Eine Frage der Revolution. Über den Zusammenhang von Sozialismus und Kultur im Syndikalismus

Als Rudolf Rocker im Dezember 1919 dem zwölften SyndikalistInnen-Kongress in Berlin seine „Prinzipienerklärung des Syndikalismus“ vortrug, brachte er einen wesentlichen Aspekt seiner Theorie auf nur einen Halbsatz: „Ausgehend von der Erkenntnis, daß der Sozialismus letzten Endes eine Kulturfrage ist“ (1), entwickelte er vor seinen ZuhörerInnen ein Programm, welches sich vorrangig mit der Notwendigkeit einer föderalistischen Gewerkschaftsbewegung für die Verwirklichung des freiheitlichen Sozialismus auseinandersetzt. Vielen, die Rockers Ausführungen folgten oder sie später lasen, mag dieser Satz nie aufgefallen sein, geschweige denn einen besonderen inhaltlichen Zusammenhang ergeben haben. Nicht nur in der „Prinzipienerklärung“, sondern auch in der allgemeinen Theoriepflege des Syndikalismus wurde der Kulturaspekt lange vernachlässigt. So kam es, dass in den folgenden Jahren bis zur Gegenwart das Konzept der Kampf- und Kulturorganisation immer ungenauer formuliert, und letztlich auch falsch verstanden wurde. In der heutigen Organisationsarbeit scheinen ökonomischer Tageskampf und politische Kultur als zwei getrennte Arbeitsbereiche aufzutreten. Auf der einen Seite steht bestenfalls die Aktivität im eigenen Betrieb, auf der anderen jegliche Betätigung im Bereich der politischen Freizeit so z.B. Filmabende, Lesungen usw., was der syndikalistischen Auffassung im Wesentlichen nicht gerecht wird. Wer dem Sozialismus die Kulturfrage stellen will, der/die muss nach der tiefer liegenden Einheit beider Spähren suchen.

Menschen wollen Menschen werden

Der allgemeine Sprachgebrauch übergeht meist die vielen Ebenen auf denen von der Kultur im Singular gesprochen werden kann, setzt sie meist mit künstlerischer Tätigkeit gleich. Definitionen in diesem Sinne sind nicht unbedingt falsch, sie greifen jedoch nur gewisse Teilphänomene des kulturellen Wirkens der Menschheit auf. Auf der Suche nach den politischen Zusammenhängen rund um den Kulturbegriff, soll von einer umfassenderen Beschreibung ausgegangen werden. Es ist wiederum Rocker, der in seinem Hauptwerk „Nationalismus und Kultur“ versucht, eine entsprechende Erklärung darüber abzugeben, worin der Sinn des K-Wortes eigentlich besteht. Dabei nähert er sich dem Begriff zunächst über die Wortherkunft, dem lateinischen „cultura“, welches ursprünglich das bewusste Eingreifen des Menschen in die Natur, im Sinne von „pflegen“, meint. Rocker besinnt sich auf diese Bedeutung zurück, um sie im jeweiligen historischen Kontext zu verstehen und die kulturelle Entwicklung der Menschheit als einen fortlaufenden Prozess zu beschreiben. Beginnend mit dem Wirken des Menschen, der sich „sozusagen sein eigenes Klima schuf , das ihn befähigte, den Ort zu wechseln und den natürlichen Lebensbedingungen zu trotzen“ (2), entstanden aus der allmählichen Naturbeherrschung relativ sichere Lebensumstände. Die Menschen, die ihre Existenz ansatzweise gesichert hatten, gewannen ausreichend geistigen Spielraum, auch ihrer sozialen Umwelt immer bewusster Gestalt zu geben. Denn je mehr die Produktivität und der Lebenskomfort stiegen, desto mehr Möglichkeiten entwickelte der Mensch, über seine sozialen Gefüge zu reflektieren. Für Rocker stellt sich also „die Menschwerdung als der Anfang aller Kultur und das menschliche Leben als ihr Inhalt schlechthin“ (3) dar, was auch beinhaltet, dass alle möglichen Bereiche wie Kunst, Politik, Wirtschaft, Technik, Naturwissenschaft etc. zu gleichberechtigten Ausdrücken des kulturellen Lebens werden.

Doch eine solch offene Definition bringt einige Probleme mit sich. Fasst man unter dem Kulturbegriff einfach alle bewussten Eingriffe des Menschen in sein Umfeld, so bleiben „auch Sklaverei und Despotismus […] Erscheinungsformen des allgemeinen Kulturgeschehens, denn auch sie stellen ein bewußtes Eingreifen in den natürlichen Lauf der Dinge dar“ (4). Kultur würde somit kein Richtig und kein Falsch kennen, es gäbe keinen Unterschied zwischen progressivem und reaktionärem Handeln, die Selbstbezeichnung als Kulturorganisation verlöre allen politischen Gehalt. Erst wenn ein Prozess eine Zielvorstellung enthält, kann konstruktives und destruktives unterschieden werden, ja überhaupt erst von einem Prozess gesprochen werden.

Ein Fluss und viele Arme

Doch wodurch erhält die Kulturentwicklung ihre Richtung? Für AutorInnen verschiedenster Denkrichtungen findet sich die Antwort in der Biologie. Als der Anarchist und Naturforscher Peter Kropotkin seine Theorie der „Gegenseitigen Hilfe“ als Ergänzung zur Darwin’schen Evolutionsbiologie entwarf, legte er den Grundstein für Erkenntnisse, welche durch die Neurobiologie ausdifferenziert und weiterentwickelt wurden. Danach entspringen soziales Empfinden, Solidarität und Mitgefühl einem evolutionären Bedürfnis nach Selbst- und Arterhaltung und bilden eine wichtige Triebfeder der menschlichen Gesellschaft. Die Auflösung von Konflikten in einer nach den Prinzipien der Verantwortlichkeit, Solidarität, Gleichheit und Freiheit funktionierenden Gesellschaft, stellt so ihr eigenes Fortbestehen, und das jedes Individuums, sicher. Eine einseitige Argumentation, die gesellschaftliche Funktionsweisen aus der Biologie des Menschen herleitet, kann hieraus nicht gezogen werden, es gilt lediglich aufzuzeigen, welchen Anstoß die Kulturentwicklung erfahren hat und welches Ziel als ihr Ideal formulierbar ist. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die oben formulierten Prinzipien immer wieder, und eben auch bewusst, durch menschliche Institutionen und Handlungen verneint wurden und werden. Versuchen wir den Kulturbegriff als etwas positiv-politisches zu verstehen, müssen wir auch der Tatsache Rechnung tragen, das konkrete Dynamiken und Prozesse innerhalb jeder Gesellschaftsform zu Rückschlägen führen können. Die allgemeine Bewegung, vom unbewusst-biologischem Ansporn, das Zusammenleben zu strukturieren, hin zur aufklärenden-reflektierten Politik mit dem Ziel der universellen Freiheit und Gleichheit aller Menschen, bleibt davon unberührt. In ihr liegen Anfang und Zielvorstellung des sozialistischen Kulturbegriffes.

Nischengeist und Freiheitswille

Übersetzt in konkrete Politik bedeutet dies, dass eine Organisation im Sinne von Verantwortlichkeit, Solidarität, Gleichheit und Freiheit wirken muss. Doch sie tut dies nicht, indem sie es einfach behauptet, sondern indem sie diese Ideen in die Praxis umsetzt. Nach Innen, wie nach Außen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis. Denn ist der Sozialismus eine Kulturfrage, betrifft er also die Gesamtheit des menschlichen Wirkens, mit dem Ziel einer möglichst freien und gerechten Gesellschaft, so betrifft er auch das gesamte menschliche Leben in der Gegenwart. Es kann für ihn keine Organisationsform geben, die ihre Mitglieder vor einer Entmündigung durch den Staat, Chef etc. schützt, ohne ihnen intern alle Freiheit und Verantwortung zu bieten. Gleichzeitig ist eine Organisation, welche sich als Nische versteht, welche alle Freiheiten gewährt, ohne sie gegen die Angriffe gesellschaftlicher Institutionen verteidigen zu können, ebenso wenig konstruktiv im Sinne des sozialistischen Kulturauftrages. Eine Kampf- und Kulturorganisation, fördert nach Innen das stimmige Zusammenleben ihrer Mitglieder und verteidigt die hieraus gewonnen Werte über ihre eigenen Grenzen hinweg. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch hier die Interpretation im zeitlichen und regionalen Zusammenhang geleistet werden muss. Eine Organisation im Raum Berlin, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, konnte für das kulturelle Leben ihrer Mitglieder sehr viel mehr durch selbst organisierte Freizeitaktivitäten, Bibliotheken etc. leisten, als es heute der Fall wäre. Schließlich stehen einem Großteil der Menschen heute vergleichbare Angebote jederzeit zur Verfügung, sodass es auf den einen Film mehr oder weniger nicht weiter ankommen würde. Erst durch das spezielle Zustandekommen der Veranstaltung, die aus einer Gemeinschaft heraus geschaffen wird, um deren kämpferische Praxis zu propagieren und zu reflektieren, wird diese Art der Organisationsarbeit interessant. Sie fügt sich dann in ein Gesamtbild ein, in dem die Menschen sowohl geistig, als auch materiell an den Entfaltung der Kultur gebunden sind.

Fußnoten:
1.) Rocker, Rudolf: Die Prinzipienerklärung des Syndikalismus, in: Arbeiterselbstverwaltung, Räte, Syndikalismus, Karin Kramer Verlag, Berlin 1971, S. 11
2.) Rocker, Rudolf: Nationalismus und Kultur, Bibliothek Thélème, Münster, 1999, S. 337
3.) Ebd.
4.) Rocker, Rudolf: Nationalismus und Kultur, Bibliothek Thélème, Münster, 1999, S. 338

Originaltext: Dieser Artikel ist in der 17. Ausgabe (Juni 2014) des Schwarzen Kleeblatts erschienen. Er ist hier zu finden: http://schwarzeskleeblatt.blogsport.eu/2014/07/22/eine-frage-der-revolution/


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