Helmut Rüdiger - Der Anarcho-Syndikalismus als freiheitlicher Sozialismus (Auszug, 1952)
In der Nachkriegszeit adaptierten viele der anarchosyndikalistischen DenkerInnen der 1920er und 30er-Jahre ihre Positionen - so auch Helmut Rüdiger.
"Soweit es möglich ist, von all seinen Vorschlägen etwas zu verstehen, will der Sozialismus aus der Gesellschaft einen ungeheuren Bienenkorb machen, an dessen Waben Bürger sitzen, die still sein und geduldig warten müssen, bis ihnen ihr eigenes Geld als Almosen gereicht wird. Die großen Verteiler dieser Almosen, oberste Steuereinnehmer des allgemeinen Einkommens, werden einen Generalstab mit passablem Einkommen bilden, der morgens aufstehen und den allgemeinen Appetit stillen wird, und wenn er sich verschläft, wird er 36 Millionen Menschen ohne Frühstück lassen", schrieb der französische Anarchist Anselme Bellegarrigue vor hundert Jahren. Er prägte auch das Wort: "Der Sozialismus ist aus dem Appell an die Freiheit geboren, aber die Ausübung der Macht wird ihn töten." Die skeptischen Gedanken Bellegarrigues entsprechen der Stimmung unserer Jahrzehnte (...) In den sozialistischen Parteien verschiedener Länder melden sich heute von syndikalistischen Ideen beeinflußte Kritiker zu Wort (...).
Der Marxismus lehrte, daß dem Sozialismus eine Periode unerhörter Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht vorausgehen werde; das Proletariat müsse sich der staatlichen Macht bedienen, um dem Kapitalismus die letzten, entscheidenden Schläge zu versetzen, danach aber werde die politische Zentralisation in der Form des Staates absterben und die neue Gesellschaft als eine Assoziation freier und gleichberechtigter Produzenten ans Licht treten. Lassalle dagegen lehnte Marx' anarchistische Zielformel ab und erblickte im Staat den echten und dauernden Garanten von Freiheit und Wohlfahrt. Er war prinzipieller Staatssozialist; für Marx war die Eroberung des Staates ein bloß taktisches Mittel. Trotz dieses Gegensatzes fanden sich beide Gedankenströmungen im demokratischen Staatssozialismus zusammen und Marx' Idee des später absterbenden Staates, mit der sich noch Lenin herumschlug, wurde fallengelassen, im Westen verdrängt durch den Glauben an die zentralistische, parlamentarische Demokratie und im Osten zugunsten der sog. Diktatur des Proletariats, ausgeübt von der Kommunistischen Partei, die das Proletariat "vertritt". (…)
(...) wir (sehen) das Problem, ohne eine anarchistische Heilslehre an die Stelle geschlossener Systeme setzen zu wollen. Dazu würden sich die anarchistischen Ideen übrigens auch gar nicht eignen, da sie durchaus nicht einheitlich sind und in sehr verschiedenen Nuancen auftreten. Wir neigen darum auch zu der Auffassung, daß anarchistische Gedanken und syndikalistische Strömungen (die letzteren in der Praxis der Arbeiterbewegung) keineswegs nur in den Bewegungen zum Ausdruck kommen, die den Anspruch erheben, die Kontinuität der anarchistischen Ideenentwicklung zu vertreten, sondern sowohl kritisch wie konstruktiv auch in zahlreichen anderen modernen Strömungen und selbst innerhalb von Gruppen, die dem Anarchismus eigentlich fremd gegenüberstehen.
Sieht man von Bakunins Hegelianismus und seiner vorübergehenden, teilweisen Beeinflussung durch Marx ab, so kann man sagen, daß der Anarchismus an das liberale Denken anschließt, obwohl er, wie die sozialistischen Schulen, die Organisation der sozialen Solidarität in einer klassenlosen Gesellschaft erstrebt. Alle anarchistischen Richtungen knüpfen an die Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft an, doch ohne, wie das Manchester-tum, den Individualismus des kapitalistischen Unternehmertums zu akzeptieren. Der Anarchismus fordert ökonomisch-politischen Aufbau durch die freie Genossenschaft, gegenseitige Hilfe von unten auf, und versucht die assoziativen Tendenzen freier Gruppenbildung zur Grundlage einer neuen Sozialordnung zu machen, die, genau wie bei den übrigen sozialistischen Tendenzen, als eine Gesellschaft ohne Klassen, eine Vereinigung von Freien und Gleichen aufgefaßt wird. (…)
... während Marx und Engels den Staat als Produkt einer natürlichen Arbeitsteilung betrachten, faßt ihn der Anarchismus als aus Unterwerfung hervorgegangen auf und proklamiert deshalb den Kampf gegen das Machtmonopol als Voraussetzung für alle Bestrebungen, die auf Abschaffung der wirtschaftlichen und sozialen Monopole hinauslaufen. Es gilt nicht, den Staat zu erobern, erklären die Anarchisten, sondern ihn zu überwinden - ihn zu "zerstören", wie die destruktive Parole lautet, oder ihn "überflüssig" zu machen im Sinne des genossenschaftlichen Sozialismus eines Gustav Landauer.
Zu den Voraussetzungen des Anarchismus gehört der Appell an den Freiheitswillen und die "direkte Aktion" der Einzelnen und freien Gruppen gegen jede Form von Tyrannei. (...) Der Anarchismus des vorigen Jahrhunderts, vor allem der Syndikalismus, schließt nicht an (...) individualistische Interpretationen an, sondern zeigt stärkere soziale Interessen. Immerhin scheint heute der Augenblick gekommen, in dem man die soziale Forderung wieder einmal vom Gesichtspunkt des Individuums aus denken sollte, um den autoritären Kollektivismus zu vermeiden, der jede Entwicklung zu höherer Kultur bedroht. (…)
Grundsätzlich sei gesagt, daß der Anarchismus eine Lehre von der Befreiung des Menschen ist, die sich an Angehörige aller Klassen wendet, während der Syndikalismus die Erscheinungsform des Anarchismus im Rahmen der modernen Arbeiterbewegung darstellt. (…)
Eine bedeutende Rolle für die spätere Entwicklung des Anarchismus spielte Peter Kropotkin, der als Naturwissenschaftler an die sozialen Fragen herantrat. Er modifizierte die wirtschaftlichen Auffassungen des Anarchismus im Sinne des "freiheitlichen Kommunismus". Proudhon hatte vor allem gerechten Tausch gefordert, wollte jedes wirtschaftliche Privileg abschaffen, dachte jedoch kaum an völlige Gleichheit. Bakunin glaubte, daß auch auf der Grundlage des Gemeinbesitzes der Produktionsmittel das wirtschaftliche Ziel jedes Einzelnen der individuelle Arbeitsertrag sei. Kropotkin war der Auffassung, daß die Abmessung des individuellen Ertrags eine Unmöglichkeit sei. Die Produktivität der Menschheit entwickele sich derart, daß auf einem Gebiete nach dem anderen allmählich freies Konsumtionsrecht eintreten müsse. (...) Kropotkin versuchte vor allem auch, den Gedanken einer herrschaftslosen Ordnung aus der Natur abzuleiten, in der er Harmonie ohne Herrschaft erblicken wollte. (...) Der große Beitrag Kropotkins zur Weiterentwicklung des anarchistischen Gedankens, und vielleicht des sozialistischen Denkens überhaupt, war sein Hinweis auf die Tendenzen der gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, die seiner Meinung nach unter dem Einfluß des Darwinismus unterschätzt wurden.
(...) Die Anarchisten des 19. Jahrhunderts mit Ausnahme Proudhons, dessen Gedanken in den Hintergrund traten, setzten ihre Hoffnungen für die Verwirklichung ihrer Ideen vorwiegend auf die Revolution, deren Kommen sie für sicher hielten. Zu gewissen Zeiten und in mehreren Ländern huldigte man auch der Auffassung, daß der Ausbruch der Revolution durch individuelle Handlungen beschleunigt werden könne. Der Glaube an die Bedeutung des individuellen Terrors hat jedoch in der anarchistischen Theorie keinen nennenswerten Niederschlag gefunden und verschwand nach der Jahrhundertwende vollständig, nicht zuletzt unter dem Einfluß des Syndikalismus, der von der Arbeiterorganisation ausging und auf gewerkschaftliche Aktion mit sozialistischen Zielen hinauslief.
Als einflußreicher Vertreter des syndikalistischen Gedankens kann der jung verstorbene Fernand Pelloutier gelten; die von ihm maßgeblich beeinflußte Föderation der Arbeitsbörsen (lokale Gewerkschaftskartelle) ging später in der Confederation Generale du Travail auf, deren Kongreß in Amiens die Grundlagen des Syndikalismus ausarbeitete. Der Syndikalismus fordert Abstandnahme von jeder Parteipolitik. Die Arbeiter sollen sich ohne Rücksicht auf politische oder religiöse Ideen in gewerkschaftlichen Verbänden organisieren, deren Aufgabe es ist, durch organisierte direkte Aktion die Lage der Arbeiter in der kapitalistischen Ordnung zu verbessern und schließlich mittels eines "sozialen Generalstreiks" zum Großangriff gegen den Kapitalismus vorzugehen und die Verwaltung der Produktion selbst zu übernehmen. (…)
Der internationale Syndikalismus erlebte einen Aufschwung nach der russischen Revolution. Der Rätegedanke, den der Bolschewismus für sich ausnützte, um an die Macht zu kommen, war ursprünglich eine Idee dezentralisierter direkter Demokratie und wurde von den Syndikalisten willkommen geheißen. Doch schon in den zwanziger Jahren kamen die radikaleren Strömungen der Gewerkschaften in den meisten Ländern unter die Führung der Komintern (...)
Eine wirkliche syndikalistische Massenbewegung hielt sich nur in einem einzigen europäischen Lande; in Spanien, wo bereits seit Jahrzehnten etwa die Hälfte der organisierten Arbeiter den syndikalistischen Organisationen angeschlossen war. (…)
Während die Anarchisten und Syndikalisten in früheren Jahrzehnten von dem Gedanken ausgegangen waren, daß die Volksmassen unter allen Umständen innerhalb kürzester Frist ihren Ideen zuneigen und eine freiheitliche Revolution durchführen würden, wurden sie durch die Entwicklung seit 1914 vor andere Tatsachen gestellt, aus denen viele Vertreter dieser Bewegungen die Lehre ziehen, daß ihre Ideen vorwiegend als eine Art Sauerteig in den sozialistischen und demokratischen Bestrebungen der Zeit zu wirken berufen sind. Der ältere Syndikalismus, obwohl bewußt auf konstruktive Leistungen eingestellt, war tief von der marxistischen These beeinflußt, nach der das Proletariat aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung naturnotwendig zu einer gemeinsamen "Ideologie" gelangen mußte. Davon kann jedoch keine Rede sein. Die Sozialstruktur selbst hat sich nicht im Sinne der marxschen Prophezeiungen einer allgemeinen Proletarisierung entwickelt. Innerhalb der eigentlichen Arbeiterklasse machen sich ganz verschiedene Strömungen geltend - Millionen Arbeiter kämpfen nicht für ihre Befreiung, sondern für die Einführung einer neuen Form der Sklaverei. (...) Andere Arbeiterorganisationen wiederum schließen sich dem demokratischen Gedanken an. Die Ideen des Sozialismus sind von den Massen nur in grob vereinfachter Form aufgenommen und von den großen Organisationen in den demokratischen Ländern längst zugunsten eines reformierten und kontrollierten Kapitalismus aufgegeben worden.
Auch der von Marx als selbstverständlich postulierte Internationalismus wurde nicht verwirklicht. Gerade die staatssozialistischen Ideen und später die an die einzelnen nationalen Staaten gebundenen sozialpolitischen Tendenzen trugen zur Stärkung des nationalstaatlichen Gedankens bei. Die Gedankenwelt eines freiheitlichen Sozialismus wird nur von Minoritäten verstanden und vertreten (...)
Aus dieser Tatsache zogen die spanischen Syndikalisten 1936 instinktiv die einzig mögliche Folgerung, daß konstruktiver Kampf für einen freien Sozialismus nur möglich war in systematischer Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Richtungen, die sich jedem Diktaturstreben widersetzten. So wurde der Leitgedanke des spanischen Syndikalismus die Idee der "Allianz" zwischen den beiden vorherrschenden Richtungen der spanischen Arbeiterbewegung auf demokratischer Grundlage mit dem Ziele, die autoritäre Entwicklung auf staatlichem Gebiete zu verhindern und so viel freien Sozialismus wie möglich zu verwirklichen. (…)
Endlich können wir auf neuere Tendenzen im schwedischen Syndikalismus hinweisen. (...) Die schwedischen Syndikalisten haben die Vorstellung der einmaligen proletarischen Revolution längst aufgegeben und kämpfen für Dezentralisierung der Demokratie, erweiterten Einfluß der Arbeiter auf dem Arbeitsplatz, föderalistische Gewerkschaften und sozialistische Kooperation. In einigen nord- und mittelschwedischen Gebieten nehmen sie mittels besonderer kommunalpolitischer Organisationen auch aktiv an der Gemeindepolitik teil, da sie meinen, daß es einer neuen, volksnäheren Form des Repräsentationssystems bedarf, wobei von den bereits vorhandenen Selbstverwaltungsrechten der Kommunen ausgegangen werden kann. (…)
Anarchistische Betrachtungsweisen und speziell freiheitliche Zielsetzungen machen sich heute auch auf verschiedenen Sondergebieten wie Pädagogik, Psychologie usw. geltend; meist geschieht dies ohne Berufung auf den Anarchismus, zuweilen aber auch in bewußtem Anschluß an dessen Traditionen, wie etwa bei dem englischen Kunsthistoriker Herbert Read, dem Arzt Axel Comfort u.a. (…)
Gustav Landauer, der neben Nettlau und Rocker im deutschen Sprachgebiet bekannteste Repräsentant des Anarchismus und freiheitlichen Sozialismus, schrieb einmal, der Sozialismus sei ausgezogen, den Staat zu erobern, aber tatsächlich sei das umgekehrte eingetreten: der Staat habe den Sozialismus erobert. Aber damit hat er ihn seiner Seele beraubt. Daß Sozialismus nicht Verstaatlichung ist, wird heute wieder stärker denn je auch von nichtanarchistischen Sozialisten betont. Daß die fortschreitende Verstaatlichung des sozialen und politischen Lebens nachgerade zu einer Kulturbedrohung wird, die dem Abwehrkampf der Demokratie gegen den östlichen Totalitarismus jeden inneren Sinn nehmen kann, ist eine Einsicht, die sich mehr und mehr verbreitet.
Im Anarchismus und Syndikalismus kam der Geist des Widerstandes gegen diese Gefahren frühzeitig zum Ausdruck. Darüberhinaus wurden in diesen Bewegungen vielfach nuancierte Anregungen und Vorschläge für den Aufbau freier, nichtstaatlicher Wirtschafts- und Verwaltungsformen vorgelegt, die naturgemäß nicht den Wert absoluter Wahrheiten beanspruchen, aber sich entwickeln und in Kontakt mit modernem Sozialdenken belebend auf die Debatte über die sozialen und politischen Grundfragen der Zeit einwirken können.
Aus: Das Neue Mainz, Zeitschrift f. Wirtschaft, Verkehr, Kultur, Nr. 2/1953. Hier: F. Barwich/E. Gerlach/R. Rocker/H. Rüdiger: Arbeiterselbstverwaltung, Räte, Syndikalismus, Karin Kramer Verlag, Berlin 1979, S. 76-92
Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at