darüber, welche schwere Verantwortlichkeit ich auf mich nahm, als ich versuchte, die historische Rolle der Gewaltakte zu schildern, welche unsere Sozialisten im Parlament so eifrig zu verhüllen bestrebt sind. Heute zögere ich nicht, zu erklären, daß der Sozialismus ohne eine Apologie der Gewalt nicht bestehen könne.

Das Proletariat verkündet seine Macht, seine Existenz, in den Streiks. Ich kann mich nicht entschließen, in einem Streik etwas Ähnliches zu erblicken, wie in dem zeitweiligen Abbruch der Handelsbeziehungen zwischen einem Krämer und seinem Lieferanten, weil die beiden sich nicht über die Preise verständigen können. Der Streik ist eine Erscheinung des Krieges, es ist deshalb eine große Unwahrheit, daß die Gewalt eine Erscheinung ist, die aus den Streiks verschwinden muß. Die soziale Revolution ist eine Ausdehnung dieses Krieges, dessen Episoden aus Streiks bestehen; deshalb sprechen die Syndikalisten von der Revolution in der Sprache der Streiks, der Sozialismus nimmt für sie den Gedanken der Erwartung und der Vorbereitung des Generalstreiks an, der ähnlich wie ein Sieg Napoleons ein zum Sterben reifes System vernichten wird.

Ein solcher Begriff verträgt sich mit keiner der feinsinnigen Auslegungen, in denen ein Jaurès Meister ist. Es handelt sich um einen Umsturz, in dessen Verlauf die Unternehmer und der Staat durch die organisierten Arbeiter verjagt werden. Unsere Intellektuellen, die von der Demokratie die ersten Plätze erhoffen, werden auf ihre Wissenschaft verwiesen, die Parlamentssozialisten, die in den durch die Bourgeoisie geschaffenen Organisationen die Mittel finden, eine gewisse Rolle zu spielen, werden überflüssig werden.

Die Beziehungen zwischen den gewaltsamen Streiks und dem Kriege sind sehr ausbaufähig. Niemand zweifelt, daß der Krieg den antiken Republiken die Ideen geliefert hat, die den Schmuck unserer modernen Kultur bildet. Der soziale Krieg, auf den das Proletariat sich in den Syndikaten unablässig vorbereitet, kann die Elemente einer neuen Zivilisation schaffen, die sich für ein Volk von Arbeitern und Erzeugern schickt. Ich werde nie müde, die Aufmerksamkeit meiner jungen Freunde auf die Probleme hinzulenken, welche der Sozialismus von dem Gesichtspunkte einer Zivilisation von Arbeitern bietet. Ich stelle fest, daß sich heute eine Philosophie entwickelt, die sich auf diesen Plan einstellt und an die man vor wenigen Jahren kaum gedacht hätte; diese Philosophie ist mit einer Apologie einer Gewalt eng verknüpft. Ich habe für den „schöpferischen Haß“ niemals die Bewunderung gehegt, die Jaurès ihm gewidmet hat. Ich empfinde für die Meister der Guillotine nicht die gleiche Nachsicht wie er. Ich verabscheue jede Maßregel, die den Besiegten unter dem Schein eines Urteilsspruchs erschlägt. Der am hellen lichten Tage geführte Krieg, der keine heuchlerische Milde angesichts der Leiche eines unversöhnlichen Feindes kennt, schließt alle Erniedrigungen aus, die die Bürger der Revolution des 18. Jahrhunderts entehrt hat. Die Apologie der Gewalt ist in diesem Fall besonders leicht.

Es würde wenig nützen, den Armen zu erklären, daß sie im Unrecht sind, gegen ihre Herren Eifersuchts- und Rachegefühle zu empfinden; diese Gefühle sind zu stark, als daß sie durch Ermahnungen unterdrückt werden können, und auf die Allgemeinheit dieser Empfindungen gründet vor allem die Demokratie ihre Gewalt. Der soziale Krieg kann, indem er an das Ehrgefühl appelliert, welches sich so natürlich in jeder organisierten Armee entwickelt, die häßlichen Empfindungen ausschalten, gegen die die Moral ohnmächtig geblieben wäre. Wenn es keinen anderen Grund, gäbe als diesen, um dem revolutionären Syndikalismus einen hohen zivilisatorischen Wert beizumessen, so würde dieser Grund mir ausreichend scheinen, um mich auf die Seite der Apologisten der Gewalt zu stellen.

Der Gedanke des Generalstreiks, der durch die Praxis der gewaltsamen Streiks erzeugt wird, enthält den Begriff eines nicht wieder abzuändernden Umsturzes. Darin liegt etwas Erschreckendes, — um so mehr als bis dahin die Gewalt einen großen Raum in den Geistern der Proletarier, eingenommen haben wird. Aber indem sie ein ernstes, furchtbares und erhabenes Werk unternehmen, erheben sich die Sozialisten über unsere leichtfertige Gesellschaft und werden würdig, der Welt neue Namen zu zeigen.

Man könnte die Parlamentssozialisten mit den Beamten vergleichen, aus denen Napoleon einen neuen Adel gebildet hatte und die sich muhten, den von dem „Ancien Régime“ überkommenen Staat zu kräftigen. Der revolutionäre Syndikalismus würde den napoleonischen Armeen entsprechen, deren Soldaten soviel Heldentaten verrichteten, obwohl sie wußten, daß sie arm bleiben würden. Was ist von dem Kaiserreich geblieben? Nichts als das Heldengedicht der Großen Armee! Was von der gegenwärtigen sozialistischen Bewegung bleiben wird, das wird die Epoche der Streiks sein.

Georges Sorel – Apologie de la violence (Le Matin, 18.05.1908)

(Werner Sombart, Grundlagen und Kritik des Sozialismus, Berlin, 1919, Bd. 2, S. 189-191)

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/11/04/georges-sorel-apologie-der-gewalt-1908/


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