Karl Roche - Proletarische Solidarität (1919)
Unter unsern Breiten ist Arbeitsleistung die Vorbedingung des Lebens. Unsere Erde ist spröde, unsere Sonne matt. Nur dann gewähren sie uns Frucht und Ernte, wenn wir schaffen. Wir sind an Bequemlichkeiten gewöhnt, denen Arbeit vorausgehen muß. Arbeit ist die heiligste Pflicht aller. Wer Arbeitsmittel sich aneignet, nimmt andern die Möglichkeit des Lebens, setzt andere dem Verhungern aus. Er ist Verbrecher. Wer mit dem Arbeitsprodukte anderer wuchert, bestiehlt sie. Desgleichen ist Verbrecher, wer Arbeit verweigert, obwohl er dazu fähig ist, um andere für sich arbeiten zu lassen.
Ein Heer dieser Verbrecher nennt die privatkapitalistische Wirtschaftsordnung die gottgewollte. Ein Heer dieser Verbrecher beherrscht den Staat. Und – o, welche Blasphemie! Solche Verbrecher durften und dürfen sich aufspielen als Wohltäter der Menschheit!
Wird der Privatkapitalismus beseitigt, werden die Arbeitsmittel den bisherigen Verbrechern abgekauft, so werden sie für ihre Missetaten noch obendrein belohnt. Mit den Rentenscheinen wird ihr Verbrechen neu gerechtfertigt. An ihre Stelle tritt der Staatskapitalismus. Das Verbrechen wird weiter verübt an denen, die nicht im Besitze von Rentenscheinen sind. Und solchen Kapitalismus nennen machthungrige Demagogen: Sozialismus! O, welche neue Blasphemie! Da bleibt den Entrechteten, den Arbeitenden in der Notwehr nur ein Mittel: die Verweigerung ihrer Arbeitsleistung, der Streik. Zum Zwecke der Arbeitsverweigerung haben sich die Arbeitenden zu organisieren. Sie haben Gewerkschaften zu schaffen, welche die Beseitigung des Privat- wie Staatskapitalismus zum Ziele haben. Ihre Gewerkschaften müssen syndikalistisch sein, denn Syndikalismus ist: Anwendung der direkten Aktion, um den Sozialismus herbeizuführen, ist Beseitigung der Lohnarbeit und Errichtung der Herrschaft der Arbeitenden. Das Allerheiligste, die Arbeit soll herrschen und nicht das Gemeine und Niederträchtige, die Faulheit und der Wucher.
Die alten Gewerkschaften schlossen Pakte mit der Faulheit und Gemeinheit. In Tarifverträgen erkannten sie den Verbrechern das Recht zu, die Arbeitenden auszubeuten. Unterm Staatskapitalismus werden sie solch Unrecht einer aufstrebenden Beamtenhierarchie zuerkennen. Darum sind die alten Gewerkschaften die Feinde der Arbeiter. Darum waren und sind die alten Gewerkschaften Streikgegner. Sie werden verschwinden, wenn die Arbeiter deren Schädlichkeit erkennen und sie verlassen.
In jedem Gewerkschaftsbuch sollte an hervorragender Stelle stehen: Streik und Solidarität sind die einzigen Revolutionsmittel des Proletariats. Beseelt von der Solidarität ist der Streik die alleinige, friedliche und unblutige Revolutionswaffe. Also ist Solidarität das vornehmste Mittel im proletarischen Klassenkampfe.
Aber schließlich ist auch das Wort Solidarität nur die Bezeichnung für einen schwankenden Begriff. Und die alten Gewerkschaften verstehen darunter ganz etwas Entgegengesetztes, wie wir Syndikalisten. Rein sprachlich heißt es: Zusammenhaltung, gemeinsame Interessen aller Einzelnen. Damit ist aber seine Bedeutung für den Klassenkampf nicht erschöpft. Im vulgären Sinne wird das Wort rein äußerlich angewendet. Gemeinsame Interessen, das sind materielle Interessen. In den alten Gewerkschaften konzentrierte sich die proletarische Solidarität in den Geldschränken. Streiks waren eine reine Unterstützungsfrage. Solidarität wurde von den Führern anbefohlen oder verboten. Solidaritätsstreiks verfielen fast immer dem Verbot. Mit solcher Betätigung der rein materiellen Solidarität, die nur mechanisch von der Leitung in wohl abgemessenen Dosen zugelassen wird, ist natürlich kein Streik zu gewinnen und kein Klassenkampf zu führen. Der Erfolg jedes Streiks, wie der revolutionären Betätigung überhaupt, hängt von der Wucht des ersten Ansturms ab. Lang andauernde Streiks sind immer verloren gegangen, oder ihr Scheinerfolg stand in gar keinem Verhältnis zu den gebrachten Opfern.
In der Gewerkschaftsbewegung muß Solidarität, die innere, die seelische Triebkraft sein. Das proletarische Zusammengehören muß dem Einzelnen zur Religion werden. Die Solidarität bei Arbeitseinstellung muß so etwas Gegebenes, so etwas Selbstverständliches sein, dass der Gewerkschaftsführer, der es zu verhindern suchen wollte, einfach unmöglich sein würde. Solche Solidarität idealisiert den Klassenkampf. Und das Proletariat verliert dabei nichts. Solidaritätsstreiks können heute aufgenommen und übermorgen wieder abgebrochen werden, um nach einer Woche neu aufzulodern. Solidaritätsstreiks sind die Revolution in Permanenz. Solidaritätsstreiks erschüttern die Lohnarbeit, bis sie zusammenbricht. Solidaritätsstreiks wachsen sich schließlich aus zum sozialen Generalstreik, der die Überführung der Produktion unter der Herrschaft der Arbeitenden zum Ziele hat.
Solidaritätsstreiks sind die revolutionären Klassenkampfübungen des Proletariats. Wie alle gesellschaftliche Sittlichkeit nur durch Vorleben mit Erfolg gelehrt werden kann, so muß auch die Klassensolidarität den Massen durch Beispiele eingegeben werden. Nur das praktische Erleben überzeugt. Nur die Betätigung der Streiksolidarität, die nicht jedem Streikenden etwas gibt in Form von Unterstützungen, sondern die von jedem gebieterisch Opfer fordert, erzieht zur inneren, seelischen Solidarität. Dass daneben Gemeinschaftsküchen errichtet werden, ist selbstverständlich. Aber die Auszahlung von Unterstützungsgeldern untergräbt die Solidarität, macht den Streik zum bloßen Rechenexempel, nimmt ihm den idealen Antrieb, macht ihn von vornherein zum Misserfolg. Der Solidaritätsstreik muß der Ausbeutergesellschaft ständig als Menetekel vorschweben, sie darf nie sicher davor sein. Die Klassensolidarität des Proletariats ist unüberwindlich, wenn sie als wirkliche, als innere und nicht als Klassensolidarität rein äußerlich angewendet wird.
Ist uns die Arbeit heilig, so ist uns die Arbeitsverweigerung das Heiligste, so lange man uns die Arbeitsmittel vorenthalten, so lange man uns das Arbeitsprodukt fortnehmen, so lange man mit den Gütern wuchern wird. So lange wird der Streik das einzige ethische Klassenkampfmittel sein. Nicht nur ein unveräußerliches Recht haben wir zum Streik, sondern er ist einfache sozialistische Pflicht. Er ist die Selbstverständlichkeit, zu der jede Gewerkschaft ihre Mitglieder erziehen muß. Die Erziehung zur Solidarität ist Erziehung zum Sozialismus. Wie ohne Solidarität kein Streik Erfolg haben kann, so kann der Sozialismus nicht geschaffen werden ohne die ideelle Solidarität der Arbeitenden.
Soll der Diebstahl an unserer Hände Arbeit aufhören, dann müssen wir den Diebstahl unmöglich machen, indem wir unsere Hände ruhen lassen. Ohne unsere Hände sind die Arbeitsmittel den Besitzern wertlos. Proletarische Solidarität ist der Beginn einer neuen menschlichen Zeit.
Aus: „Der Syndikalist“, Nr. 12/1919
Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2011/04/05/karl-roche-proletarische-solidaritat-1919/