Betriebsbesetzungen in der Krise
Alix Arnold zur Situation selbstverwalteter Fabriken in Argentinien
Was ist aus den selbstverwalteten Betrieben in Argentinien geworden? Infolge des Aufstands am 19./20. Dezember 2001 hatten in Argentinien Tausende ArbeiterInnen ihre Betriebe übernommen (vgl. express, Nr. 3/2005 und 7-8/2006). Unbezweifelbar diktieren Markt und Großkapital weiterhin die Bedingungen, und ausgerechnet mit so genannten »Enteignungen« verhalf die Regierung dem Privateigentum wieder zum Durchbruch. Doch ist die Rede von einem »Scheitern« der Betriebsübernahmen deshalb gerechtfertigt? Alix Arnold geht in ihren Beiträgen (so im Folgenden und unten), die wir der Jubiläumsausgabe der ila entnommen haben und mit denen wir unsere Berichterstattung zu diesem Experiment der Selbstverwaltung fortsetzen, auf die aktuelle Situation der Betriebe und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dieses Experiments ein. Und sie beschreibt, welche Erfahrungen dort trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten mit der alten, aber selten praktizierten Arbeitskampfform Betriebsbesetzung gemacht wurden.
Nachdem längere Zeit verschiedene und höhere Zahlen gehandelt wurden, zählt eine genauere Erhebung jetzt 160 selbstverwaltete Betriebe mit knapp 7000 Beschäftigten. [1] Die Hälfte sind Metall- und andere Fabriken, der Rest verteilt sich auf die unterschiedlichsten Sparten: Druckereien, Nahrungsmittelproduktion, Gesundheit, Transport, Schulen, Hotels. Zahlenmäßig fallen diese empresas recuperadas in der argentinischen Wirtschaft – gegenüber zehn Millionen Beschäftigten, darunter eine Million FabrikarbeiterInnen – kaum ins Gewicht. Als beispielhafte Selbsthilfe gegen die kapitalistische Krise haben sie jedoch große Ausstrahlung erlangt. Die meisten Betriebsübernahmen haben 2002/2003 stattgefunden, in der bewegten Phase nach dem Aufstand, als die Nachbarschaftsversammlungen (asambleas populares) an jeder Straßenecke die etablierte Politik infrage stellten und die als piqueter@s organisierten Arbeitslosen die Straßen blockierten. Das üblicherweise abgeschottete Terrain der Fabriken wurde durch die Übernahmen für verschiedenste gesellschaftliche Gruppen attraktiv und zugänglich, mit Führungen durch die Produktion, Diskussionstreffen in Fabrikhallen, Kulturveranstaltungen und teilweise sogar Rockkonzerten. Für asambleas und piqueter@s wurden die selbstverwalteten Betriebe zu einem Bezugspunkt. Sowohl die vom Abstieg bedrohten Mittelschichten als auch die bereits im Elend gestrandeten Arbeitslosen sahen in den Betriebsbesetzungen eine Möglichkeit, dem Niedergang etwas entgegenzusetzen. Die Betriebe machten nur einen kleinen Teil der Bewegung aus, und die großen Straßenblockaden der piqueter@s waren von der Aktion her spektakulärer. Beim Kampf um die Betriebe geht es jedoch um das Grundsätzliche – um die Produktion und das Privateigentum. Viele Fragen werden hier konkret gestellt: Wer produziert den Reichtum, wem gehören die Fabriken, was wird warum für wen produziert?
Am Anfang wurden allerdings solche grundsätzlichen Fragen eher weniger gestellt. Auslöser waren die neoliberale Umstrukturierung und der Krisenabsturz der argentinischen Wirtschaft. In den 90er Jahren stiegen Langzeitarbeitslosigkeit und Prekarisierung. Die Belegschaften wurden verkleinert, und wer nach der Entlassung überhaupt wieder einen Arbeitsplatz fand, musste sich auf schlimmste Bedingungen einlassen. Bei den zunehmenden Betriebsschließungen gab es kaum noch Abfindungen. Für ArbeiterInnen, die vorher relativ abgesichert gearbeitet und sich zur Mittelschicht gezählt hatten, rückte plötzlich die Perspektive nahe, sich als Lumpensammler oder in den miserabel bezahlten Beschäftigungsprogrammen durchzuschlagen. Um dies zu vermeiden, übernahmen sie ihre Betriebe, wenn diese kurz vor der Pleite standen, keine Löhne mehr bezahlten oder bereits Maschinen abtransportiert wurden. Fast überall hatte vorher bereits ein erheblicher Arbeitsplatzabbau stattgefunden. Die empresas recuperadas sind heute größtenteils Klein- und Mittelbetriebe mit weniger als hundert ArbeiterInnen (im Durchschnitt knapp 45). Vorher hatten diese Betriebe fünf Mal so viele Beschäftigte.
Die meisten Arbeiter, die sich zur Besetzung oder Übernahme des Betriebes entschlossen hatten, waren männliche Hauptverdiener mit langer Betriebszugehörigkeit. Es war nicht ihr Ziel, »ohne Chef zu arbeiten« oder gar die Welt zu verändern. Sie wollten lediglich ihre Arbeitsplätze retten und ihre Identität als Arbeiter verteidigen. Mit den Betriebs-Übernahmen kam aber eine unvorhergesehene kollektive Dynamik in Gang. In vielen Fällen mussten die ArbeiterInnen heftige Konflikte durchstehen, um den Betrieb »zurückzuerobern«. Mit der Rückkehr in den Betrieb wurden überall die Hierarchien außer Kraft gesetzt und gleiche Rechte für alle eingeführt. Alle bekamen den gleichen Lohn, und die Versammlung wurde zum obersten Entscheidungsgremium. Erleichtert wurden diese Prozesse dadurch, dass sich Vorgesetzte und höhere Angestellte bei den Übernahmen aus dem Staub machten. Zurück blieben die ArbeiterInnen, die sich plötzlich mit ganz neuen Aufgaben konfrontiert sahen. Im Rückblick wird für sie »die Freiheit, ohne Chef zu arbeiten« zur wichtigsten Veränderung, neben der Ruhe bei der Arbeit und dem guten und gleichberechtigten Verhältnis zu den KollegInnen. Die Erfahrung, plötzlich selbst einen Betrieb managen zu können und sich gleichzeitig politisch auf Neuland zu begeben, führte zu weitergehenden Diskussionen, bis hin zu öffentlichen Erklärungen der politisiertesten ArbeiterInnen: »Wenn wir die Fabriken leiten können, sind wir auch in der Lage, das Land zu regieren.«
Von der Regierungsseite wurde die Entwicklung durchaus ernst genommen. Ein repressives Vorgehen war angesichts des großen Rückhalts der besetzten Betriebe in der Bevölkerung schlecht möglich. Stattdessen wurde die Bewegung mit »Enteignungen« eingefangen. In das Konkursgesetz wurde 2002 die Möglichkeit aufgenommen, einen Betrieb bis zur endgültigen Abwicklung vorübergehend einer Arbeiterkooperative zu überlassen. 2003 kam es in der Stadt und Provinz Buenos Aires zu Dutzenden solcher vorübergehenden »Enteignungen«, meist für die Dauer von zwei Jahren. In dieser Zeit sollen die ArbeiterInnen versuchen, den Betrieb wieder rentabel ans Laufen zu kriegen, mit der Option, ihn anschließend zu kaufen. Im November 2004 wurde in der Stadt Buenos Aires für zwölf Betriebe die »endgültige Enteignung« auf den Weg gebracht. Die ArbeiterInnen sollen nach einer Schonfrist von drei Jahren den Betrieb innerhalb von 20 Jahren abbezahlen. Sie werden damit doppelt betrogen. Mit ihrer Arbeit haben sie aus wertlosem Schrott einen verwertbaren Betrieb gemacht, den sie dann nach Marktpreis bezahlen sollen. Sie übernehmen die Schulden des Vorbesitzers gegenüber Dritten, aber wo sie selbst Gläubiger sind – wegen ausstehender Löhne – sehen sie keinen Peso. Die »Enteignung« ist damit eher eine »Rückgewinnung« von Kapital, das ansonsten verloren gewesen wäre. Unter dem Druck von drohender Räumung und Arbeitslosigkeit hatten die BetriebsbesetzerInnen wenig andere Möglichkeiten, als dieses Verfahren zu akzeptieren. Damit verlagerte sich die Auseinandersetzung tendenziell auf den Rechtsweg. Regierung und Justiz ist es gelungen, der Bewegung die politische Brisanz zu nehmen.
In der hiesigen Diskussion wird Argentinien oft als positives Beispiel für die Entwicklung einer Solidarischen Ökonomie genannt. Projekte, die aus der Krise heraus entstanden sind – empresas recuperadas, andere selbstverwaltete Betriebe und Tauschringe – weckten die Hoffnung, eine eigene Ökonomie jenseits des kapitalistischen Marktes aufbauen zu können. Bei näherem Hinsehen ist das Panorama eher düster. Die Tauschringe sind nach einer enormen Ausweitung an den üblichen Problemen des Marktes gescheitert: Inflation der eigenen Währung, Preiswucher bei lebensnotwendigen Industrieprodukten, die von Händlern angeboten wurden, und Überausbeutung der im Ring angebotenen Arbeitskraft. Die von Arbeitslosen aufgebauten Betriebe erwirtschaften aufgrund mangelnder Maschinerie meist nur erbärmliche Erträge. Und die empresas recuperadas sind voll in den Markt integriert. Sie beziehen zwei Drittel ihrer Rohstoffe von Monopol- oder Großbetrieben und verkaufen dort mehr als ein Drittel ihrer Produkte. Ein Austausch untereinander findet bislang fast überhaupt nicht statt.
In den Mühen des Überlebens sind manche internen Errungenschaften wieder verloren gegangen. Gleichen Lohn gibt es noch in gut der Hälfte der Betriebe insgesamt – aber in 71 Prozent der Betriebe, die von den ArbeiterInnen besetzt worden sind. Die Erfahrung aus solchen Konflikten hält offensichtlich länger vor. Die Hälfte der heute existierenden empresas recuperadas wurde mit einer Besetzung »zurückerobert«, vor allem in der Anfangszeit bis 2001. Die anderen Übernahmen kamen durch Verhandlungen mit dem Unterneh-mer oder auf dem Rechtsweg zustande, manchmal begleitet von heftigen Konflikten auf der Straße. Inzwischen kommt es nur noch vereinzelt zu neuen Übernahmen.
Die Selbstverwaltung betrifft fast ausschließlich Randbereiche des Kapitals, kleine und veraltete Betriebe. Eine Ausweitung auf die Großindustrie ist nicht gelungen. Als politische Bewegung stagnieren die empresas recuperadas. Als Selbsthilfe gegen die Krise waren sie jedoch durchaus erfolgreich. Nach anfänglichen Durststrecken sind die Produktion und die Löhne gestiegen; ihr Durchschnitt liegt über dem der ArbeiterInnen insgesamt und um ein Vielfaches über der Arbeitslosenunterstützung. Das erste Ziel, ihren Arbeitsplatz mit einem halbwegs »würdigen« Lohn zu erhalten, haben viele ArbeiterInnen mit ihren Aktionen erreicht. Sie haben darum nicht gebettelt, sondern sich das genommen, was ihnen sowieso gehört, und sie haben das alte Mittel Betriebsbesetzung wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Tausende ArbeiterInnen haben die Erfahrung gemacht, dass sie in der Lage sind, autonom zu handeln. Noch viel mehr Menschen haben die Bewegung mitbekommen und mit Sympathie begleitet. All das ist nicht wenig. Die Erfahrungen aus den Besetzungen und in den empresas recuperadas werden in zukünftigen Auseinandersetzungen sicher noch eine Rolle spielen.
Anmerkung:
1) Andrés Ruggeri, »Las empresas recuperadas en la Argentina«. Universidad de Buenos Aires 2005. Berücksichtigt sind hier nur die empresas recuperadas, also bestehende Betriebe, die angesichts drohender Schließung von den ArbeiterIn-nen »zurückerobert« oder »zurückgewonnen« wurden – nicht aber die selbstverwalteten Kleinbetriebe, die von Arbeitslosen gegründet wurden. Einige Daten im Artikel stammen aus dieser Studie sowie aus einer weiteren Untersuchung der empresas recuperadas in Buenos Aires Stadt: Julián Rebón, »Desobedeciendo al desempleo. La experiencia de las empresas recuperadas«, Buenos Aires 2004.
Aus: Ila 300, November 2006, www.ila-web.de externer Link, erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11/06
Originaltext: http://www.labournet.de/internationales/ar/arnold.html