Strategie für Anarchie?
Provozierende Statements und Vorschläge für eine notwendige Debatte
Der Grund dieses Textes: Ich habe es satt, immer wieder zu denken: "Unsere Ideen sind richtig - eine Welt von unten ist das, was ich will", aber dann auch immer wieder einzusehen: "Wir sind einfach ein Haufen Leute in Sturm-und-Drang-Phase oder mit viel Wut, aber ohne Strategie. Die andere Seite, von den Machtzentralen in Regierungen und Konzernen bis zu den akzeptanzschaffenden BeraterInnen in den NGOs, ist uns strategisch meilenweit überlegen." Ich will da raus und möchte, dass wir nicht nur die, wie ich finde, besseren Ideen für eine zukünftige Gesellschaft und konkrete Projekte jetzt haben, sondern auch die besseren Strategien.
Der Anlass dieses Textes: Nie zuvor habe ich die strategische Unterlegenheit politischer Bewegung insgesamt gegenüber der Normalität von Staat, Wirtschaft, Medien usw. so krass erlebt - nie zuvor aber auch das Desaster selbstorganisierter Politikstrategien gegenüber dem hierarchischen modernisierten Apparat (durch viele jüngere, früher selbst oft in radikaleren Zusammenhängen aktive Leute) der NGOs und sonstiger zentraler Organisationen so deutlich wahrgenommen. Die Vorbereitungen waren in beiden großen Bündnissen von wenigen zentralen Figuren dominiert, die mit Ausgrenzung, finanziellen Androhungen bis hin zur Drohung einer wachsenden Konfrontation mit der Staatsmacht das Geschehen steuerten. In den Demos sammelten sich selbstorganisierte Gruppen freiwillig (!) in abgegrenzten Blöcken und reduzierten so ihre Außenwirkung auf ein Minimum. Die Nische ist nicht nur da, sie wird auch noch nach außen dokumentiert! Daher fordere ich eine selbstkritische Debatte.
Hinweis: Den Begriff "autonom" benutze ich im Sinne von selbstorganisiert-unabhängig, was nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit dem Selbstverständnis "der Autonomen", die oft ihre Autonomie nur in äußerlichen Verhaltensweisen (Kleidung, Aktionsformen) finden, aber intern nicht nur Hierarchien aufweisen und damit von Einzelpersonen abhängen, sondern auch mit ihren Strukturen und Ressourcen von anderen abhängen (z.B. finanziell).
Im ersten Teil möchte ich einige provozierende Kritiken an der strategischen Schwäche autonomer Bewegung formulieren, im zweiten Teil dann einige mögliche Perspektiven benennen. Dabei soll der Text nicht mehr sein als ein möglicher von verschiedenen Anknüpfungspunkten für die Debatte, in jedem Fall aber soll klar sein: So weitermachen wie jetzt... heißt ungefähr soviel wie nicht weitermachen!
Provokationen
1. Nischenbildung: Wir fehlen überall dort, wo es wichtig ist!
Wo sich selbstorganisierte Gruppen an Aktionen (z.B. von Bündnissen) beteiligten, überlassen sie meist den "anderen" die Vorbereitungsarbeit. Damit nehmen sie nur wenig Einfluss auf Inhalte und vor allem die Form einer Aktion. Das hat Wirkung: Solche Organisationen, die ganz gezielt eine Dominanz aufbauen, hierarchische Strukturen und/oder Staatsnähe (zwecks Finanzierung u. ä.) wollen, können uneingeschränkt schalten und walten. Die einzige Ausnahme entsteht dann, wenn autonome Zusammenhänge spontan, seltener auch als geplantes Vorgehen, während einer Aktion überraschend mit eigenen Aktionen beginnen und die zentralen Organisationen damit übergehen.
Ähnlich fatal ist die Neigung, sich mit kritischen Positionen und Strategien aus politischen Debatten herauszuhalten. Mensch ist gerne unter sich und sucht nicht die offene Konfrontation. So laufen z.B. Parlamentssitzungen, Parteitage, Pro-Expo-Veranstaltungen, Vortragsreihen zur Nachhaltigkeit oder neuen sozialen Konzepten meist ohne Gegenaktionen oder Beteiligung emanzipatorischer Politikideen. Dieser Boykott stärkt die andere Seite, weil sie in Ruhe ihre Politik machen und die Köpfe beeinflussen kann. Durch eigene Veranstaltungen im eigenen Saft allein stellen wir hierzu kein Gegengewicht dar. Autonome Politik hat nur eine geringe Wirkung, weil sie auf Zufallstreffen baut und sich nicht in strategische und organisatorische Debatten einmischt.
Beispiel Köln (EU-Gipfel 1999, Anm.): Viele selbstorganisierte Gruppen und Netzwerke brachten sich in das größere bürgerliche Bündnis Köln 99 ein - offenbar in der Erwartung, dass Größe (in Form von Mitgliedszahlen?) gleichbedeutend mit Qualität und politischer Wirkung sind. Sie nahmen weitgehend widerstandslos die politische Abflachung z.B. des Aufrufs und die Anbiederung an die Stadt Köln oder die Polizei hin, obwohl diese mit den typischen, üblen Methoden der NGOs durchgesetzt wurden (Androhung von Geldentzug usw. Nicht viel besser sah es im linksradikalen Bündnis aus, wo ebenfalls wenige Gruppen einen klaren Dominanzanspruch hatten und diesen nach allen Regeln der Kunst (Ausgrenzung, Nichtinformation anderer Gruppen usw.) durchsetzten.
2. Desorganisation: Wer immer zwei Stunden zu spät kommt, kann keinen Einfluss nehmen
Der ohnehin vorhandene Unwille zu einer prägenden Rolle innerhalb politischer Bewegung wird in der Wirkung noch gesteigert durch die Art, wie dann in Ausnahmen doch an zentralen Prozessen teilgenommen wird. Ständiges Zu-Spät-Kommen, keinerlei Überblick über Tagesordnungen, Hintergrundinformationen usw. machen selbstorganisierte Gruppen oft zu unorganisierten Einzelpersonen, die in Besprechungen nur wenig einbringen können. Folge: Zentrale Organisationseinheiten teilen die durch Unorganisation willfährigen autonomen Gruppen nach ihren Vorstellungen oft einfach ein.
Beispiel Köln: Selbstorganisierte Gruppen waren in den bei den bundesweiten Bündnissen nur Beiwerk. Die zentralen Entscheidungen fielen in anderen Runden, wo die zentralen Organisationen (Ökoli & Co. im linksradikalen Bündnis, WEED, Euromarsch & Co. in Köln 99) allein schalten und walten konnten. Aus selbstorganisierten Gruppen gab es kaum oder gar keine Gegenpositionen oder gar organisierte Kritik.
3. Ein-Punkt-Bewegungen bilden keine Gegenmacht von unten
Einfache Feindbilder mobilisieren, für alles andere fehlt der Wille zur politischen und strategischen Auseinandersetzung. Als Schlüsselreiz funktionieren vor allem glatzköpfige Faschohorden (während eine Auseinandersetzung mit dem faschistoiden Kern der Gesellschaft selten ist) oder gutbewachte Castorbehälter, zum Teil überhaupt die martialisch ausgerüstete "Bullerei". Aktionen gegen solche Symbole oder offen sichtbare Extreme sind wichtig. Aber sie sind auch einfach und gefährden den Kern dieser Gesellschaft nicht. Darin dürfte einer der Gründe liegen, warum der Staat bis auf Übergriffe während der Aktionen autonome Gruppen nicht nur weitgehend in Frieden lässt, sondern ihnen sogar in Jugendzentren oder Infoläden die eigene Infrastruktur zur Verfügung stellt. Zudem schafft er z.B. mit der unterstützenden Jugendarbeit für Faschos das Konfliktfeld und die Beschäftigung für autonome Gruppen selbst und kann beruhigt sein, nicht selbst das Ziel der Attacken zu werden. Der Kern gesellschaftlicher Strukturen bleibt unberührt - und zwar sowohl real (z.B. die Machtzentralen in der Politik wie in der Wirtschaft) wie auch von den Symbolen her (wenig oder keine politische Aktion gegen die sichtbaren Zeichen der Herrschaft wie Militär, Knäste, Wirtschaftsmessen, Wahlen usw.).
4. Fahnen und "Vereins" sind keine Gesellschaft von unten
Kommt es zu Aktionen, so fehlt oft der Inhalt. Die eigene Ideologie, so sie besteht, wird in Kleidung sowie oftmals nichtssagenden, die eigenen Zusammenhänge bewerbenden Fahnen und Transparenten zum Ausdruck gebracht. Kaum eine Demo oder Aktion findet heute noch als vielfältiges Ereignis mit klaren politischen Aussagen statt - ob es nun eine gemeinsame Aussage ist oder verschiedene nebeneinander, spielt bei dieser Betrachtung keine Rolle, denn meist fehlen sie ganz. Innerhalb selbstorganisierter Gruppen fehlt der Wille, sich im Zusammenhang mit Aktionen intensiv inhaltlich auseinanderzusetzen (positive Ausnahme: Veranstaltungsreihen z.B. in Infoläden und JuZes). Das hat zwei Folgen: Zum einen wird dadurch gefördert, dass in der Öffentlichkeit nur die Aktionsform (sei es nun als Fest oder als Randale) rüberkommt, zum anderen wirkt sich die fehlende politische Tiefe im Werdegang der Menschen aus, die nach meist nur wenigen Jahren Mitarbeit in politischen Gruppen ins Privatleben abtauchen und dann eine beachtliche politische Inhalts- und Prinzipienlosigkeit zeigen. Offenbar hatten sie diese nie, sondern die politische Arbeit aus einer reinen (wichtigen!) Unzufriedenheit zusammen mit einem Gruppengefühl (autonome Gruppen als "Nest"?) durchgeführt.
Beispiel Köln: Mobilisiert wurde kaum nach Inhalten, sondern nach Gruppenzugehörigkeit. Auf den Demos waren Blöcke mit ihren teiluniformen Kleidungen und Fahnen zu sehen, aber sehr selten Inhalte. Auch im Nachhinein wurde von verschiedener Seite die Größe der Gesamtdemo oder des eigenen Blocks, die Tatsache eines Stattfindens (unfassbar was inzwischen schon alles ein Erfolg ist!) oder ähnliches abgefeiert - kaum dagegen erwähnt, dass die Aktionen kaum wahrgenommen oder sie auch kaum inhaltliche Aussagen hatten.
5. Anarchie und autonome Aktionen sind meist nicht mehr als der Bruch zwischen Jugend und Etablierung
Für die meisten Menschen endet der radikalpolitische Abschnitt abrupt, wie er begonnen hat. Politik hat wenig mit tatsächlichen Veränderungswillen zu tun, meist setzen sich selbstorganisierte Gruppen genauso wenig wie etablierte Organisationen mit alternativen Entwürfen für eine Gesellschaft von unten, die eigene Gruppenstruktur oder auch das eigene Leben auseinander. Folge: Eine klare politische Kritik fehlt oder wird nicht öffentlich genannt (siehe Punkt 3), wodurch der politischen Arbeit eine wichtige Wirkung genommen wird. Innerhalb der Gruppe spiegeln sich meist die klassischen Dominanzstrukturen der "normalen" Gesellschaft wieder: MacherInnen und AbhängerInnen/MitläuferInnen, Männer und Frauen, Ältere in der Dominanz zu Jüngeren usw. Am schwerwiegendsten macht sich der Mangel im privaten Leben bemerkbar. Meist führen Menschen aus autonomen Zusammenhängen genauso ihr Leben auf der Grundlage der Zerstörung und Ausbeutung an anderen Orten wie die FunktionärInnen etablierter Organisationen - zumindest tritt das mit zunehmendem Alter verstärkt sich das, bis der Lebensweg ganz in der bürgerlichen Normalität endet.
Perspektiven
1. Vielfältige, selbstorganisierte Aktionskonzepte durch- und umsetzen
Köln war Scheiße - jedenfalls im Großen und Ganzen. Das Wenige, was davon abwich, waren selbstorganisierte Einzelaktionen (Parteibürobesetzung oder Besetzung eines autonomen Zentrums) und bestätigten zum einen eher die Regel, zeigten aber, dass solche Aktionskonzepte viel eher öffentlich wahrgenommen und diskutiert werden als die großen, zentralistisch organisierten Abläufe. Während die 30.000-Leute-Demo kaum und die linksradikale Demo bundesweit fast nicht in den Medien erschienen (die politischen Aussagen schon überhaupt nicht - was teilweise auch besser so war angesichts von Appellen, mehr Arbeitsplätze zu schaffen z.B. beim Auftakt am 29.5.), konnten die kleineren Aktionen am Rande immerhin eine gewisse Aufmerksamkeit erringen.
Diese Logik ist auch aus anderen Zusammenhängen bekannt. Als Beispiel führe ich die Anti-Atom-Bewegung an. Das beste und wertvollste, was dort entwickelt und dann breit akzeptiert wurde, war das Konzept einer Aktionsvielfalt ("Streckenkonzept"), nach dem verschiedene Gruppen die ihnen liegenden Aktionsformen unabhängig voneinander umsetzen konnten. Niemand plant für alle mit, niemand schwingt sich auf, Führungselite für die Bewegung oder eine Aktion zu sein. Genau das hat die Stärke der Anti-Castor-Aktionen ausgemacht. Die Kölner Aktionen waren das genaue Gegenteil: Peinlich genau wurde darauf geachtet, dass alles zentral in der Hand von jeweiligen Organisationsleitungen lag. Bei den Anti-Castor-Aktionen gingen vorher genaue Landkarten und Hinweise über Telefonnummern, Anfahrtsmöglichkeiten von allen Seiten und zu allen möglichen Orten rum. Aber in Köln - nichts dergleichen. Zentralistische Organisationen. Die Demo-TeilnehmerInnen waren nur die Masse, die für den eigenen Medienerfolg (der dann auch noch ausblieb...) oder die zentral ausgewählten Redebeiträge nötig waren.
Dieses Konzept der dezentralen organisierten, aber dennoch vernetzten Aktionen muss von uns (von wem sonst?) im politischen Raum durchgesetzt werden – wir müssen auch in der Lage sein, solche Aktionsformen gegen die zentralistisch agierenden Verbände u.a. zu verwirklichen oder auch ohne sie.
2. Autonome Strukturen aufbauen
Aktions- und Kommunikationsstrukturen für jede Aktion neu aufzubauen, wäre anstrengend und dumm. Daher ist es sinnvoll, autonome, d.h. selbstorganisierte und unabhängige Struktur zu schaffen, die neben den jeweils zu Aktionen aufgebauten Arbeits- und Vernetzungsstrukturen dauerhaft nutzbar sind.
a. Orte, Plätze, Zentren
Politische Freiräume braucht das Land! Infoläden, Projektwerkstätten, Wagenplätze, Kommunen usw. sind wichtig - wenn sie sich denn als politische Plattform begreifen und nicht nur als Rückzugsidylle, Fetenraum und/oder als Ort maximaler Anpassung an den Staat oder seine finanziellen Förderstrukturen. Katastrophal: Die meisten autonomen Zentren gehören dem Staat oder der Stadt. Dieser Zustand spiegelt wieder, wie weit entwickelt das strategische Potential autonomer politischer Bewegung ist. Wo Wagenplätze oder Zentren in Gefahr sind, wird nach Mami/Papi Staat gerufen, etwas Neues zu geben. Peinlich! Wir müssen stattdessen eigene, unabhängige Plätze schaffen - durch (kollektives) Eigentum oder durch politische Besetzung. Wo wir aber solche Pläne haben, müssen sie auch Aktionsplattform sein für die politische Arbeit. Rein private Häuser oder Plätze sind privat und damit nicht-politisch - egal ob sie von BänkerInnen oder Anarchas/os bewohnt werden! Das Private ist wichtig, aber es ist nicht politisch!
Es muss unser Anliegen sein, an unabhängigen Orten Arbeitsmöglichkeiten für politische Gruppen, selbstorganisierte Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit usw. zu schaffen. Medienwerkstätten, Bibliotheken und Archive, technische Infrastruktur, Werkstätten und mehr in jedem Ort!!! Durch geschickte Formen kollektiver Verfügungsgewalt über die politischen Räume müssen diese auf Dauer vor Privatisierung und Kommerzialisierung geschützt sein - also im Zweifelsfall müssen wir sie auch vor uns selbst schützen, da wir davon ausgehen müssen, dass jedeR von uns zu der Mehrheit politisch Aktiver gehört, die nach einiger Zeit politischer Arbeit etablieren und dann das mit politischen Zielen Geschaffene für die eigene Lebensidylle bzw. Lebensabsicherung nutzen wollen.
b. Medien und Veranstaltungen
Der inzwischen fast abgeschlossene Niedergang selbstorganisierter Medien nimmt uns eine wichtige Möglichkeit der Einflussnahme in das gesellschaftliche Geschehen. Als Alternativen bleiben einem nur noch die Anbiederung in die bürgerliche Presse (deren Ausrichtung der Krieg gegen Jugoslawien nicht veränderte, wohl aber mal wieder besonders deutlich machte!) oder der Rückzug in eine Nische ohne Wahrnehmung von außen. Dabei ist unsere Gesellschaft eine Mediengesellschaft. Viele grundlegende Ideen lassen sich nicht auf Spucki oder Plakat unterbringen. Daher müssen wir wieder eigene Zeitungen, Radioprojekte (legal oder illegal ist scheißegal, wichtig ist: selbstorganisiert und politisch) und auch Bildungsarbeit organisieren - von Einzelveranstaltungen bis zu Ideen der Volkshochschulen von unten u.ä. Auch bei Aktionen können zeitlich befristete Zeitungen oder ein Piratensender bzw. ein Kanal im vorhandenen Radio sinnvoll sein. Wir haben gute Ideen - aber niemand bekommt es mit!
c. Betriebe, Verlage usw.
Was für Medien gilt, kann auch für Betriebe im allgemeinen gelten - von Verlagen über Kneipen bis zum Kino. Betriebe sollten als politische Plattform begriffen werden. In vielen Kommunen oder ähnlichen Projekten dienten Betriebe vor allem der finanziellen Absicherung der AkteurInnen. Nur wenige Jahre später waren sie eine Ansammlung kommerzieller Einheiten zum allein privaten Nutzen. Teil einer politischen Bewegung aber sind Betriebe nur dort, wo sie ein politisches Ziel (Bildungs- oder Öffentlichkeitsarbeit, Bau von Aktionsmaterial, Renovierung von Häusern oder Wägen, Kommunikation usw.) verfolgen.
d. Kommunikation und Vernetzung
Welche Vernetzung existiert? Krampfhaft werden einige, bundesweit weniger bedeutsame Zeitungen erwähnt (Interim, radikal usw.), wenn die Frage darauf kommt. Aber es gibt nur wenige Versuche, das breiter anzulegen, viele zu erreichen. Im Antifa-Bereich gebt es einige Vernetzungsblätter, im Umweltbereich seit kurzem die "Ö-Punkte", aber in vielen Bereichen nichts. Übergreifende Telefonketten: Fehlanzeige. Vernetzung zwischen Wagenplätzen, Infoläden und/oder Häusern: Schwach. Gegenseitige Hilfe oder Aufbau gemeinsamer Strukturen: Kaum. Dabei ist Informationsaustausch eine wichtige Grundlage strategischer Arbeit. Ihn zu schaffen, ist ein wichtiges Ziel. Dabei wird es auch hier nach dem Prinzip der selbstorganisierten Vielfalt verschiedene Wege geben. Im Optimalfall ist das Geflecht von Zeitungen, Email-Vernetzungen, Telefonketten, Rundbriefen usw. aber durchschaubar und jede Gruppe und Einzelperson kann sich dort einbringen, wo es ihr am sinnvollsten erscheint. Möglichkeiten der Koordination (auch hier muss es die Vielfalt der Selbstorganisation bringen): Adressbüchlein, Kalenderprojekt(e) u.ä. Einiges gibt es schon und könnte weiterentwickelt werden - aber bislang sind fast alles Nischenprodukte, jede Szene bedient sich selbst.
3. Lebensperspektiven für die Einzelnen entwickeln
Autonome Wohnprojekte sind meist nichts anderes als unverbindliche WGs, die ökonomisch von der Substanz der Orte, vom Überfluss der Gesellschaft oder, am häufigsten, aus ganz normalen Quellen gespeist werden: Eltern, BaFöG, Staatszuschüsse, Maloche oder Sozialamt. Solange aber für die einzelnen Menschen keine Perspektive besteht, das eigene Leben selbst zu organisieren, bleiben die Zwänge des Alltags ein wichtiger Grund für das ständige Wegetablieren der ehemals politisch Aktiven. Stattdessen müssen autonome Wohn- und Lebensräume entstehen , die die einzelnen Menschen herauslösen aus den Zwängen der Normalität und ihnen damit erst die Freiheit geben, Leben und politisches Engagement sowie auch das Ausprobieren alternativer u.a. herrschaftsfreier Zusammenhänge zu verbinden. Die bisherigen Versuche (Kommunen, Ökodörfer, Öko-WGs, Wagenplätze usw.) konnten den Prozess nicht aufhalten, da mit zunehmendem Alter von Personen und Gruppen der Hang zu Absicherung, mehr Luxus und Einnischung in die Normalität nicht durch ein positives Gegenmodell aufgehoben wurde. Hier gilt es, eine strategische Debatte zu führen. Alternative Lebensprojekte müssen Willen und Fähigkeit der Einzelnen zur Auseinandersetzung mit der Gesellschaft erhöhen und selbst Plattform dazu sein. Dumpfe Rückzugsprojekte, legitimiert über "unsere Existenz ist politisch", "echte Veränderung kommt von innen" oder den Glauben an spirituelle bis esoterische Kräfte, sind entpolitisierend und befrieden kritisches Potential. Was wir brauchen sind Projekte, die Gegenmodelle darstellen, sich öffentlich zeigen und reiben an der Realität, sich selbst als politische Speerspitze einer Veränderung und Teil politischer Bewegung begreifen - und trotzdem nicht eine unverbindliche WG ohne langfristige Perspektive für die Einzelnen sind, wo es sich für die paar Jahre der Unzufriedenheitsphase vor der Etablierung aushalten lässt, aber mehr auch nicht.
4. In politische Bewegung einmischen
Aktionen, Zeitschriften, Veranstaltungen und mehr sind Teil der politischen Arbeit. Unsere Positionen haben fast überall ein Schattendasein. Nur selten kümmern sich Menschen auch schon in der Vorbereitung darum, dass Aktionen, Zeitschriften, Veranstaltungen u.ä. basisdemokratisch bzw. nach Autonomiestrategien organisiert werden (positives Beispiel: Bemühungen einzelner (!) Personen aus verschiedenen selbstorganisierten Gruppen im Jugendumweltbereich, Kongresse radikalpolitisch und selbstorganisiert zu gestalten, z.B. JUMJA; schlechtes Beispiel: Köln). Autonome Strategien und Inhalte sind es wert, prägend zu sein für politische Bewegung und sich als durchsetzungsfähig gegenüber reformistischen bis kapitalismuskompatiblen Positionen, vor allem aber gegenüber herkömmlichen Organisationsmodellen in Bündnissen zu erweisen. Dafür aber müssen selbstorganisierte Gruppen sich in die politischen Zusammenhänge, Medien, Netzwerke und Aktionen einmischen, um ihre Vorstellungen politischer Organisation dort einzubringen.
5. In gesellschaftliche Prozesse einmischen
Emanzipatorische Politik steht heute sehr stark am Rande der Gesellschaft, kaum noch wahrnehmbar. Schuld daran ist sie auch selbst, denn ihre VertreterInnen (d.g. Menschen, die eine solche Politik wollen) ziehen sich seit Jahren immer mehr aus der öffentlichen Debatte zurück und schmoren im eigenen Saft. Der (richtige) Wille zur inhaltlichen Konsequenz wird nicht so umgesetzt, dass emanzipatorische Ziele immer klar und unmissverständlich formuliert werden, sondern dass vor allem darauf geachtet wird, dass der Rahmen und die VeranstalterInnen z.B. von Diskussionen die politisch richtige Meinung haben ("pc" sind). Diese Strategie hat zur Folge, dass emanzipatorische Ideen zur Zeit (fast) nur innerhalb einer kleinen Szene überzeugter Menschen diskutiert oder verbreitet werden. In den bedeutenden größeren Teil etablierter Bewegungen und Organisationen, erst recht in der Normalität der Gesellschaft, auch in ihren Bildungs- und Diskussionskreisen (Schulen, Hochschulen, Volkshochschulen, Verbänden und Vereinen, Bildungszentren, Medien usw.) gibt es die Themen Herrschaft, Ausbeutung usw. nicht. Es wirkt fast, also hätten Menschen mit emanzipatorischen Ideen Angst, sich in der Realität zu stellen und für ihre Ideen zu kämpfen. Oder fürchten sie um ihre sozialen Beziehungen in der "Normalität", in der die meisten von ihnen auch existieren wollen (Jobs, Hobbies, NachbarInnenschaft usw.)?
Emanzipatorische Politik muss aus der Isolation befreit werden. Dafür ist nicht notwendig, dass Inhalte oder Positionen aufgegeben werden. Es ist keine Anbiederung, auf einer Veranstaltung, die nicht selbst emanzipatorische Ziele hat, aber die Formulierung solcher zulässt, für die eigenen Positionen zu kämpfen. Politischer Verrat geschieht erst dann, wenn Verhaltensweisen oder inhaltliche Positionen zwecks besserer Akzeptanz oder Anbiederung verändert werden. Notwendig ist aber, radikale, emanzipatorische Politikinhalte und Aktionsformen an vielen Orten dieser Gesellschaft offensiv einzubringen - und sich auch offen zu zeigen als Gruppe, Projekte, Kommune o.ä., die bewusst und sichtbar für eine Welt von unten eintritt. Kein Stammtisch, kein Podium, keine Vorlesung, kein Seminar, kein Arbeitsplatz, keine Schulstunde, keine WG oder Familie und kein anderer Ort ist zu schade für eine Debatte für eine Welt von unten. Wer anders agiert, isoliert sich im eigenen Saft und hat auch ein falsches Verständnis einer Welt von unten - denn "unten" sind nicht die selbstisolierten linken Kader. Die Menschen, die emanzipatorische Politik vertreten wollen, sollen sich in Veranstaltungen, Kongresse, Diskussionen und auf den Podien einmischen, wo über zukünftige Strategien geredet wird. Diese Plattformen sind gute Gelegenheiten, die Dominanz der kapitalismuskompatiblen Politikkonzepte der Marken Humanität, Nachhaltigkeit, Agenda oder Bündnis für Arbeit zu brechen. Nicht die anderen Personen auf den Podien oder die VeranstalterInnen sind unsere Zielgruppe (Kritik an ihnen kann daher auch kein Grund der Verweigerung von Debatten sein!), sondern die Menschen, die zu solchen Veranstaltungen kommen. Sie der "anderen Seite" zu überlassen, ist schlicht dumm.
6. Modelle und Kristallisationspunkte schaffen
Kaum eine politische Idee wird ohne Symbolik durchsetzungsfähig sein. Symbole können der Aufhänger für die Kritik am Bestehenden oder dem Entwurf neuer Ideen, Konzepte oder Visionen dienen - im Einzelfall sogar für beides. Sie haben vielfache Bedeutung für die politische Arbeit:
- als Mobilisierungspunkt, an dem die verschiedenen Gruppen, die sonst "nur" auf ein Thema spezialisiert sind, zusammen agieren und so Kräfte bei den umfassenden Zielen bündeln.
- als öffentlich wahrnehmbares Modell für Alternativen oder Symbol für die aktuelle Normalität, d.h. die Herrschaftsformen, Ausbeutungsstrukturen u.ä.
- Bündelung verschiedener politischer Stoßrichtungen, um gemeinsame Ziele zu formulieren.
Beispiele für solche Modelle und Kristallisationspunkte können die besonderen Symbole von Herrschaft und Ausbeutung sein (Knäste, SpitzenpolitikerInnen-Gipfel, thematisch passende Veranstaltungen, Wahlen, Banken, großtechnische Baustellen oder Objekte, Expo 2000). Ebenso können es positive Modelle sein, also Visionen, Versuche alternativer Projekte mit politischen Zielen und als ein Kern politischer Bewegung usw. Solche gemeinsamen Aktionen ersetzen nicht die weiter notwendigen Ein-Punkt-/Ein-Themen-Gruppen und -initiativen, sondern bieten die Chance zum gemeinsamen Agieren - beides zusammen ergibt die sinnvolle Mischung.
7. Die Debatte anzetteln
Eine Debatte um Strategien muss selbstkritisch sein, d.h. schonungslos aus eigenen Erfolgen und Fehlern lernen. Sie kann und sollte auf die Erfahrungen aus den vielen Jahren selbstorganisierter politischer Arbeit schöpfen, aber nicht daran kleben. Die autonome Politik hat zur Zeit nicht nur gegenüber der herrschenden Politik und Normalität das Nachsehen, sondern auch gegenüber der Art nichtautonomer politischer Arbeit, wie sie von den etablierten, meist staats- und oft wirtschaftsnahen Verbänden (neudeutsch: NGO) betrieben wird. Autonomie bzw. Selbstorganisation ist aber nicht das reine Wegbleiben von Strategie – genauso wenig wie Anarchie nur das Wegfallen des Staates und das Heraufkommen reiner Unorganisiertheit bedeutet. Nein: Eine politische Autonomie besteht sogar erst dann, wenn sie sich organisiert, denn "allein machen sie dich ein"! Politischer Widerstand braucht eine wirkliche Qualität, die wehrhaft ist gegen Repression, Abhängigkeiten und Einverleibung, die Alternativen bietet zu den Wegen der Normalität (auch der normal-etablierten politischen Arbeit z.B. der NGOs). Autonome Politik ist nicht nur ein Inhalt, sondern auch eine Strategie. Und sie hat nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie die bessere ist, als der wirksamere Weg, diese Von-oben-Gesellschaft in Richtung einer Welt von unten, einem emanzipatorischen Ziel zu verändern. Die Existenz autonomer Gruppen als Selbstzweck kann und darf es nicht sein. Notwendig ist die Entwicklung einer Strategie, die den Aufbau von Infrastruktur, Kommunikationsformen und Aktionsfähigkeit beinhalten, eigene Wege in die Öffentlichkeit, Modelle und Kristallisationspunkte, ökonomische Absicherungen, Solidarität und Perspektiven für die einzelnen AkteurInnen.
Wie sagen doch z.B. viele Antifas: Antifa heißt Angriff - und doch sind die meisten Tag für Tag mit der eigenen Isolation beschäftigt, überlassen den Organisationen mit faschistoiden Grundtendenzen (z.B. der "bürgerlichen Mitte") das Geschehen und beschränken vieles, was sie tun, nur auf ihren Bereich. Aber das ist nur ein Beispiel. Wir müssen insgesamt dafür sorgen, dass diese Welt im allgemeinen und die politische Bewegung im speziellen nicht mehr länger in Ruhe gelassen wird von den emanzipatorischen Ideen. Die Zeit muss vorbei sein, in der etablierte Organisationsspitzen von NGOs und anderen, oft mit Parteibüchern in der Tasche, sich als Bewegung ausgegeben haben und Schröder, Daimler & Co. als ihre GesprächspartnerInnen über die Zukunft der Welt ansahen. Die politische Bewegung ist der erste Punkt, an dem die Gesellschaft von unten Wirklichkeit werden muss - von ihren (Macht-) Strukturen her genauso wir von ihren inhaltlichen Positionen und Strategien, gegen die Welt von oben anzutreten statt deren Begleitmusik zu sein.
Robin Wut, unterwegs
Aus: Interim # 481, 29.7.1999
Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/astrat01.html (Rechtschreibung überarbeitet)