Zwischen den Kriegen
(Kapitel 33 des lesenswerten Buches: "Freiheit Pur" von Horst Stowasser, das leider vergriffen ist.)
"Die Weltgeschichte zeigt zu allen Zeiten,
daß die auf Unterdrückungen unmittelbar folgenden
sogenannten ›Befreiungen‹ noch lange keine wirkliche Freiheit bringen."
Max Nettlau
Die relativ kurze Zeitspanne zwischen den beiden Weltkriegen war in der ganzen Welt eine Ära des politischen Umbruchs, eine Zeit, in der die Karten neu gemischt wurden. In diesem Übergang zur Moderne installierte sich der Kapitalismus amerikanischer Prägung, und in vielen westlichen Ländern verschwanden die Reste dessen, was man in romantischer Verklärung als monarchistische Gemütlichkeit empfunden hatte. In Rußland versuchte sich eine Alternative zu etablieren, die, wie wir gesehen haben, keine war. Zwischen diesen beiden Polen wird sich in den kommenden siebzig Jahren die Weltgeschichte abspielen.
Die Epoche, die wir in Deutschland die "Weimarer Ära" nennen, war von einer unglaublichen Dichte an Ereignissen, Ideen und Experimenten geprägt, die Kultur, Technik, Politik, Wissenschaft und Weltanschauung gleichermaßen aufwühlten. Es schien, als ob die Menschen nach dem Schock des Ersten Weltkrieges nichts so sehr suchten wie einen radikalen Neuanfang. Diese latente Bereitschaft war diffus und grenzte nicht selten an irrationalen Wahn. Heilsverkünder aller Couleur hatten Hochkonjunktur in dieser durchgerüttelten Menschheit und hielten reiche Ernte. Am Ende setzten sich die brutalsten und fanatisiertesten durch und führten geradewegs in den nächsten großen Krieg.
Jenseits von Faschismus, Stalinismus und gewöhnlichem Kapitalismus gab es jedoch mehr als eine interessante Alternative. Die meisten von ihnen sind heute vergessen. Der Anarchismus spielte auch in diesen Jahren auf der politischen Bühne keine Hauptrolle, aber seine Alternativen zählen zu den innovativsten und sind nicht mehr zu übersehen. Aus anarchistischer Perspektive stand diese Zeit ohne Zweifel für einen enormen Aufschwung. Nicht nur ein Zuwachs an Stärke machte sich bemerkbar, sondern vor allem auch an Kreativität und Aktion. Im neunzehnten Jahrhundert hatte der Anarchismus zu keinem Zeitpunkt eine für ein Land prägende soziale Rolle gespielt, in der Zwischenkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts sollte dies gleich in mehreren Ländern der Fall sein.
Machen wir also einen kurzen Streifzug durch diese zwei Jahrzehnte, bei dem wir neben der syndikalistischen Hauptströmung auch andere Stränge verfolgen werden, um landestypischen oder inhaltlichen Tendenzen nachzugehen, die bei der bisherigen Betrachtung ausgeblendet werden mußten. Einige dieser damals exotischen ›Nebenlinien‹ sind inzwischen übrigens zu Trendsettern geworden.
Nordamerika
Das Land, das sich im Zwanzigsten Jahrhundert anschickte, seine Lebensart in alle Welt zu exportieren, gilt als die Heimat des smarten, erfolgsorientierten Unternehmertums. Der amerikanische Mythos von den unbegrenzten Möglichkeiten des Selfmademan* hat jedoch als Kehrseite eine besonders krude* Variante des Kapitalismus hervorgebracht, mit deren Hilfe sich die Vereinigten Staaten zur führenden Industrienation machten. Das Fußvolk dieser rasanten Entwicklung bildeten die Massen billiger Arbeitskräfte, die als nahezu rechtlose Emigranten ins Land gekommen waren. Unter ihnen machten sich schon früh radikalsozialistische Tendenzen bemerkbar, die mit der starken individualistischen Tradition amerikanischen Pioniergeistes zu einer landestypischen anarchoiden Legierung verschmolzen. Besonders deutsche Einwanderer spielten hier eine wichtige Rolle, später zunehmend auch russische, schwedische, jüdische, und italienische Emigrantenkreise. Den Samen legten die deutschen Revoluzzer von 1848, die nach Amerika geflohen waren, dem "Land der großen Freiheit".
In den Industriezentren des Ostens gibt es bereits um 1860 eine kämpferische Arbeiterbewegung, einige sehr aktive Sektionen sind in der Internationale organisiert. Die deutschen Sozialisten verfügen über die beste Infrastruktur. Ihre Mitglieder zählen nach Tausenden und gelten als ebenso diszipliniert wie aktiv. Sie besitzen Häuser, Druckereien, mehrsprachige Zeitungen, Verlage und kleinere genossenschaftliche Unternehmen. Ihre beliebteste Organisationsform ist der "Lehr- und Wehrverein", eine Mischung aus linker Abendschule und Schützenverein. Selbstverteidigung schien auch dringend angeraten: Die Methoden der Unternehmer waren oft brutal, Arbeitskonflikte ließen sie gerne von mietbaren Agenten, den berüchtigten "Pinkertons", mit dem Revolver lösen. Spezifisch anarchistische Ideen erlangen erst unter dem Einfluß von Johann Most größere Bedeutung, der 1883 in die USA auswandert und dort das legendäre Blatt Freiheit herausgibt. Dieser volkstümliche Agitator, der sich vom populärsten Sozialdemokraten Deutschlands zum überzeugten Anarchisten gewandelt hatte, verhilft den libertären Ideen auch in den USA zu einer großen Anhängerschaft. Um diese Zeit tobt ein harter Kampf um die Einführung des Achtstundentages. Am 1. Mai 1886 streiken in Chicago 80.000 Arbeiter. Es kommt zu Ausschreitungen, die auf beiden Seiten Tote fordern. Acht anarchistischen Streikführern wird daraufhin der Prozeß gemacht, vier von ihnen werden gehängt, einer begeht Selbstmord. Die drei Überlebenden kommen 1893 frei, nachdem der Gouverneur von Illinois den Schauprozeß offiziell zum Justizmord erklärt hatte. Die fünf Justizopfer, vier von ihnen deutsche Emigranten, gingen als die "Märtyrer von Chicago" in die Geschichte ein; der erste Mai ist seither der internationale Kampftag der Arbeiter.
1927 wird die Welt erneut durch amerikanische Justizmorde erschüttert: Am 23. August sterben die Italo-Amerikaner Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti auf dem elektrischen Stuhl. Der Gesinnungsprozeß gegen die beiden Anarchisten, denen man die Beteiligung an einem Raubüberfall vorwarf, hatte sieben Jahre lang für Schlagzeilen gesorgt und auf allen fünf Kontinenten die größten Protestdemonstrationen ausgelöst, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Auch Sacco und Vanzetti wurden von der amerikanischen Justiz rehabilitiert - nach genau fünfzig Jahren. 1977 erklärte der Gouverneur von Massachusetts den 23.August zum "Sacco und Vanzetti-Gedenktag"...
Die amerikanische Justiz hat eine sehr lange Liste von anarchistischen ›Märtyrern‹ produziert. Solch harte Verfolgung wirft ein Schlaglicht auf die Bedrohung, die die Behörden durch den Anarchismus empfunden haben müssen; die beiden ausgewählten Fälle markieren die Bandbreite der Bewegung: Vom militanten Arbeiterverein bis zur klassischen Agitationsgruppe, zu denen Sacco und Vanzetti gehörten, war der Anarchismus in den Vereinigten Staaten präsent und prägend. Dabei spielte er eine weitaus wichtigere Rolle als etwa die sozialistische Partei, die niemals Bedeutung erlangte. Auch der Marxismus blieb in den USA eher das Hobby städtischer Intellektueller der Ostküste. Die respektlose Direktheit des Anarchismus und das libertäre Ideal eines freien Individuums schienen den rebellischen Traditionen des amerikanischen Volkscharakters eher zu entsprechen.
Es überrascht nicht, daß auch der Syndikalismus in diesem riesigen Land eine etwas andere Prägung bekam. Hier waren die klassenbewußten Arbeiter frei von sozialdemokratischer Konkurrenz, mußten sich dafür jedoch gegen mafiaähnliche Branchenkartelle behaupten, die die offiziellen Gewerkschaften fest im Griff hatten. Diese sahen in der Interessenvertretung der Arbeiter eher ein lukratives Protektionsgeschäft ohne sozialpolitische Inhalte. Die 1905 gegründeten Industrial Workers of the World, kurz IWW genannt, waren die Antwort der selbstbewußten Arbeiter auf diese Zustände. Der Rückhalt dieses Verbandes lag in den Schlüsselindustrien Stahl und Kohle, seine Stärke waren die Transportarbeiter auf Straßen, Schiene und zur See. Ihr verdankten die Wobblies, wie die militanten Syndikalisten im Volksmund genannt wurden, eine rasante Verbreitung im ganzen Land und auch in Übersee, wo sie einige Filialen gründeten. In der gesamten Zwischenkriegszeit gab die IWW in den wichtigsten Arbeitskämpfen den Ton an und brachte es in den Variationen der direkten Aktion zu wahrer Meisterschaft. Neben militanten Streiks entwickelten sie sehr effektvolle Taktiken der Blockade, des passiven Widerstands und vor allem des Boykotts, die nahtlos in die Aktionsformen der Bürgerrechts- und Protestbewegungen unserer Tage übergegangen sind. Mit Erfolg wandte die IWW auch das Mittel des Label an, eines syndikalistischen Markenzeichens für Waren, deren Konsum von den Gewerkschaften empfohlen wurde. Industriezweige, die einen arbeiterfeindlichen Kurs verfolgten, erhielten kein Label, und ihre Produkte wurden, begleitet von sehr wirksamen Publicity-Kampagnen, mit einem Boykott belegt. Der große Anklang, den die Wobblies unter den Wanderarbeitern, im Millionenheer der entwurzelten Arbeitslosen und den Saisonarbeitern in der kalifornischen Landwirtschaft fanden, trug zur Bildung einer spezifischen Subkultur unter Tramps bei, die Eingang in Mythen und Folklore fand. So ist es nicht überraschend, daß der legendäre ›Märtyrer‹ der Wobblies, Josef Hillström, nicht nur ein berüchtigter Streikredner war, sondern vor allem Musiker, Dichter und Sänger. Die Popularität seiner Protestsongs war so besorgniserregend, daß auch er einem Justizkomplott zum Opfer fiel. Auf Betreiben der Kupferbosse wurde Joe Hill, wie ihn die Arbeiter nannten, im November 1915 hingerichtet. Auch seine typisch amerikanische Form des Protestes lebte durch Sänger wie Woodie Guthrie, Pete Seeger und die Protestsänger der 68er Generation fort und ist heute eine feste Größe im Repertoire sozialer Bewegungen.
Der spätere Niedergang der Wobblies ist nicht nur durch die äußerst brutale Verfolgung zu erklären, der die militante Gewerkschaft ausgesetzt war. In einem immens großen Land mit einem stetigen Überangebot von Arbeitskräften war es schwierig genug, Arbeitskämpfe zu rühren und Solidarität zu wahren. Für die Durchsetzung politischer Ziele blieb da wenig Spielraum. So kam die IWW selten über punktuelle Aktionen hinaus. Sie blieb in erster Linie eine Organisation, die mit großer Militanz zwar einiges an den himmelschreienden Zuständen im wilden Kapitalismus Amerikas änderte, aber nicht in der Lage war, Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und dem aufkommenden Nationalismus der vierziger Jahre zu begegnen.
Typisch für den amerikanischen Anarchismus war, daß die linke Dogmatik Europas kaum eine Rolle spielte. Die Trennung zwischen reinem Anarchismus, militantem Syndikalismus und sozialer Protestbewegung mit ihren rivalisierenden Theorien und Schulen hat die USA weitgehend verschont. Als herausragende Vertreterin eines solch undogmatischen Standpunktes kann Emma Goldman gelten, die von der zeitgenössischen Presse einmal als "die gefährlichste Frau Amerikas" bezeichnet wurde. Sie hat sich nicht unterteilt in Frau und Feministin, Anarchistin und Agitatorin, Gewerkschafterin und Philosophin, und genau deshalb war sie so geachtet. Stattdessen hat sie, wie der Titel ihrer Autobiographie verrät, ihr Leben gelebt, und das äußerst intensiv. Ihr bewegtes Schicksal, das sie zwischen Rußland, Amerika und Europa hin und her führte, machte sie schon früh zum begehrten Objekt der Medien. Als junge Fabrikarbeiterin teilt sie das typische Schicksal russischjüdischer Emigranten, engagiert sich für die Rechte der Frau, beteiligt sich an Streiks, agitiert für die mexikanische Revolution und wird zu einer der brillantesten Rednerinnen Amerikas. Sie gründet ihre eigene Zeitschrift, Mother Earth, hält Vorträge, lebt in provozierend offenen Männerbeziehungen. Als man sie nach Rußland deportiert, stürzt sie sich in die revolutionären Ereignisse, flieht vor drohender Verfolgung nach Europa, organisiert die Gefangenenhilfe, spricht auf anarchistischen Kongressen, erlernt einen weiteren Beruf. Bei alldem schreibt sie ebenso klug wie offenherzig über politische Themen, wobei sie ihre eigenen Erfahrungen nachvollziehbar reflektiert. Sie greift dabei auch Fragen auf, die in der männergeprägten Welt des Anarchismus tabu oder zumindestens heikel sind. Selbstverständlich finden wir sie 1936 im revolutionären Spanien wieder, und sie setzt all ihre Kraft ein, im Ausland um Unterstützung für dieses libertäre Experiment zu werben. Es ist bezeichnend, daß die Vereinigten Staaten, deren Bürgerin sie einst war, der berühmten Anarchistin die Rückkehr nie erlaubt haben. Als sie 1940 in Kanada stirbt, war die erste libertäre Blüte in Amerika schon vorüber. Immerhin fühlten sich die Vereinigten Staaten von Amerika dadurch so nachhaltig bedroht, daß sie bis auf den heutigen Tag grundsätzlich jedem Menschen ein Visum verweigern, der sich vor dem Immigration Office als Anhänger anarchistischer Ideen zu erkennen gibt. Es wird ausdrücklich danach gefragt.
Lateinamerika
Als die IWW nach dem ersten Weltkrieg in den Pazifikhäfen Süd- und Mittelamerikas erste Ortskartelle gründete, drang sie auf ein Terrain vor, in dem der Anarchosyndikalismus bereits Fuß gefaßt hatte. Kein Wunder, denn einzelne Länder des Subkontinents konnten auf eine lange libertäre Tradition zurückblicken. Der erste Streik in der Geschichte Mexikos fand 1865 statt, organisiert vom libertären Syndikat der Hutmacher. In Brasilien wurde 1890 eines der frühen anarchistischen Siedlungsprojekte, die Kommune Cecilia gegründet. Argentinien galt als das Land mit der weltweit größten Dichte anarchistischer Presse: dort erschienen über 60 libertäre Blätter in allen möglichen Sprachen, und Buenos Aires leistete sich gar den Luxus zweier anarchistischer Tageszeitungen – eine morgens, eine abends.
Das sind natürlich nur Indizien, die auf die frühe Popularität des Anarchismus in Lateinamerika schließen lassen. Seine Verbreitung war jedoch keineswegs gleichmäßig und hatte sehr unterschiedliche Ursachen. Zwar dürfte es auf dem Subkontinent kaum ein Land ohne libertäre Spuren geben, aber während man in Mexiko, Argentinien, Uruguay oder Kuba von wirklich starken Traditionen sprechen kann, finden wir in Brasilien, Chile, Peru, Bolivien, Costa Rica oder Paraguay bestenfalls zeitweise und regional interessante Ansätze. In Argentinien wiederum ist die Kraft des Anarchismus eindeutig in den Einwanderungsbewegungen um die Jahrhundertwende zu suchen, während seine Wurzeln in Mexiko bis ins hausgemachte Elend der indianischen Ureinwohner reichen. Unterschiedlich stark wirkten sich auch die Bindungen an das sogenannte "Mutterland" Spanien aus, das seinerseits intensiv vom anarchistischen Virus befallen war. Diese Bindungen waren zu Kuba und Mexiko bedeutend stärker als etwa zu Argentinien. Mexiko ist überdies ein Land mit ausgesprochen rebellischen Traditionen. Besonders die landlosen indianischen Kleinbauern haben immer wieder rebelliert und tun dies bis heute. Dabei haben sie, ohne ›Anarchisten‹ zu sein. Aktions- und Lebensformen hervorgebracht, die kaum anders als libertär zu nennen sind. Als in der Agrarrevolution vor dem Ersten Weltkrieg der Bauerngeneral Emiliano Zapata die Indios zum Sturm auf die Hauptstadt führte, geschah dies nicht zufällig unter der libertären Losung "Land und Freiheit". Zapata stand in regem Kontakt zu den Brüdern Flores-Magon, den hervorragendsten Köpfen der anarchistischen Bewegung Mexikos. Gewisse Analogien mit Machnos ukrainischer Bauernguerilla fallen hier geradezu ins Auge.
In der Zwischenkriegszeit jedoch war Argentinien das mit Abstand interessanteste lateinamerikanische Beispiel für die Blüte des Anarchismus. Bei aller Vorsicht gegenüber Superlativen dürfte Argentinien das Land gewesen sein, in dem der Anarchismus seinen bisher höchsten Grad an Popularität erreichte. In dieser sehr europäisch geprägten Republik hatte sich schon 1901 die anarchosyndikalistische Federación Obrera Regional Argentina gegründet, die bis zur Ära des Peronismus* in den 40er Jahren stets die Mehrheitsgewerkschaft stellte. Vielen Neueinwanderern, die 1914 33 Prozent der insgesamt acht Millionen Einwohner ausmachten, wurde diese FORA zur politischen Heimat. In ihr organisierte sich der Industriearbeiter ebenso wie der Taxifahrer oder der Gaucho in der Pampa. Das riesige Land zwischen Chaco, Anden und Kap Hoorn wurde mit einem Netz von Syndikaten überzogen. Als 1904 Syndikalisten und Anarchisten zur Demonstration riefen, zogen 70.000 Menschen durch die Straßen der Hauptstadt, die noch keine Million Einwohner zählte. Argentinische Historiker schätzen, daß zur Zeit des Ersten Weltkrieges jeder zehnte Erwachsene organisierter Libertärer war oder anarchistischen Ideen anhing. Die Delegierten der FORA konnten unangemeldet beim Präsidenten der Republik erscheinen, um ihm die Meinung zu sagen – niemand hätte gewagt, sie zurückzuweisen.
Diese starke Bewegung baute auf einer langen und soliden Vorarbeit zahlreicher anarchistischer Gruppen auf, die seit Jahrzehnten im Lande wirkten. Bekannte Denker wie Enrico Malatesta, Pietro Gori und Luigi Fabbri hatten am Rio de la Plata gelebt und gelehrt und der libertären Kultur dort einen sehr lebendigen, sehr italienischen tauch gegeben. Spanier, Deutsche, Polen, Russen, Balten taten das ihrige dazu, daß der argentinische Anarchismus bunt blieb.
Diese Vielfalt schien indes einer einheitlichen Strategie im Wege zu stehen, denn der argentinische Anarchismus blieb von einer tiefen und unheilvollen Spaltung beherrscht. Man könnte meinen, der organisierte Syndikalismus sei in diesem Land zu früh losgeprescht – bevor nämlich die Debatte um die richtige Strategie zu einem breiten Konsens geführt hatte. Während ein libertärer Flügel den gewerkschaftlichen Weg beschritt und programmatisch beschloß, daß "der Generalstreik die Basis des wirtschaftlichen Kampfes und der Streik eine Schulung zur Rebellion" zu sein habe, beharrte der andere auf anarchistischem Skeptizismus: Er hielt jede Gewerkschaft für zahm und kompromißlerisch. Der alte Streit darüber, ob das System an den staatlichen Organen oder der wirtschaftlichen Basis anzugreifen sei, brach nach dem ersten großen Generalstreik in aller Härte aus: Man konnte sich nicht darüber einigen, ob er nun ein Sieg oder eine Niederlage war. Fortan wurde polemisiert, und man ging zunehmend getrennte Wege. Während das FORA-Blatt La Protesta zu Kundgebungen, Streiks und Boykotten aufrief, sah sich die Leserschaft von La Antorcha ' eher zu Gefangenenbefreiung, Sabotageaktionen oder "revolutionären Enteignungen" animiert. Aus dieser Ecke kam übrigens auch der skurrile* Plan, den Kapitalismus durch den massenhaften Umlauf von Falschgeld in die Knie zu zwingen, wobei es nicht einer gewissen Ironie entbehrt, daß die allerbesten ›Blüten‹ heimlich in der Druckerei des Staatsgefängnisses von Punta Carreta hergestellt wurden. Trotz aller Härte, mit der diese ideologischen Grabenkämpfe ausgetragen wurden, taten sie der wachsenden Popularität des Anarchismus in Argentinien keinen Abbruch. Der anarchophile Durchschnittsporteño* interessierte sich nicht übermäßig für anarchistische Glaubensfragen; er schien selbst zu wissen, wann Friedfertigkeit angesagt war und wann es Zeit wurde, die Faust aus der Tasche zu ziehen.
Das war zum Beispiel zur Jahreswende 1918/19 der Fall gewesen, als es in Buenos Aires zu dem erwähnten bewaffneten Generalstreik kam, der sich vierzehn Tage lang mit schweren Kämpfen hinzog. Der für südamerikanische Verhältnisse geringfügige Anlaß – Polizisten hatten das Feuer auf einen anarchistischen Trauerzug eröffnet –, reichte diesmal zur Explosion des Zorns. Unter dem Eindruck der Russischen Revolution und meuternder Matrosen in Deutschland ging es den Industriearbeitern von Buenos Aires jetzt nicht mehr um irgendwelche Forderungen, sondern um den Besitz der Fabriken, um die soziale Revolution. Seit 1905 hatte die FORA bereits den freien Sonntag, das Streikrecht, Renten, Unfallkassen, Arbeitslosengeld und Arbeitszeitverkürzungen erstritten und fragte sich, ob sie damit ihrem eigentlichen Ziel näher gekommen sei. Diesmal wollten es die Syndikalisten wissen und riefen zum Umsturz. Das Echo war enorm, das Land wurde lahmgelegt und die Revolte griff um sich. Wichtige strategische Punkte und zahllose Fabriken wurden besetzt, unter ihnen der größte Schwerindustriekomplex des Landes, die Vasena-Werke. Aber gegen Armee, Polizei und die halbfaschistischen Banden der Liga Patriotica konnten sich die spärlich bewaffneten Arbeiter nicht lange halten. Dennoch gab die Regierung nach, bestrafte die Polizisten, ersetzte den Gewerkschaften ihre Schäden und erfüllte eine Reihe alter Forderungen - ein überaus kluger Akt der Staatskunst des populistischen Präsidenten Yrigoyen. Der hatte klar erkannt, daß andernfalls ein Putsch der Militärs oder die anarchistische Revolution auf der Tagesordnung gestanden hätte. Es erstaunt nicht, daß dieser Schachzug die Anarchisten entzweite.
Noch einmal vereint waren sie, als die FORA 1921/22 im fernen Patagonien einen Landarbeiterstreik organisierte, der schnell in einen allgemeinen Aufstand umschlug. Hier, im dünn besiedelten kalten Süden, auf den Ländereien wallisischer Schafzüchter, arbeiteten überwiegend chilenische Wanderknechte und europäische Emigranten unter schauderhaften Bedingungen. Fast alle waren gewerkschaftlich organisiert. Die rebellierenden peones zogen nun von Estancia zu Estancia, proklamierten in jedem Dorf den comunismo libertario und vertrieben mit Leichtigkeit die ohnehin schwach vertretene staatliche Autorität. Aus einem Gebiet, halb so groß wie Deutschland, flohen die Besitzenden. Die Revolutionäre konnten ihr Glück kaum fassen! Während die einen eine permanente fiesta feierten, begannen andere, sich konstruktiveren Plänen zuzuwenden. Aber nach anfänglichem Zaudern kehrte die Staatlichkeit zurück: Auf Druck der einflußreichen Mitglieder des Country Club sandte die Regierung in Buenos Aires ein Expeditionskorps aus. Zwar hatten die Anarchisten neben Staat und Privatbesitz auch die Armee für abgeschafft erklärt, aber das 10. argentinische Regiment unter Coronel Varela störte sich nicht daran. Es machte kurzen Prozeß und hinterließ 1800 Tote.
Der Anarchismus in Argentinien aber ließ sich nicht so einfach erledigen wie der patagonische Aufstand; seine Wurzeln reichten zu tief und er überlebte bis heute. Daß er so viele, so langwierige und so grausame Diktaturen überstehen konnte, liegt gewiß auch an seiner einzigartigen Volkstümlichkeit. Jenseits aller politischen Tageskämpfe entstanden hier Werte, die steh tief ins Unterbewußtsein der nationalen Identität gruben. Anarchisten hatten Bibliotheken, Schulen, Kinderhorte und Volksküchen organisiert, Kooperativen aufgebaut, Theater übers Land geschickt. Sie hinterließen ihre Spuren in Poesie und Musik, und umstürzlerische Vokabeln mischten sich in Tangos und Zambas, die von den beliebten payadores* auf jedem Fest gesungen wurden. Ihre folkloristischste Kreation aber blieb der Typ des linyera: ein umherziehender Agitator mit wallendem Haar und langem Bart, zu gleichen Teilen Gaucho, Vagabund und Gelehrter. Mit Büchern, Gitarre und Pferd zog er durch die Pampa, um den Leuten Lesen, Schreiben und das ABC des Anarchismus beizubringen. Eine für die Zwischenkriegsepoche geradezu typische Figur, deren Pendant* wir damals auch in Thüringen oder der Extremadura hätten begegnen können.
1929 schlossen sich auf einem Kongreß in Buenos Aires vierzehn libertäre Gewerkschaftsverbände Mittel- und Südamerikas zur ACAT zusammen, der Kontinental- Amerikanischen Arbeiter-Assoziation, einer Untergruppierung der in Berlin ansässigen IAA. Noch stand der Anarchismus Lateinamerikas in kräftiger Blüte, noch schien es möglich, die sich abzeichnende Gefahr des Faschismus zu ersticken. Aber die entscheidenden Schlachten wurden anderswo geschlagen und verloren. Obwohl nur indirekt betroffen, überstand die libertäre Bewegung des Subkontinents die Jahre des Naziterrors auch nicht viel besser als die europäische. Die tiefe Krise, in der sich der Anarchismus nach dem zweiten Weltkrieg wiederfand, setzte mit einigen Jahren Verzögerung auch dort mit voller Wirkung ein. Die zeitweilige Belebung durch die Flüchtlinge der Spanischen Revolution war im Grunde nichts weiter als das Echo einer Niederlage. Es konnte nicht verhindern, daß der libertäre Diskurs in den Zeiten des kalten Krieges kein Thema mehr war.
Die italienischen Fabrikräte
Generelles Alkoholverbot und strenge Selbstdisziplin hatten sich die Arbeiter auferlegt, die im Sommer 1920 in Norditalien die Metallbetriebe besetzten, um sie in eigene Regie zu übernehmen. Bewaffnete Patrouillen sicherten die großen Fabriken von Mailand und Turin, die man mit Laufgräben und Maschinengewehren in wahre Festungen verwandelt hatte. Da sich die meisten Ingenieure und Vorarbeiter der Selbstverwaltung verweigerten, organisierten sogenannte "Arbeiterkomitees für Technik und Verwaltung" den Produktionsablauf. Ab nun bestimmten die Fabrikräte den Kurs der Branche. Da das Experiment auch auf andere Wirtschaftszweige übergriff, konnten die selbstverwalteten Betriebe in eine direkte solidarwirtschaftliche Kooperation treten: Erz und Kohle wurde in Gemeineigentum überführt, und sogar die Banken spielten zunächst mit. Als diese sich später abwandten, gaben die Räte eigene Zahlungsmittel heraus.
Zu diesem Experiment kam es zweifellos unter dem Eindruck der Russischen Revolution, die vom italienischen Proletariat einschließlich der Anarchisten begeistert gefeiert wurde. Eine regelrechte Räte-Euphorie setzte ein. Schon im Februar 1919 hatte der italienische Metallarbeiterverband FIOM die Einrichtung betriebsinterner "Arbeiterkommissionen" erkämpft. Sie sollten sich, so hoffte man, durch Streiks, Besetzungen und direkte Aktionen schrittweise in Fabrikräte umwandeln, die in der Lage wären, die Produktionsmittel zu sozialisieren. Daraufhin sperrt im August 1920 das Patronat* die Arbeiter aus, die antworten mit der generellen Besetzung der Betriebe. Dieser Zustand währte einige Wochen und fand in Rom sein Ende in Verhandlungen, bei denen die Rückgabe der Fabriken mit dem Versprechen erkauft wurde, eine Arbeiterkontrolle einzuführen. Der reformistische Mehrheitsflügel der Gewerkschaft stellte das als großen Sieg hin, die radikalen Kräfte waren fassungslos. Der Triumph war in greifbare Nähe gerückt und wurde um nichts verspielt. Mit Recht bemerkte Malatesta, daß man sich kaum eine günstigere Gelegenheit zur sozialen Revolution hätte wünschen können: die Regierung schwach, die Bourgeoisie verunsichert, die Menschen radikalisiert durch Krieg und Hunger, die heimgekehrten Soldaten geschult im Umgang mit Waffen und die Schlüsselindustrie in den Händen der Arbeiter. Wie zutreffend diese Einschätzung war, bewies zwei Jahre später Mussolini, dem mit nur vier von diesen Druckmitteln der italienische Staat wie eine reife Pflaume in den Schoß fiel.
Nach Auflösung der Fabrikräte kam es zum endgültigen Bruch zwischen dem reformistischen italienischen Gewerkschaftsverband und den Anarchosyndikalisten, deren 1914 gegründete Unione Sindacale Italiana rund eine halbe Million Mitglieder zählte. Sie hatte die Besetzungen aktiv unterstützt, und nachdem sich die Wogen geglättet hatten, stellte der Staat über 80 Libertäre unter Anklage. Bis auf den USI-Vorsitzenden Armando Borghi und Errico Malatesta, der die anarchistische Tageszeitung Umanita Nova herausgab, wurden alle freigesprochen. Zwar konnte man auch diesen beiden nichts Strafbares anhängen, aber sie galten, wohl nicht ganz zu unrecht, als gefährliche Elemente; man behielt sie vorsichtshalber noch acht Monate hinter Gittern. Tragischer verlief das Schicksal des jungen Turiner Intellektuellen Antonio Gramsci, dem eigentlichen geistigen Vater des italienischen Rätemodells. Dieser von anarchistischen Ideen stark beeinflußte Linkssozialist entwickelte in seinem Wochenblatt Ordine Nuovo eine eigenständige Rätetheorie. Obwohl Mitglied der Sozialistischen Partei, vertrat er die These, daß die direkte Arbeitermacht sowohl den Syndikalismus als auch Parteien und politische Gruppen überflüssig machen würde. Dabei glaubte er noch, daß sich derzeit in Rußland genau dies vollziehe. Die heißen Debatten, die sich Sozialisten, Syndikalisten, Räteanhänger und Anarchisten damals über den wahren und unwahren Charakter der Räte lieferten, mögen uns heute vielleicht etwas überspannt erscheinen. Entscheidend jedoch war, daß aus dieser Diskussion ein grober Konsens entstand, der zu einer gemeinsamen Plattform, zu einheitlichem Handeln und einem großen sozialen Experiment führte. Es entstand eine Art libertärer Einheitsfront, die bewies, daß antiautoritäre Ideen auch außerhalb des Anarchismus eine Basis fanden und – was entscheidend war – in der Arbeiterschaft lebhafte Resonanz hervorriefen. Der Staat machte Gramsci zum Sündenbock der Unruhen und ließ ihn büßen. Nach fast zehnjähriger Einzelhaft starb er im Gefängnis. Ihres kritischsten Kopfes beraubt, wurde die Sozialistische Partei schon im folgenden Jahr zur leichten Beute der moskauhörigen Kommunisten: Sie inszenierten eine Spaltung, aus der 1921 die Kommunistische Partei Italiens hervorging.
Bezeichnend für die politische Wirrnis jener Tage ist der Versuch eines bolschewistischen Abgesandten, die Inhaftierung von Borghi und Malatesta zu nutzen, um die USI zu kaufen. Er bot 300.000 Lire an, falls die Anarchosyndikalisten ihren Vorsitzenden abwählten und sich dem reformistischen Dachverband anschlössen. Lenin glaubte, auf diese Weise das anarchistische Element eindämmen und gleichzeitig über eine starke oppositionelle Fraktion im Zentralverband verfügen zu können, die er auf Moskauer Kurs zu trimmen hoffte. Zuvor nämlich war in Rußland der Versuch gescheitert, die anarchosyndikalistische Internationale zu umwerben und vor den eigenen Karren zu spannen. Sie sollte – angesichts des weltweiten Mangels an kommunistischen Gewerkschaften – zum Beitritt in die "Rote Gewerkschaftsinternationale" bewegt werden, einem Konstrukt, an dem man in Moskau seit Jahren laborierte, um es international zum Werkzeug der russischen Interessen zu machen. Die zahlreichen Anarchisten, die 1920 und 1921 als Delegierte in Rußland weilten, sahen sich jedoch kritisch um und brachten ernüchternde Berichte nach Hause, die am wahren Charakter der Bolschewiki keinen Zweifel ließen. Auch die USI ging nicht auf das Manöver ein.
Europa
Das Experiment der italienischen Fabrikräte steht hier stellvertretend für das politische Klima der Zwischenkriegszeit in Europa. Natürlich ist es nur ein Beispiel. Auch in anderen Ländern, ja sogar in Italien, kam es zu zahlreichen weiteren Gärungen, Experimenten, Erschütterungen. In allen zeigte sich die Hoffnung, mit der die Zwischenkriegszeit begann. In Deutschland und Ungarn entstanden Räterepubliken, Unruhen in Polen, Finnland und auf dem Balkan standen im Zeichen gesellschaftlicher Emanzipation, in Frankreich, Spanien und Portugal brachen soziale Konflikte auf und selbst in braven Gegenden wie Großbritannien und Skandinavien machte sich eine zunehmende Sympathie mit den Bewegungen:, bemerkbar, die eine freie soziale Ordnung anstrebten.
Was den Anarchismus angeht, so stehen diese Jahre jenseits aller spektakulären Experimente für ein stetiges Anwachsen und die innere Festigung der Bewegung. In vielen Ländern können die Libertären jetzt legal auftreten und ihre Ideen öffentlich verbreiten. Allenorts entstehen Gruppen, Zeitungen, Föderationen. In Bulgarien, Portugal, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei verschafft sich der Anarchismus zunehmend Gehör. Und überall das gleiche Bild: Die erste Euphorie über die Russische Revolution verfliegt, gefolgt von einem Prozeß der eigenen Konsolidierung, der schon bald an die Grenzen stößt, die ein neuer Gegner diktiert: der Faschismus. In einigen Ländern stramm national geprägt, in anderen eher rassistisch, sozialchauvinistisch, gewerkschaftlich oder religiös, breitet er sich in den zwanziger Jahren in ganz Europa aus. In einigen Ländern kommt er sehr früh an die Macht, in anderen verzögert sich seine Ausbreitung um viele Jahre. Das Gemeinsame aller faschistoiden Spielarten ist, daß sie erklärte Gegner der Freiheit sind und unversöhnliche Feinde einer selbstbewußten, kämpferischen Arbeiterschaft. Mithin wird der Faschismus in Europa zum Gegner Nummer eins der Anarchisten.
Einer, der diese Gefahr früh erkannte und schon 1920 auf eine Einheitsfront gegen Rechts hinzuwirken versuchte, war der unermüdliche Malatesta. Als die antifaschistische Allianz 1922 endlich zustande kam und einen Generalstreik proklamierte, waren Mussolinis Schwarzhemden bereits zu stark. Ihr "Marsch auf Rom" war nicht mehr aufzuhalten, und der Duce, auf den der Anarchist Anteo Zamboni 1926 ein erfolgloses Attentat verüben sollte, wurde zum ersten faschistischen Diktator. Dieser krankhafte Egomane, der sich bis 1914 als Sozialist verstand und gelegentlich auch versucht hatte, sich bei Anarchisten anzubiedern, war Malatesta übrigens 1913 persönlich begegnet. Das Urteil des alten Anarchisten über den damaligen Herausgeber des Sozialistenblattes Avanti war eindeutig: "Ich habe mit diesem Menschen nichts gemein."
Als Polizei und Faschisten 1922 den Generalstreik blutig unterdrückten, wurde auch das Bild Malatestas öffentlich verbrannt. Der populäre Anarchist war den neuen Machthabern ein rotes Tuch. Als er 1919 sechsundsechzigjährig nach Italien zurückgekehrt war, jubelte ihm die Volksmenge zu, und der liberale Corriere della Sera bezeichnete ihn als "eine der größten Persönlichkeiten des italienischen Lebens". Zusammen mit anderen Oppositionellen wurde er jetzt erneut verhaftet, aber ohne Gerichtsverhandlung wieder freigelassen. Mit siebzig Jahren nahm er seinen Beruf als Elektriker wieder auf und lehnte es ab, ins Exil zu gehen. Bis zu seinem Tode hielten ihn die Behörden unter Hausarrest, wo er noch einige für die Programmatik des Anarchismus bedeutende Aufsätze verfaßte. Als er 1932 starb, trauerte die halbe Nation um den unbeugsamen alten Mann. Der Hafen von Genua erstarb unter dem minutenlangen Heulen der Schiffs- und Fabriksirenen.
Ähnlich wie Emma Goldman ist Errico Malatesta oft und gerne als exemplarischer Anarchist dargestellt worden. Auch wenn stets etwas Verklärung mit im Spiel ist, wenn abenteuerliche Lebensläufe den Hintergrund eines Menschen abgeben, so kann man diesem Kompliment kaum widersprechen. Malatesta zeichnete sich in der Tat durch eine hohe persönliche Integrität aus, die ihn zum Vorzeigeanarchisten geradezu prädestinierte. Obwohl er zu einer berühmten Figur wurde, hat er den Rummel um Personen zutiefst gehaßt. Als er einmal als "Bakunist" bezeichnet wurde, entgegnete er gereizt: "Wir folgen Ideen, nicht Männern." Im Gegensatz zu Bakunin oder Kropotkin, die im Grunde immer konvertierte Aristokraten blieben, lebte der Bauernsohn Malatesta, der "für die Revolution" sein Medizinstudium aufgab, ausschließlich von seiner Hände Arbeit. Diese Revolution schürte er nach Kräften in Italien, England, Frankreich, Argentinien, Kuba, in den USA, der Schweiz und sogar in Ägypten. Er floh in einer als Nähmaschine deklarierten Stückgutkiste nach Buenos Aires und entwich in einem Ruderboot von der Gefängnisinsel Lampedusa. Mehr als zehn Jahre verbrachte er in Untersuchungshaft, ohne jemals rechtskräftig verurteilt zu werden. Seine klaren Analysen brachten komplizierte Sachverhalte auf den Punkt, und als Redner war er ebenso beliebt wie als Autor populär. Ganze Generationen einfacher Menschen fanden durch seine wohlfeilen und leichtverständlichen Broschüren, in denen die Arbeiter Carlo und Luigi oder die Bauern Giorgio und Pepino im Zwiegespräch soziale Fragen erörtern, Zugang zur Ideenwelt des Anarchismus. Sie erschienen in allen möglichen Sprachen, erreichten Massenauflagen und sind noch heute ungetrübt genießbar.
Große Sympathien heimste Malatesta auch durch seine politische Offenheit ein. Obgleich er sehr entschieden Stellung beziehen konnte, hatte er für ideologische Fraktionen nichts übrig. Wie wenige besaß er die Gabe, das Gemeinsame zu entdecken und vermittelnd zu wirken. Sein Anarchismus war ein "Anarchismus ohne Adjektive*"; statt Formeln zu folgen, zog er es vor, sich sein eigenes kritisches Urteil zu bilden und, wenn nötig, umzudenken. Angesichts starrköpfiger Dogmatiker, wie sie auch im Anarchismus nicht selten vorkommen, hielt er es mit seinem Freund Saverio Merlino, der geschrieben hatte: "Die Menschheit marschiert nicht auf einem einzigen Weg und nach der Schulrute ihrem Ziele zu. Erwarten wir viele Überraschungen und vertrauen wir nicht zu sehr unserer eigenen Phraseologie."
Exotica
Unweit von Seoul befindet sich das Museum der Nationalen Unabhängigkeit. In der großzügigen Anlage ist eine ganze Abteilung dem "heroischen Kampf der Anarchisten in Korea" gewidmet, an deren Eingang eine überlebensgroße Bronzestatue von Kim Jwa Jin steht, dem "koreanischen Machno". Dessen Bauernguerilla befreite in den zwanziger Jahren die Hälfte der mandschurischen Provinz Fu Kien, unter deren 15 Millionen Einwohnern sie den Aufbau eines dörflichen Gemeinwesens nach den Prinzipien der Koreanischen Anarchistischen Föderation vorantrieb. Der Befreier wurde 1930 von einem Agenten Stalins ermordet; die Volksarmee ging im Widerstand gegen die japanische Invasion unter und mit ihr das libertäre Experiment.
Der koreanische Anarchismus führt seine Wurzeln tief in die Traditionen der eigenen Kultur zurück und datiert ihren Beginn auf das Ende der Lee-Dynastie, als der rationalistische Philosoph Yui Hyan Won Anfang des 18. Jahrhunderts das egalitäre Kyun-Jeon System zur Landreform entwickelte, um damit das Ende des Feudalismus einzuläuten. Solche libertären Traditionen entstanden völlig unabhängig vom abendländischen Denken oder den sozialen Kämpfen Europas. Erst nach der Öffnung der asiatischen Nationen kamen um die Jahrhundertwende die Ideen des westlichen Anarchismus nach Japan, China und Korea. Es handelte sich dabei meist um Exportware: Zahlreiche Intellektuelle, die in Paris, London, Rom oder Berlin studierten, wurden zu begeisterten Adepten der Lehre und versuchten nach ihrer Rückkehr eine - oftmals unkritische - Verpflanzung in ihre Heimat. So erlebte etwa Japan um 1905 einen regelrechten Kropotkin-Boom. Erst in der Auseinandersetzung mit eigenen freiheitlichen und rebellischen Traditionen kam es teilweise zu einer Synthese, die in manchen Ländern zum Ausgangspunkt einer eigenständigen anarchistischen Bewegung wurde. Auffallend aber blieb stets der Versuch, die nationale Variante in Analogie zur europäischen Entwicklung zu sehen. So wird beispielsweise der koreanische Philosoph Chung Dasan (1760 - 1833), der mit dem Yeo-Jeon System ein dörfliches Selbstverwaltungsmodell anarchokollektivistischen Zuschnitts entwickelte, gerne als der "koreanische Godwin" bezeichnet. Und die Bauernrevolten, die zwischen 1867 und 1894 dreiundfünfzig Landkreise befreiten, in denen die Hälfte der Getreideproduktion des Landes kollektivwirtschaftlich erbracht wurde, gilt unter koreanischen Libertären als Vorläufer der Spanischen Revolution.
Im Vergleich zum europäischen Anarchismus nehmen diese Bewegungen oft bizarre Formen an. Klare Grenzen zwischen nationaler Befreiung und konfuzianischem Hierarchiedenken lassen sich oftmals schwer erkennen. So findet sich im Shanghaier Exilkabinett des späteren koreanischen Premierministers Syngman Rhee 1919 ein anarchistischer Minister namens Yu Rim, und 1946 spaltet sich aus der libertären Bewegung gar eine "Anarchistische Partei" ab, die nach den Wahlen fünf Abgeordnete ins Parlament bringt. Solche Indizien lassen auf einen recht starken Rückhalt der koreanischen Anarchisten schließen, die seit der Jahrhundertwende mit zahllosen Gruppen, Zeitungen und auffallend vielen schwarzen Fahnen die gleiche plakative Propaganda betreiben, wie sie auch im Westen üblich ist. Das große Prestige aber, von dem der koreanische Anarchismus noch heute zehrt und der ihm den kuriosen Ehrenplatz im Nationalmuseum besehene, gründet sich auf der Rolle, die Anarchisten zwischen 1931 und 1945 im Kampf gegen die japanischen Besatzer spielten. Im Mutterland ebenso wie im Exil organisierten sie einen empfindlichen Widerstand, der von Guerillagruppen bis zu Attentaten auf japanische Generäle reichte.
Hierzulande ist der koreanische Anarchismus selbst unter belesenen Libertären eine unbekannte Größe. Und Korea steht hier nur als Beispiel für andere Länder, die ähnliche Entwicklungen vorweisen können. Im Allgemeinen ist Anarchismus in Asien für westliche Anarchos eher ein Stück Exotik als ein ernstzunehmendes Thema. Dabei könnte man über die Rolle der japanischen Meji-Sozialisten im Spannungsfeld zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus vor dem Ersten Weltkrieg ebenso trefflich disputieren wie über die Auseinandersetzungen zwischen den Libertären und Marxisten Europas in der ersten oder zweiten Internationale. Unser eurozentrisches* Weltbild jedoch verfährt recht gnadenlos mit solchen ›Exotica‹. Das führt leicht dazu, den Einfluß zu übersehen, den die libertären Bewegungen Asiens in der Zwischenkriegszeit, besonders in den Wirren des chinesischen Bürgerkrieges und der japanischen Aggressionen, ausübten. In China beispielsweise erschöpfte sich dieser Einfluß nicht in dem philosophischen Disput, der die Kreise fortschrittlicher Intellektueller erfaßte, zu denen übrigens auch der junge Mao Tse-Tung zählte, der vor seiner Karriere als Parteikommunist einer sogenannten "weichen Linie" des chinesischen Anarchismus angehörte. Das Echo libertärer Ideen reichte weiter und hinterließ auch dauerhaftere Spuren. So wurden etliche Schriftsteller des Landes zu veritablen Libertären, etwa der große chinesische Literat Pa Chin. Die anarchistische Agitation erfaßte insbesondere die Arbeiterschaft in den Industriezentren; Schanghai wurde zeitweise zu einer Drehscheibe libertärer Aktivitäten. Aus Berichten von asiatischen Anarchistenkongressen jener Tage geht zum Beispiel hervor, daß die in libertären Kreisen weltweit propagierte Kunstsprache Esperanto damals unter den Delegierten als gängige Verkehrssprache benutzt wurde. Selbst im ultraautoritären Japan schien der Tennö-Staat die anarchistischen Umtriebe als Bedrohung empfunden zu haben. So nutzte die Militärpolizei das Chaos nach dem großen Erdbeben von 1923, um mit den militanten Libertärsozialisten abzurechnen, zu denen übrigens zahlreiche koreanische ›Gastarbeiter‹ zählten. Sie inszenierte ein Massaker, bei dem auch die bekannte japanische Anarchistin Ito Noe und ihr Lebensgefährte Ösugi Sakae den Tod fanden. Dennoch sah sich die japanische Bewegung Ende der zwanziger Jahre in der Lage, große Mobilisationen gegen den Militarismus oder für Sacco und Vanzetti zu organisieren.
Auch wenn der chinesische Mao-Kommunismus, der Imperialismus Japans und die folgende Amerikanisierung im pazifischen Raum den libertären Aufbruch Asiens stoppten, konnten sie doch die Bewegung nicht ausrotten. Nur ein Jahr nach der demokratischen Öffnung Koreas konnte die wiederauferstandene Anarchistische Föderation des Landes 1988 mit einem großen, internationalen Kongress demonstrieren, daß ihre Ideen auch vierzig Jahre Illegalität überstehen konnten.
Weniger exotisch aber ebenso unbekannt präsentiert sich die anarchistische Bewegung in Australien, die 1986 zu einer fast offiziösen internationalen Geburtstagsparty einlud. Hundert Jahre zuvor war es in Melbourne als Reaktion auf den Justizmord von Chicago zu Unruhen gekommen, in deren Folge sich die ersten "Anarchist Clubs" bildeten. Die Bewegung war der Nordamerikas sehr ähnlich, obwohl in Australien – infolge der Bindungen ans britische "Mutterland" – die Rolle der Gewerkschaften und der sozialistischen Partei eher von europäischem Zuschnitt war. Die meisten Anarchisten entstammten der Arbeiterbewegung und hatten einen soliden sozialistischen Hintergrund. Anarchosyndikalistische Praxis verfing hier weit mehr als die reine anarchistische Philosophie. Während der ersten Jahrzehnte spielten die Libertären eine Art Oppositionsrolle in den australischen Gewerkschaften, später bereichert durch den Einfluß der IWW, der über die australischen Seehäfen auf den fünften Kontinent gelangte. Die Bewegung brachte einige populäre Gestalten hervor, wie William Lerne, der 1892 den vielgelesenen Roman "Workingman's Paradise" schrieb oder den talentierten und wortgewaltigen Organisator J. W. Fleming. Beim Kriegseintritt Australiens 1914 bildeten die Anarchisten die einzige ernstzunehmende antimilitaristische Opposition, wobei das große Engagement von Frauen besonders auffällig war.
Immer wieder gab es auch libertäre Intellektuelle, von denen sich einige anschickten, die freiheitlichen Wurzeln zu untersuchen, die die sanften Lebenszusammenhänge der australischen Ureinwohner auszeichnen, deren archaische Gesellschaft auf gegenseitiger Hilfe aufbaut und keine Herrscher kennt. Diese Aborigines rückten durch die Verfolgungen, denen sie durch die weißen Eindringlinge ausgesetzt waren, zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und bilden heute ein wichtiges Feld libertären Engagements. Auf der anderen Seite bildete auch der traditionell-australische Habitus des unabhängigen und obrigkeitsfeindlichen Outback-Pioniers, der von jeher Elemente einer ebenso individualistischen wie rebellischen Dickköpfigkeit aufwies, einen guten Nährboden für libertäre Ideen und begünstigte die Entwicklung der Bewegung. Die Identität des weißen Australien entstand schließlich aus einer Strafkolonie! Das klassische Einwanderungsland wurde seit der Jahrhundertwende ungezählten Immigranten zur neuen Heimat, unter ihnen viele politisch Verfolgte, die sich eifrig in ihren jeweiligen Gruppen organisierten und zum Entstehen einer vielsprachigen libertären Presse beitrugen.
Der australische Anarchismus führte - bedingt durch die geografische Isolation - ein recht unspektakuläres Eigenleben, das naturgemäß schwache Bindungen an die Bewegung im Westen entwickelte. Eine der landestypischen Varianten, die ihn bis heute hervorhebt, ist sein reiches Repertoire an ländlichen Kommune- und Siedlungsexperimenten, was in einem solch großflächigen Land nicht erstaunt, in dem der Boden billig ist und die Regierung weit. Während anarchistische Gewerkschafter in den großen Städten Streiks organisierten, gab es in Australien schon immer auch Individualisten, die in Gruppen aufs Land zogen, um auf irgendeiner Farm des Hinterlandes zu versuchen, das anarchistische Ideal praktisch umzusetzen.
Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/as17.html