Business as usual... Überlegungen zur Krise der radikalen Linken
Ich hab mal irgendwo gelesen, dass die Art, wie die schweizerische Bürokratie funktioniert, sich auf eine Formel mit drei „D“ zusammenfassen lässt:
- Das hämmer scho immer so gmacht.“
- Das hämmer no nie so gmacht.“
- Da chönnt ja jede cho.“
Ich wollte dies erwähnen, weil ich manchmal das Gefühl habe, dass der linke Politzirkus genau gleich funktioniert. Wie bei vielen meiner Generation, d.h. Leuten, die jetzt ungefähr zwischen 20 und 30 Jahre alt sind, wurde meine politische Einstellung durch die Proteste gegen den Afghanistan- und den Irakkriege geprägt. Die grosse Bewegung gegen den Irakkrieg ist zwar nach kurzer Zeit wieder eingeschlafen, aber die Euphorie und die begonnene Politisierung hielt bei vielen jungen Leuten an. Viele hatten inzwischen die Antiglobalisierungsbewegung wahrgenommen und manche wurden Teil von ihr. Ihre Kritik und ihre kreative Energie, die z.B. durch den Rapper Greis in seinem Lied „Global“ oder in PVP‘s „Ufstand“ sogar über Radio oder TV liefen, waren unter vielen Jungen populär.
Die Gegenseite lernte aber schnell und begann die Bewegung in zwei Gruppen aufzuspalten. Die erste Gruppe, zu denen NGOs, Parteien, Gewerkschaften und Kirchen gehören, wurde mittels Dialog eingebunden (z.B. in das Оpen Forum am WEF in Davos), die zweite, die grundsätzlichen KritikerInnen der ausserparlamentarischen Linken, wurden als Chaoten kriminalisiert und polizeilich eingekesselt. Dieses Vorgehen war auch psychologische Kriegsführung und ich bin überzeugt, dass sie trotz aller Durchhalteparolen der Вewegung bei vielen auf persönlicher Ebene genau die
gewünschten Effekte hervorgerufen hat: Ohnmacht, Resignation, „Rückzug ins Private“.
Hier stehen wir heute. Die einstige kritische Energie ist zusehends verbleicht. Was geblieben ist, ist die Konfrontation mit der Polizei (von einigen Unbeirrbaren immer noch als der eigentliche Austragungsort „unseres Kampfes“ begriffen). Und Partys gibt es auch noch – und die bringen immer wieder viele Leute unter einem relativ unverbindlichen und eher konsum- als handlungsorientierten linken Wertekonsens zusammen (siehe den Hype um den Müslüm-Song). Doch wenn man ausnahmsweise mal über den Tellerrand der eigenen Selbstinszenierung blickt - man entschuldige meine harte Ausdrucksweise - dann ist diese Szene im Moment aber nur eins: isoliert und politisch wirkungslos.
Das sollte uns weder überraschen noch allzu fest in Panik versetzen, den auch das war auf eine gewisse Weise, „schon immer so“. Der Historiker Hans Ulrich Jost, der den Einfluss linksradikaler Gruppen auf den schweizerischen Generalstreik 1918 untersucht hat, betont, dass solche Gruppen nur in Zeiten sozialer Krisen eine wirklich einflussreiche Rolle spielen können: „Ihre radikale, anarchistisch gefärbte, meist durch eine realitätsferne Philosophie geprägte Politik war aber kaum geeignet, breit in die Arbeiterschaft einzudringen. Sie bildeten keinen Machtfaktor im politischen System, spiegelten aber in aller Schärfe allgemeine sozio-politische Spannungen. Die Bedeutung dieser radikalen Linken überspringt dort ihre Bedingungen und Beschränkungen, wo ein sozio-politisches System in der Phase einer grossen Krise die Grundsätze und Normen der Verhältnismässigkeit verliert.“ (1)
Wenn dieser Gedanke auf heute übertragen wird, dann kann die aktuelle Krise (die noch lange nicht vorbei ist) und ihre Abwälzung auf die mittleren und unteren Gesellschaftsschichten zu zunehmend fruchtbareren Bedingungen für politische Interventionsversuche führen. Klar: Nur weil die Lebensbedingungen abgesenkt werden, kommt es nicht automatisch zu neuen Kämpfen. Aber wenn lange existierende Absicherungen und Standards einbrechen, zerbröckeln auch die Ideologien, die darum herum entstanden. Die Leute stellen sich neue Fragen und sind offener für andere Antworten. Was diese Fragen sind, wie und wo sie diskutiert werden und welche Antworten darauf entstehen könnten – das zu untersuchen, wäre das Gebot der Stunde. Doch „die (radikale) Linke ist nicht auf der Höhe der Zeit, sondern macht business as usual. Bündnispolitik, Mobilisierung zum symbolischen Gipfelsturm, Hoffen auf Gewerkschaften und andere Institutionen.“ (2) Diese Aussage aus einer Krisenanalyse der Zeitschrift Wildcat hatte es zum 1. Mai 2009 sogar auf die Startseite des deutschsprachigen „Indymedia.ch“ geschafft, doch sie gab wohl eher die Ansicht eines Teils der Indymedia-Redaktion, als tatsächliche Lernprozesse einer breiteren Szene wieder.
Tatsächlich scheinen sich althergebrachte „gut/böse“-Erklärungsmuster hartnäckig zu halten: „Einige AktivistInnen schienen die Welt in Kategorien von wir, sie und sie einzuteilen: ein »sie« sind die KapitalistInnen und ihre Organisationen, sehr clever und möglicherweise allmächtig; das andere »sie« steht für die »Arbeiterklasse« oder »die gewöhnlichen Leute«, mitschuldig, ignorant, und / oder zu lethargisch, »etwas zu unternehmen«. Das »wir« dagegen ist unproblematisch und klar definiert: »wir« sind »die Erleuchteten«. Diese Sicherheit ist sicher nicht hilfreich! Tatsächlich verläuft sie parallel zu der alten Argumentation der traditionellen Linken: weil die Arbeiterklasse nicht »politisiert« (oder »aktiv«) ist, muss sie erzogen und auf ihre historische Rolle vorbereitet werden. Wenn du nicht Teil der Lösung bist, bist du Teil des Problems.“ (3)
Zu diesem elitären Selbstbild gehört auch, dass man seine eigene Lebenssituation kaum thematisiert: Falls es sowas, wie einen „Klassenstandpunkt“ unter diesen „Radikalen“ gibt, dann will man etwas für das Proletariat, das Prekariat, die MigrantInnen (etc.) erkämpfen und sieht sich nicht als Teil der Klasse, der Ausgebeuteten, der Unterdrückten. Dementsprechend kommen diese „Radikalen“ auch nicht auf die Idee ihre eigene Lebenssituation zu thematisieren oder eigene Arbeitsbedingungen mit einem kollektiven Kampf zu verteidigen oder zu verbessern. Hier kämpft jeder für sich allein. (4)
Auf die Höhe der Zeit zu kommen würde bedeuten, sich aus den szenemässigen Selbsbezogenheit rund um Themen wie Antifaschismus, Globalisierungskritik usw. zu lösen und sich für die realen Bedingungen und Prozesse zu interessieren. Es würde bedeuten, Politik wieder als offenen Lernprozess zu begreifen, in dem man nicht einfach aus der Vogelperspektive die Abschaffung des des Kapitalismus oder die Revolution „predigt“, sondern in seinem eigenen Alltag und sonst wo die Situationen und Umstände sucht, in denen Leute sich gemeinsam selbst bemächtigen (können). Es würde bedeuten, sich in konkrete soziale Auseinandersetzungen – egal wie gross oder klein diese sein mögen – einzumischen.
Reto Obst
Anmerkungen:
1.) Hans Ulrich Jost, Linksradikalismus in der deutschen Schweiz 1914-1918, Bern 1973, S.35
2.) Aus Wildcats 5 Thesen zur globalen Krise http://www.wildcat-www.de/aktuell/a073_krise_15thesen.htm
3.) What is the Movement? (Leeds May Day Group), deutsch unter http://www.nadir.org/nadir/initiativ/agp/de/texte/movement.htm
4.) Aus einem Beitrag von http://www.chefduzen.ch > Allgemeines Sozial- und Politikforum > „Мassenentlassungen“-Thread > Seite 6, 1. Beitrag (Kuddel)
Aus: di schwarzi chatz Nr. 9, Nov./Dez. 2010 (FAU Bern)