Fritz Linow - Gewerkschaftliche Interessenvertretung und Arbeitsgerichtsbarkeit (1928)
Je mehr sich die kapitalistische Wirtschaft dem Zustand der absoluten Kartellherrschaft nähert, um so größer werden die Interessengegensätze zwischen den Besitzern der Rohstoffe und Arbeitsinstrumente und den Inhabern der manuellen und intellektuellen Arbeitskraft.
Es ist selbstverständlich, daß die Wirkungen der sich ständig erweiternden Kluft zwischen den verschiedenen Wirtschaftskreisen zu gewaltigen Spannungen in der ganzen Gesellschaftsorganisation führen, denn in dem Maße, wie sich die industriellen und agrarischen Produktionsformen verdichten, wie sie sich zentralisieren und in den Händen weniger Kapitalsbesitzer konzentrieren, wächst der wirtschaftliche Despotismus einer schwachen Minorität einerseits und die wirtschaftliche Ohnmacht großer Volksmassen andererseits. Für die so geschaffene Situation auf dem Gebiete der Gütererzeugung gibt es nur zwei Möglichkeiten, sich gegen den wachsenden, aber meist ganz instinktiven Widerstand der an der kapitalistischen Wirtschaftsweise desinteressierten Volksmassen durchzusetzen. Die eine dieser Möglichkeiten ist die vollständige Tyrannei auf allen Gebieten des Gesellschaftslebens. Sie mündet aus in die Herrschaft des Faschismus. Die andere liegt auf dem Gebiete der sogenannten gütlichen Verständigung und bildet in Deutschland das wirksamste Mittel des Unternehmertums, sich gegen die Arbeiterschaft durchzusetzen.
Es darf bei der letzten Möglichkeit aber nicht verkannt werden, daß auch sie eine Form des Despotismus ist. Nur sind die Mittel, derer sie sich bedient, gemilderter, aber deshalb nicht weniger gefährlich als die der faschistischen Willkürherrschaft. Die letzte Tatsache tritt ganz besonders klar in Erscheinung, wenn wir einen Blick auf die Beschränkung der gewerkschaftlichen Koalitionsfreiheit, der gewerkschaftlichen Interessenvertretung und des gewerkschaftlichen Kampfes gegen die kapitalistische Monopolwirtschaft werfen und dabei nicht vergessen, die Arbeitsgerichtsbarkeit in den Kreis unserer Betrachtungen einzubeziehen. Vergessen soll bei dieser Betrachtung aber auch nicht werden, daß gerade die Arbeitsgerichtsbarkeit die gewerkschaftlichen Methoden und Tätigkeitsgebiete beschränkte, um solchermaßen die Wirtschaft vor Erschütterungen zu bewahren.
Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist keine neue Erfindung des Kapitalismus in seiner industriellen Form. Schon im Mittelalter gab es in den Gilden und Zünften Schiedsgerichte, die Arbeitsstreitigkeiten zu schlichten hatten, die aus dem individuellen Arbeitsertrag erwuchsen. Diese Schiedsstellen hatten aber keinen absoluten Charakter, wie das später in Frankreich bei dem von Napoleon I. ins Leben gerufenen Kammern für Arbeitsstreitigkeiten der Fall war. Auch die Königlich Preußischen Fabrikgerichte des Rheinlandes, die ursprünglich von demselben Napoleon eingesetzt waren, bedienten sich einer absoluten Rechtsprechung. Das gefällte Urteil war unanfechtbar. Es galt für alle Teile der streitenden Parteien. Als dann im Jahre 1869 die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund geschaffen wurde, wollte man auch hier Kammern für Arbeitsstreitigkeiten bilden. Diese Kammern sind aber durch die Tatsache, daß das Sozialistengesetz der Arbeiterschaft die Möglichkeit der Vereinigung nahm, fast niemals in Funktion getreten. Erst im Jahre 1890 wurde ein Gewerbegerichtsgesetz erlassen, welches dann im Jahre 1901 eine Zuständigkeitserweiterung bekam. Es oblag den Städten und Gemeinden mit über 20.000 Einwohnern, Gewerbegerichte zu bilden, die dafür notwendigen Räumlichkeiten zu schaffen und teilweise auch die Kosten ihrer Unterhaltung zu tragen. Ihre Zuständigkeit erstreckte sich lediglich auf die Entscheidung über Streitigkeiten, die aus dem Arbeitsverhältnis zwischen gewerblichen Unternehmern und Arbeitern entstehen. Zu diesen gewerblichen Arbeitern wurden auch Werkmeister und Techniker gezählt, soweit sie eine gewisse Arbeitsverdienstgrenze nicht überschritten. Im Bergbau wurden staatliche Berggewerbegerichte gebildet. Innungen und Innungsschiedsgerichte wurden als Stellen, die berechtigt sind, Arbeitsstreitigkeiten zu schlichten, durch dieses Gesetz zugelassen. Im Jahre 1904 wurde dann das Kaufmannsgericht erlassen. Die zu bildenden Kaufmannsgerichte hatten sich mit Arbeitsstreitigkeiten aus dem Angestelltenverhältnis zu befassen. Diese neueren arbeitsgerichtlichen Gesetze stützen sich vornehmlich auf die im Jahre 1845 geschaffene Preußische Gewerbeordnung, die dann später vom Norddeutschen Bund (1869) und 1890 vom Reich unter vielfachen Änderungen Gültigkeit für alle Glieder des deutschen Staatsgebildes erhielt. Die Gewerbeordnung ist noch heute mit Ausnahme einiger Paragraphen in Kraft und soll erst durch das Arbeitsschutzgesetz abgelöst werden, dessen Entwurf dem Reichstag vorliegt. Die Gewerbsordnung schuf eine Fülle von Ausnahmebestimmungen gegen die Arbeiterschaft und sollte dazu dienen, Arbeitsstreitigkeiten unmöglich zu machen bzw. dem Unternehmertum das Recht zu geben, den sogenannten „freien Arbeiter“ wie einen Sklaven zu behandeln.
Ganz besonders wurde die gewerkschaftliche Betätigung durch die Reichsgewerbeordnung beschränkt. Die Interessenvertretung der Arbeiter sollte sich in gesetzlich erlaubten und sanktionierten Bahnen bewegen. Durch die reformistische Einstellung großer Teile der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist das auch möglich geworden. Die gewerkschaftliche Organisation wurde damit ihres eigentlichen Charakters entkleidet und zu einer gerichtlichen Vertretungsstelle degradiert. Das Fehlen des sozialistischen und revolutionären Schwungs in den freien Gewerkschaften hat dann neben der Reichsgewerbeordnung und dem Gewerbegerichtsgesetz dazu beigetragen, daß die Arbeiterschaft mehr und mehr auf das Gebiet des friedlichen Ausgleiches gedrängt wurde. Dabei aber ist festzustellen, daß auch die Gewerbegerichte Klasseneinrichtungen der bürgerlichen Staatsmacht waren, die ihre Entscheidungen nur im Rahmen der Zuträglichkeit der kapitalistischen Wirtschaft und in Übereinstimmung mit der herrschenden Rechtsauffassung fällten.
Das Arbeitsgerichtswesen erfuhr auch keine prinzipielle Änderung, als der deutsche Monarchismus in den Novembertagen 1918 seinen Zusammenbruch erlebte. Es kann sogar gesagt werden, daß die Formen der Arbeitsgerichtsbarkeit sich auf Grund der Erweiterung der Geltungsgrenzen der Gerichte für Arbeitsstreitigkeiten sich zu ungunsten der Arbeiterschaft verschoben haben, denn damit, daß die Reichsverfassung vom 11. August 1919 im Art. 157 sagt: „Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reiches. Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht“, wurde in großen Massen der demokratisch eingestellten Arbeiterschaft der Glaube erweckt, daß durch die Autorität staatlicher Einrichtungen wie Schiedsgerichte, Schlichtungsausschüsse, Kammern für Arbeitsstreitigkeiten usw. die Möglichkeit bestände, die Interessen der Lohnarbeiterschaft in höherem Maße als bisher wahrzunehmen.
Das neue Arbeitsrecht, das auf Grund der Reichsverfassung gegeben wurde, hat dann bewiesen, daß die Hoffnungen der Arbeiter trügerisch waren. Besonders kraß tritt dies bei dem am 23. Dezember 1926 angenommenen Arbeitsgerichtsgesetz zutage. Dieses Gesetz wurde von den deutschen Gewerkschaften gefordert, um eine Zentralisation der Arbeitsrechtsprechung durchzuführen. Mit der Annahme bzw. mit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Juni 1927 wurde dann diese Zentralisation auch tatsächlich erreicht. Damit aber ist die gewerkschaftliche Interessenvertretung keinen einzigen Schritt voran gekommen. Im Gegenteil, die Arbeitsgerichte, die nach dem Arbeitsgerichtsgesetz gebildet wurde, erhielten eine Machtbefugnis, die es diesen Körperschaften ermöglichte, jede kollektive Äußerung der Arbeiterschaft auf gewerkschaftlichem Gebiet zu unterdrücken. Während die preußischen Gewerbegerichte nur Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis schlichten konnten, wurden die Arbeitsgerichte nach dem erwähnten Gesetz ermächtigt, auch alle anderen Streitigkeiten im Interesse einer geregelten Produktionsweise zu „schlichten“. Früher war es Aufgabe der ordentlichen bürgerlichen Gerichte, über bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien und Dritten zu entscheiden. Heute ist das Aufgabe der Arbeitsgerichte. Auch die aus unerlaubten Handlungen entstehenden Rechtsstreitigkeiten werden vor den Arbeitsgerichten entschieden, soweit sie zwischen Tarifparteien oder Arbeitern und Unternehmern ausbrechen und auf wirtschaftlichem Gebiete liegen. So konnte es kommen, daß Arbeitsgerichte in letzter Zeit einstweilige Verfügungen gegen kämpfende Arbeiter und ihre Gewerkschaften erließen, in denen diesen bei hohen Strafen verboten wurde, den Arbeitskampf irgendwie zu unterstützen. Früher war dafür ein langer Rechtsweg vor den ordentlichen und bürgerlichen Gerichten nötig. Heute kann auf Grund des Arbeitsgerichtsgesetzes eine einstweilige Verfügung im Zeitraum weniger Tage erwirkt werden.
Die Arbeitsgerichte greifen also in die gewerkschaftliche Interessenvertretung ein und hindern die Gewerkschaftsorganisationen an der Entfaltung ihrer Macht. Trotz dieser Tatsache soll aber nicht verkannt werden, daß das Arbeitsgerichtsgesetz auch gewisse Vorteile für die Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten brachte. Während bei den früheren Gewerbegerichten etwaige Berufungen vor den ordentlichen bürgerlichen Gerichten, und zwar den Landgerichten, entschieden wurden, besteht nach dem Gesetz vom 23. Dezember 1926 die Möglichkeit, Berufung gegen das Urteil eines Arbeitsgerichts einzulegen, wenn der Streitgegenstand den Wert von 300 M. übersteigt oder wenn der Streitgegenstand prinzipieller Natur ist. In letzterem Falle entscheidet das Arbeitsgericht über die Zulässigkeit der Berufung. Das ist immerhin ein Vorteil, der in Einzelstreitigkeiten anerkannt werden kann. Für Gesamtstreitigkeiten ist aber auch er schwerlich fruchtbringend, da das Berufungsverfahren immerhin viel Zeit erfordert.
Eine weitere Verschlechterung brachte das Arbeitsgerichtsgesetz im Hinblick auf das Vertretungsrecht. Bei den Gewerbegerichten kümmerte sich niemand um die Zugehörigkeit der Prozeßvertreter, der Kläger oder der Beklagten zu einer wirtschaftlichen Organisation. Die Arbeitsgerichte haben in dieser Beziehung eine fast grundsätzliche Änderung durchgeführt. Mir ist nicht ein einziger Fall bekannt, wo von Gewerbegerichten die Vorlegung der Statuten einer vor dem Gericht erscheinenden Wirtschaftsorganisation oder deren Vertreter gefordert wurde. Die Arbeitsgerichte haben, gestützt auf den § 11 des Arbeitsgerichtsgesetzes, dieses Kunststück fertiggebracht. In dem angezogenen Paragraphen heißt es u.a.: ,...zugelassen sind jedoch Mitglieder und Angestellte wirtschaftlicher Vereinigungen von Arbeitgebern oder von Arbeitnehmern oder von Verbänden solcher Vereinigungen, die kraft Satzung (Hervorhebung im Original, d. Tipper) oder Vollmacht zur Vertretung befugt sind, soweit sie für die Vereinigung oder für Mitglieder der Vereinigung auftreten und nicht neben dieser Vertretung die Tätigkeit als Rechtsanwalt ausüben...’.
Mit Hilfe dieser Auslassung im Gesetz machen die Arbeitsgerichte den Versuch, alle wirtschaftlichen Vereinigungen, die nicht grundsätzlich auf dem Boden der friedlichen Beilegung von Arbeitsstreitigkeiten stehen, also den Gewerkschaftskampf nicht als eine bloße reformistische, sondern auch als eine revolutionäre Tätigkeit ansehen, von der Vertretung ihrer Mitglieder vor den Arbeitsgerichten auszuschließen. Deshalb müssen alle Statuten gewerkschaftlicher Vereinigungen ausdrücken, daß die Vereinigung den Zweck der Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen und der kostenlosen Vertretung des Mitgliedes bei Rechtsstreitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis (Hervorhebung im Original, d. Tipper) verfolgt. Wo der Vereinigungszweck so umschrieben ist, kann eine Beanstandung von Organisationsvertretern nicht erfolgen.
Zusammengefaßt kann über den Einfluß der Arbeitsgerichtsbarkeit auf die gewerkschaftliche Interessenvertretung gesagt werden, daß sie dem Arbeiter ein Scheinrecht vortäuscht und seine Arbeitskraft unter die Autorität des Staates stellt. Die Arbeitsgerichtsbarkeit verfolgt den Zweck, die kapitalistische Wirtschaft zu schützen, ihr eine ungestörte Entwicklung zu sichern und die Wirtschaftsorganisationen der Arbeiterklasse in ihren Kämpfen zu behindern. Aus diesem Grunde fordern die revolutionären Gewerkschafter, soweit sie sich zu syndikalistischen Kampfmethoden bekennen, nicht einen Ausbau der Arbeitsgerichtsbarkeit, sondern die freie Entfaltung der gewerkschaftlichen Aktionstat. Nur diese nimmt die Interessen der Arbeiterschaft wahr, nicht eine staatliche, auf Klassenherrschaft begründete Gerichtsbarkeit für Arbeitsstreitigkeiten.
Aus: „Die Internationale“, Nr. 3/1928, abgedruckt in: FAU-Bremen (Hg.): Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven. Ergänzungsband, Bremen 2006
Originaltext: http://www.syndikalismusforschung.info/linowarbeitgericht.htm