Richard J. F. Day - Affinität statt Gegen-Hegemonie (Buchbesprechung)

Die globalisierungskritischen Bewegungen veranlassen Richard J. F. Day, anarchistische und postmoderne Theorie zu verknüpfen

Ökonomisch gesehen leben wir in Zeiten neoliberaler Hegemonie. Was das Soziale betrifft, so ist Kontrollgesellschaft eine plausible Bezeichnung für die meisten Gegenwartsgesellschaften. So sieht es jedenfalls Richard J. F. Day, Soziologie-Professor in Kingston/Kanada und Anarchist. Von Gilles Deleuze und Michel Foucault greift Day das label der Kontrollgesellschaft auf. Demnach wird Herrschaft vor allem durch die Machttechnik der Kontrolle ausgeübt. Diese ergänzt die Disziplinarmacht, die sich durch die Verbindung von gesteigerter Tauglichkeit und vertiefter Unterwerfung individueller Körper auszeichnet. Und sie setzt vor allem auf Appelle an „gute Lebensführung“ und deren Überprüfung, auf Selbstverantwortung und das Aufzeichnen, Auswerten und Effizientermachen durch statistische Erfassung. Den Hegemonie-Begriff entlehnt Day beim italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. Nicht nur auf dem Zwang politischer Institutionen, hatte Gramsci betont, sondern auch auf zivilgesellschaftlichem Konsens beruht Herrschaft. Das Streben nach diesem Konsens hat er als Kampf um Hegemonie begriffen. Von neoliberaler Hegemonie zu sprechen, hat nun vor allem den Vorteil, schreibt Day, den Neoliberalismus nicht als naturgegebenen Effekt ökonomischer Entwicklungen zu begreifen, wie seine VertreterInnen es tun, sondern als gezielt eingesetztes Projekt.

Welche Konsequenzen soll aber nun aus dieser Diagnose gezogen werden? Die Folgerungen Gramscis und seiner kommunistischen wie auch seiner poststrukturalistischen Gefolgsleute vollzieht Day nicht mit: „Gramsci is dead“ verkündet schließlich auch der Titel seines Buches über anarchistische Strömungen in den neusten sozialen Bewegungen. Die neogramscianischen Bemühungen, Gegen-Hegemonien zu etablieren, verbleiben laut Day letztlich in einer staatlichen Logik. (Gramsci selbst hatte die Zivilgesellschaft als Teil des „erweiterten Staates“ bezeichnet). In dieser Staatsbezogenheit macht er auch theoriegeschichtlich die wesentliche Gemeinsamkeit zwischen marxistischer und liberaler Tradition aus. Day selbst sieht sein Buch hingegen als Beitrag zu „a small but growing body of work in postanarchism and autonomist marxism“. Anstatt Einfluss in staatlichen Institutionen zu erlangen oder über sie, geht es diesen postanarchistischen und postoperaistischen Strömungen – in der Theorie ebenso wie im Aktivismus – vielmehr darum, Verknüpfungen herzustellen. Oder, in den Worten Foucaults und Deleuzes: „relays“ zu schaffen.

Day schreibt eine kleine Theoriegeschichte der anti-hegemonialen Entwürfe. Und das nicht nur, um diese Geschichte um ein Buch zu verlängern, sondern auch mit einem recht praktischen Anliegen: In den Protesten gegen die neoliberale Globalisierung sieht er Aktionen und Subjekte, denen es nicht um Gegen-Hegemonie geht. Um sie zu verstehen, bedürfe es also auch anderer theoretischer Herangehensweisen. Ohne Zweifel zeichnen sich viele der gegenwärtigen Protestbewegungen vor allem durch ihre sozialen Forderungen und Effekte aus. Indem sich Day genau diesen widmet, verleiht er zugleich dem anarchistischen Beharren auf der sozialen (statt politischen) Revolution neuen Sinn. Inhaltlich plädiert er, gestützt auf eine Re-Lektüre anarchistischer Klassiker – „in the light of poststructuralist, feminist, postcolonial, queer, and indigenous critiques“ –, für eine Logik der Affinität („logic of affinity“). Die Zapatistas, Reclaim the Streets, die brasilianische Landlosenbewegung MST, Peoples Global Action, Pink and Silver, Indymedia-Netzwerke, all diese in den letzten Jahren aufgekommenen Zusammenschlüsse begreift Day als Vorboten der „kommenden Gemeinschaften“. Dies sind nicht-hierarchische Organisierungsformen, die es auf die Zerschlagung gegenwärtig bestehender Knotenpunkte von Macht und Bedeutungsgebung abgesehen haben. Weil der Neoliberalismus zwar global präsent ist, sich aber für verschiedene Identitäten, Orte und Zeiten unterschiedlich auswirkt, lässt sich auch die Logik der Affinität nicht einheitlich bestimmten. Zwei Grundprinzipien macht Day allerdings für sie aus: „groundless solidarity“ und „infinite responsibility“. Die neue Form der Solidarität hat nicht mehr vergleichbares Leid zur Grundlage, sondern fußt auf der Einsicht in den Zusammenhang von eigenen Privilegien mit der Unterdrückung anderer. Und in der Offenheit für den/die Andere/n besteht das wesentliche Merkmal der von Day beschriebenen Verantwortlichkeit.

Die Verknüpfung postmoderner Ansätze mit anarchistischen Ideen ist im deutschsprachigen Raum noch nicht sehr verbreitet. Sie nimmt einerseits die postkolonialen und feministischen Debatten der letzten zwanzig Jahre erneut für radikale Praxis in Beschlag und kann andererseits die im 19. Jahrhundert entwickelten, utopischen Vorstellungen eines freiheitlichen Sozialismus vor ihrer drohenden Verstaubung bewahren. Die These, dass Gustav Landauer, der Aktivist der Münchener Räterepublik, mit seinem relationalen Staatsverständnis poststrukturalistische Theorie antizipiert hat, ist dabei vielleicht überzeugender als die Erweiterung der von Giorgio Agamben aufgebrachten Idee der „kommenden Gemeinschaft“. In die Diskussionen der Bewegungen gegen die neoliberale Hegemonie einzufließen, hat der so genannte Postanarchismus allemal verdient.

Richard J. F. Day: Gramsci is dead. Anarchist Currents in the Newest Social Movements, London (Pluto Press)/Toronto (Between the Lines), 254 S., € 26,50.

AutorIn und feedback: Jens Petz Kastner

Originaltext: http://www.malmoe.org/artikel/widersprechen/1162/37


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