Der folgende text von Sebastian Kalicha wurde der Jungen Welt vom 7.9.2013 entnommen.
Klassenkampf, Antifaschismus und Friedensbewegung
Eine prägnante Charakterisierung des christlichen Anarchismus könnte so aussehen: Das Christentum wird in einer Art und Weise begriffen, das letztendlich in politischen und sozialen Fragen auf etwas hinausläuft, das politisch Aktive in der Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts begannen als »Anarchismus« oder »libertärer Sozialismus« zu bezeichnen. Es ist ein Anarchismus, der sich aus der Bibel und dem Leben und Wirken Jesu herleitet. Die Bibel und die Botschaft Jesu dienen so als Grundlage dafür, zu ähnlichen oder denselben Schlüssen zu gelangen wie sie von anarchistischen Theoretikern formuliert wurden: den Staat mit all seinen Institutionen und Repräsentanten als illegitim anzusehen, den Kapitalismus als Wirtschaftssystem abzulehnen und eine egalitäre, dezentrale und gewaltfreie Gesellschaftsordnung, frei von Unterdrückung und Ausbeutung, an deren Stelle zu verwirklichen. Der französische Soziologe und Philosoph Jacques Ellul, der viel zur christlich-anarchistischen Theoriebildung beigetragen hat, schreibt daher in diesem Sinne, daß »biblisches Gedankengut direkt zum Anarchismus« führe.
Libertäre Katholiken
Aber es muß nicht immer notgedrungen eine bestimme Exegese der Bibel im Mittelpunkt stehen oder als ausschließlicher Ausgangspunkt für ein libertäres Verständnis des Christentums dienen. Für die Catholic-Worker-Bewegung – die eines der bekanntesten Beispiele dafür ist, daß selbst katholische Christen sich positiv auf den Anarchismus beziehen können – war beispielsweise neben einem libertären Verständnis der Bibel auch immer klar, daß sie sich auf zahlreiche unterschiedliche politische und philosophische Ideenlehren und Strömungen der Linken beriefen, durch deren Kombination und Vermengung schließlich diese neuartige Bewegung, die letztendlich als »christlich-anarchistisch« bezeichnet wurde, entstand. Einer der Gründer der Catholic-Worker-Bewegung, Peter Maurin, war zum Beispiel stark durch drei Denkschulen geprägt, nämlich die der französischen Personalisten (Emmanuel Mounier, Jacques Maritain), der russischen Anarchisten (Peter Kropotkin, Leo Tolstoi) sowie der englischen Distributisten (Eric Gill, G. K. Chesterton, Hilaire Belloc).
Die Spuren, die die Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW), bei der z.B. die einflußreichen Catholic Workers Dorothy Day und Ammon Hennacy Mitglieder waren, in den Aktionen und den politischen Schwerpunktsetzungen der Catholic-Worker-Bewegung hinterlassen hat, sind ebenfalls evident. Beschäftigt man sich näher mit dem Anarchismusverständnis der Catholic Workers, so ist das Bild wiederum eines, das einer Differenzierung und Spezifizierung bedarf. Die Catholic Workers sind weder »von Stirners extremem Individualismus« noch von »Bakunins Glaube an die schaffende und erlösende Kraft von Gewalt und Zerstörung« beeinflußt, sehr wohl aber von »dem pazifistischen Anarchismus Tolstois, dem kommunistischen Anarchismus Kropotkins und […] vom Mutualismus Proudhons«.
Hier soll nicht die Behauptung aufgestellt werden, Anarchismus und Christentum seien im Grunde genommen das Gleiche. Die historischen und ideengeschichtlichen Wurzeln des Christentums und des Anarchismus sind unterschiedliche, was jedoch einem anarchistischen Verständnis des Christentums nicht im Wege stehen muß. Manche Autoren argumentieren, daß es beim christlichen Anarchismus gar nicht darum gehe, »zwei Denksysteme zusammenzuführen«, sondern es schlicht »der Versuch [ist], die Botschaft des Evangeliums in die Tat umzusetzen.« Ciaron O’Reilly, ebenfalls Aktivist bei der Catholic-Worker-Bewegung, meint dazu passend, daß »die Prämisse des Anarchismus dem Christentum und der Botschaft des Evangeliums inhärent« sei. Wir werden noch zu ergründen versuchen, wie sich das genau äußert. Zuerst soll jedoch das Verhältnis von Anarchismus und Christentum diskutiert und ein differenzierter Blick darauf gewagt werden. (…)
Kirchenkritik
In der anarchistischen Bewegung haben anti-klerikale oder anti-religiöse Überzeugungen eine starke und lange Tradition. Man kann in einen beliebigen anarchistischen Klassiker des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts einen Blick werfen, Statements gegen Kirche und Religion fehlen fast nie, weshalb eine ablehnende Haltung Religion gegenüber auch gerne als ein anarchistisches »Essential« betrachtet wird. Nehmen wir einen der bekanntesten Anarchisten, Michael Bakunin: Er warnt in »Gott und der Staat« davor, daß die Religion »die Völker verdummen und verderben« würde und sie die Vernunft, »dieses Hauptwerkzeug der menschlichen Befreiung«, in den Menschen töte. Er schlußfolgert: »Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: Folglich existiert Gott nicht.« Oder Erich Mühsam: Er sieht Religion und Staat als miteinander verwobene Unterdrückungsinstrumente und schreibt in »Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat«, daß »Gott und der Staat die beiden Pole der Macht« seien, die »auf der Verneinung von Gleichberechtigung, Gegenseitigkeit und Selbstverantwortung« beruhten. Es ist müßig, ob der ohnehin weithin bekannten antiklerikalen und antireligiösen Argumente in der anarchistischen Bewegung, weiter auf diverse Schriften dieser Art, die teilweise in Polemiken wie Johann Mosts »Die Gottespest« abdrifteten, hinzuweisen, da sie ohnehin zumeist weitaus bekannter sind als differenzierte Positionen zum Thema, denen hier Platz eingeräumt werden soll.
Denn: So starr, wie es in diesen Zitaten klingen mag und viele Anarchisten glauben mögen, ist die libertäre Front gegen alles Religiöse auch wieder nicht. Peter Kropotkin – einer der wichtigsten Vertreter des kommunistischen Anarchismus und sicher weit davon entfernt, ein christlicher Anarchist zu sein – gesteht dem Christentum zum Beispiel zu, daß es erst durch die Institutionalisierung korrumpiert worden ist, wenn er das Christentum als »die Empörung gegen das kaiserliche Rom« beschreibt, das »durch dasselbe Rom« besiegt wurde, indem es »dessen Maximen, Sitten und Sprache an[nahm]« und so »römisches Recht« wurde. Er ging sogar noch weiter und schrieb, daß es »in der christlichen Bewegung […] zweifellos ernstzunehmende anarchistische Elemente« gegeben habe. Der »anarchistische[.] Gehalt«, den er in den »Anfängen« des Christentums verortete, verschwand für ihn aber, als »diese Bewegung [allmählich] zu einer Kirche [entartete]«. Diese Argumentation unterscheidet ihn von vielen christlich-anarchistischen Theoretikern de facto nicht. Kropotkin war es auch, der in seinem Anarchismus-Artikel für die Encyclopædia Britannica (eleventh ed.) die frühen Hussiten, die Anabaptisten (auch Täufer oder Wiedertäufer) und den Theologen Hans Denck im positiven Sinne für erwähnenswert erachtete. (…) Auch die bekannte US-amerikanische Anarchistin Voltairine de Cleyre durchlief einen interessanten Reflexionsprozeß, was religiöse Fragen anlangt. Sie selbst habe »einmal tapfer behauptet, niemand könne Anarchist sein und gleichzeitig an Gott glauben.« Sie schreibt aber weiter, daß sie »[d]ie Argumentationskette, die ich früher so überzeugend fand«, daß »der Anarchismus als Ablehnung jeder Autorität über das Individuum« nicht mit dem Glauben an einen Gott »zusammen bestehen könne« durch »de[n] Fall Leo Tolstois« widersprochen sieht, »der gerade aufgrund seines Glaubens an Gott zu dem Schluß kommt, niemand habe das Recht, über andere zu herrschen, gerade weil er glaubt, daß wir alle gleichberechtigte Kinder des einen Vaters sind und daher niemand das Recht habe, über den anderen zu herrschen« und weist gleichzeitig auf »viele Beispiele« hin, »wo derselbe Gedanke von einer ganzen Gruppe von Gläubigen entwickelt worden ist«. (...)
Arbeiterbewegung
Der katholische Priester Thomas J. Hagerty (ca. 1862–1920) aus den USA war einflußreicher Aktivist und Gründungsmitglied der im Kontext der Catholic-Worker-Bewegung bereits angesprochenen IWW, in der zwar nicht nur, aber auch viele Anarchisten und Anarchosyndikalisten mitwirken. In einer der wenigen Studien über ihn heißt es: »Von den knapp 200 Delegierten, die sich im Juni 1905 in Chicago trafen, um die Industrial Workers of the World (IWW) zu gründen, war niemand einflußreicher darin, diese neue Organisation zu prägen, als Thomas J. Hagerty, der Sekretär des Gründungskomitees der Versammlung. Hagerty spielte nicht nur eine führende Rolle bei dem Treffen selbst; er war auch wichtig, wenn nicht ausschlaggebend, bei den Vorbereitungen zu dem Treffen. Er war einer jener sechs Personen, die im Herbst 1904 Einladungen an eine ausgewählte Gruppen von Gewerkschaftsaktivisten versandten, um die Möglichkeit zu diskutieren, eine revolutionäre Industriegewerkschaft zu gründen; er nahm an den Diskussionen teil, als sich diese Gruppe im Januar 1905 traf; er half dabei, das Industrial Union Manifesto, eine Aufforderung an alle Arbeiter gegen Fachgewerkschaften und Kapitalismus zu revoltieren, zu formulieren; er gab der IWW das Schaubild [»Father Hagertys Glücksrad«; Anm. Sebastian Kalicha] für ihre industriellgewerkschaftliche Struktur; und er war vor dieser Versammlung für sechs Monate der Herausgeber des Voice of Labor, dem offiziellen Presseorgan der American Labor Union, in der er überzeugend die Verdienste des industriellen Unionismus erörterte.«
Und selbst im Spanischen Bürgerkrieg, wo die mit dem spanischen Faschismus unter Franco verbündete katholische Kirche den diversen sozialistischen, kommunistischen oder anarchistischen Milizen gegenüberstand, reihte sich der katholische Priester Aita Patxi (1910–1974) auf Seiten der republikanischen Kräfte ein – stets unbewaffnet, lediglich mit einem schweren, tragbaren Altar bei sich. Er war »kein Parteigänger Francos. Er stand, als Katholik und Baske, auf Seiten der Republik, der baskischen Milizen, Kommunisten, Sozialisten und Anarchisten.« Gefangen genommen wurde er schließlich ausgerechnet von einem auf franquistischer Seite kämpfenden katholischen Priester. »Aita Patxis Entsetzen, einen Glaubensbruder mit gezogener Waffe zu sehen, wird nur von der Wut der Franquisten übertroffen, daß ein Pfarrer sich mit den ›Roten‹ gemein machen konnte.« Auch der englische Priester Gresham Kirkby (1916–2006) ist ein beeindruckendes Beispiel für die Rolle von Priestern in der anarchistischen und sozialistischen Bewegung. Er war ein aktiver Unterstützer der Campaign for Nuclear Disarmament sowie Mitglied der antimilitaristischen britischen Gruppe Committee of 100, die anarchistische Züge hatte und in der viele bekannte Anarchisten wie Nicolas Walter, Alex Comfort und Herbert Read sowie der libertäre Philosoph Bertrand Russell aktiv waren. Er war stark von Peter Kropotkin und Dorothy Day beeinflußt, bezeichnete sich als »anarchistischen Kommunisten« (bzw. nach 1956 als »anarchistischen Sozialisten«) und bezeugte noch auf dem Sterbebett seinen »unsterblichen Glauben an die Anarchie«. (...)
Jesus als Sozialrebell
Eine entscheidende Frage in christlich-anarchistischen Zusammenhängen ist natürlich jene, wie Leben und Wirken Jesu beurteilt wird. Generell wird Jesus in diesem Diskurs als Sozialrebell und gewaltfreier Revolutionär – in dem Sinne, daß er eine fundamentale Umwälzung der Verhältnisse anstrebte – begriffen, dessen Botschaft auch heute noch relevant sei und dessen politische Maximen unter heutigen Vorzeichen am ehesten als »anarchistisch« bezeichnet werden können. Unzählige Autoren und Theologen (die nicht notwendigerweise anarchistische Zugänge hatten) haben immer wieder nachdrücklich auf diesen »politischen Jesus« und seine revolutionäre Botschaft hingewiesen. Der Theologe John Howard Yoder spricht beispielsweise davon, daß Jesus »ein Vorbild für radikale politische Aktion« sei und führt an anderer Stelle weiter aus, daß Jesus zwar »nicht der gewaltbereite Befreier war, den manche erwartet hatten«, er sich aber als Befreier sah und sich einer politischen Sprache bediente, die man von ihm erwartete. Er »vergrämte Herodes und die Sadduzäer, die die lokale Politik kontrollierten«, bediente sich jedoch »nicht der Gewalt des Staates oder des Kriegs«. Er und die Gemeinschaft, die er zurückgelassen hatte, standen für »politische Neuheiten« wie die »Feindesliebe« oder die »Erhöhung der Marginalisierten«. Der französische Tolstoianer Georges Lechartier bringt seine christlich-anarchistische Überzeugung letztendlich prägnant auf den Punkt, wenn er sagt: »Der wahre Begründer der Anarchie war Jesus Christus und […] die erste anarchistische Vereinigung war jene der Apostel.« Niemand, so die Ansicht eines anderen Anarchisten, sei »so radikal bis zu den Wurzel allen Übels vorgedrungen«, niemand hätte »so revolutionäre Forderungen aufgestellt« wie Christus. Jesus trete »gegenüber allen Autoritäten dieser Welt als Rebell und Empörer auf; seine Lehre, diese stille Lehre der Liebe und der Gewaltlosigkeit, wird von den Großen und Mächtigen mit sicherem Instinkt als Aufruhr und Hochverrat gedeutet.« Selbst in der anarchistischen Literatur des Spanischen Bürgerkriegs »überwiegen […] die positiven Darstellungen Christi«, aufgrund seiner »persönlichen Taten und Eigenschaften, die ihn in den Augen vieler Autorinnen und Autoren selbst zum Anarchisten, zumindest aber zu einem frühen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit machen: seine Solidarität mit den gesellschaftlich Ausgestoßenen, die Austreibung der Händler [= Kapitalisten] aus dem Tempel, seine Provokationen der Obrigkeit, seine Ablehnung des Reichtums usw.«
Können derartige Deutungen und Aussagen aber tatsächlich aus der Bibel oder aus theologischen und/oder historischen Erkenntnissen zu Jesus abgeleitet werden, oder sind es bloß unsachliche Projektionen ohne legitime Basis? Zweifelsohne kann zumindest konstatiert werden, daß das Neue Testament teilweise doch recht deutlich wird, wenn es darum geht, die ideale Gesellschaftsordnung zu umreißen, deren Kommen Jesus voraussagte. So heißt es etwa bei Matthäus: »Da rief Jesus sie zu sich und sagte: Ihr wisst, daß die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen mißbrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.«
Daß die christlichen Urgemeinden, derartigen Lehren folgend, laut der Bibel ihre Gemeinschaften in einer Art und Weise organisierten, die Anarchisten durchaus sympathisch erscheinen müßte, kann man zum Beispiel in der Apostelgeschichte nachlesen. So heißt es da u.a.: »Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.« Oder: »Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam.« Daß in den Evangelien eine ablehnende Grundstimmung gegen materiellen Reichtum, gegen Reiche an sich und die Ungerechtigkeiten, die dies hervorbringt, vorherrscht, ist evident. Jesus, der sich bekanntlich häufig in Gleichnissen und Metaphern ausdrückte, äußerte sich bei kaum einem anderen Thema so deutlich und unmißverständlich. (...)
Das Reich Gottes
Manche Theoretiker sehen auch in der Art, wie Jesus gegen die römische Besatzung und gegen die lokalen Machthaber seiner Zeit Widerstand geleistet, und welche Optionen er nicht in Betracht gezogen hat, einen Hinweis dafür, daß der Bezug zum Anarchismus legitim erscheint. Er weigerte sich, mit der römischen Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten und die daraus resultierenden finanziellen Vorteile zu akzeptieren, wie das bei den Sadduzäern der Fall war. Er weigerte sich auch, nach Reformen im existierenden, unterdrückerischen System zu streben, wie es die Pharisäer taten. Auch kapselte er sich nicht völlig von der als fehlgeleitet betrachteten Gesellschaft ab, um ein »reines« Leben abseits dieser gestalten zu können, wie bei den Essenern. Und zu guter Letzt lehnte er auch den bewaffneten revolutionären Kampf, wie ihn die jüdischen Widerstandskämpfer der Zeloten propagierten, ab. Jesus strebte eine völlige Umwälzung der herrschenden Verhältnisse und eine egalitäre Gesellschaftsordnung an und versuchte, dies ausschließlich mit dem Mittel radikaler und konsequenter Gewaltfreiheit zu erreichen. Dies alles tat er mit dem Ziel, alle Menschen auf die ihnen offenstehende Möglichkeit hinzuweisen, im Hier und Jetzt in das »Reich Gottes« einzutreten. (…) Dave Andrews findet im Alten Testament (in diesem Fall 1 Sam 8,4– 22) Beispiele für einen vermeintlich herrschaftskritischen Charakter Gottes: »Er ist ein unermüdlicher Gegner eines politischen Systems, das von oben nach unten regiert, zentralisiert ist und die Menschen entmächtigt, insbesondere die Menschen am unteren Ende der Gesellschaft. Und er warnt das Volk Israel davor, zu der Form der Regierung zurückzukehren, die es in Ägypten hinter sich gelassen hat, weil die Menschen sonst zu ›Sklaven‹ würden.« Für Ammon Hennacy ist Gott »keine Autorität, der ich wie einem Monarchen gehorche, sondern ein Prinzip des Guten, wie es von Jesus in der Bergpredigt dargelegt wurde.« Ähnlichkeiten zu Hennacy lassen sich hier mit dem Gottesverständnis des (marxistisch orientierten) mexikanischen Befreiungstheologen José Porfirio Miranda ausmachen, der die Meinung vertrat, daß Gott Gerechtigkeit sei und vice versa. Miranda begriff Gott nicht als ein wie auch immer geartetes »Wesen«, sondern als ethisches Gebot für Gerechtigkeit.
Sebastian Kalicha (geb. 1984) ist Autor und Mitherausgeber der anarchistischen Monatszeitschrift Graswurzelrevolution sowie Mitglied der Independent Anarchist Research Community (IARC). Er schreibt zudem für unterschiedliche linke Online- und Printmedien und lebt in Wien. Kalicha ist Herausgeber des Buchs »Barrieren durchbrechen! Israel/Palästina: Gewaltfreiheit, Kriegsdienstverweigerung, Anarchismus«. Verlag Graswurzelrevolution 2008 und Mitherausgeber der Publikation von »Von Jakarta bis Johannesburg. Anarchismus weltweit« Unrast Verlag, Münster 2010. Der vorliegende Text ist ein redaktionell bearbeiteter Vorabdruck aus dem von ihm ebenfalls herausgegebenen und im Oktober erscheinenden Buch:
Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung. Verlag Graswurzelrevolution, Münster, 192 Seiten, 14,90 Euro