Anfang November 2011 eröffnete die Soziale Krankenstation der Solidarität Thessaloníkis (SKS). Das Projekt kümmert sich um die gesundheitliche Grundversorgung des wachsenden Teils der Bevölkerung Thessaloníkis, die auf Grund der kapitalistischen Kahlschlagpolitik keinen Zugang zu Krankenhäusern und Gesundheitszentren mehr haben. Ein Interview mit Serafía Kalamítsou, 37, Kinderärztin, Anarchistin und von Beginn an im SKS aktiv. (Spendenkonto am Ende, Interview und Übersetzung Ralf Dreis, als gekürzte Fassung in GWR 373 erschienen). Weitere Infos zu selbstverwalteter Gesundheitsversorgung gibt es z.B. hier. Das Interview wurde von der FAU übernommen.
RD: Hallo Serafía, kannst du als erstes etwas zur Situation in Griechenland sagen und dann erklären von wem die Idee des Aufbaus der SKS ausging und wie sie umgesetzt wurde.
SK: Hallo Ralf, ich werde etwas zur Lage im Gesundheitssektor sagen, da wir mit der SKS vor allem in diesem Bereich aktiv sind, auch wenn unsere Arbeit gezwungenermaßen noch andere gesellschaftliche Problematiken mit einbezieht.
Wichtig ist, dass die Probleme im Gesundheitssektor schon vor Ausbruch der ökonomischen Krise vorhanden waren. Die Situation hat sich einfach weiter verschlechtert und betrifft weitaus mehr Menschen. Aber auch zuvor war es so, dass viele keinen Zugang zum Gesundheitssystem hatten oder dass diejenigen die einen Dienst in Anspruch nahmen, ablehnend behandelt wurden oder unter der Hand für eine Behandlung bezahlen mussten. Im Februar 2011 während des Hungerstreiks von 300 Immigranten, die für einen legalen Aufenthaltsstatus in Griechenland kämpften, fanden wir uns als unterstützende Gruppe zusammen. 50 der Hungerstreikenden waren im Arbeiterzentrum Thessaloníkis untergebracht und hatten um Hilfe von Menschen aus dem Gesundheitsbereich gebeten. Verschiedene ÄrztInnen, KrankenpflegerInnen und PsychotherapeutInnen - hauptsächlich AnarchistInnen, Antiautoritäre und Linke - gründeten daraufhin eine solidarische Krankenstation im Arbeiterzentrum um die Hungerstreikenden ärztlich zu begleiten. Die lebten zum Großteil schon seit vielen Jahren ohne legalen Status in Griechenland und hatten immer wieder Anträge eingereicht und viel Geld an diverse Behörden gezahlt um legale Aufenthaltspapiere zu bekommen. Letztendlich blieb ihnen nur noch das Mittel des Hungerstreiks um ihre Rechte einzufordern. Nach dessen Ende, und erfüllt vom Enthusiasmus unserer fruchtbaren Zusammenarbeit jenseits der Krankenhausarbeit, beschlossen wir als Unterstützergruppe eine soziale Krankenstation für Flüchtlinge in unserer Stadt aufzubauen.
RD: Am Anfang dachtet ihr also an eine Krankenstation ausschließlich für Flüchtlinge.
SK: Ja, allerdings beschlossen wir schnell, alle Menschen ohne Krankenversicherung mit einzubeziehen, also MigrantInnen und GriechInnen, und noch während wir diskutierten und Plena abhielten, wie das Projekt umzusetzen sei, schlugen die Spardiktate von IWF, EU-Kommission und EZB voll auf die griechische Gesellschaft durch. Mit dem Ergebnis, dass die Zahl der Nichtversicherten so rapid anstieg, dass inzwischen weit über die Hälfte unserer PatientInnen GriechInnen sind. Zu Beginn wandten wir uns an die Stadt, damit sie uns eins ihrer massenhaft leerstehenden Gebäude zur Verfügung stellen. Doch den städtischen Verantwortlichen fiel außer diversen Ausflüchten nichts ein. Später versuchten wir Räume zu mieten, was aus finanziellen Gründen nicht gelang, danach diskutierten wir die Möglichkeit einer Hausbesetzung, was von vielen aus der Gruppe abgelehnt wurde, da es für Menschen ohne Papiere gefährlich oder mit Angst verbunden sein kann, in ein besetztes Haus zu kommen. Letztendlich einigten wir uns mit dem Arbeiterzentrum, das uns die Räume im 1.Stock des Gebäudes in der Aisópou-Str. 24 zur Verfügung stellte, wo wir uns jetzt befinden. Das Arbeiterzentrum bezahlt uns momentan auch den Strom, so dass unsere Hauptausgaben den Kauf von Impfstoffen und Zahnersatz betreffen, was sich auf ca. 5000,- Euro monatlich beläuft. Die meisten übrigen Arzneimittel und Verbandsstoffe, die wir verwenden, stammen aus Spenden von Privatpersonen, die ihre Hausapotheke geplündert haben.
RD: Kannst du uns einen Überblick verschaffen, mit wie viel Personen ihr die SKS aufgebaut habt und wie die weitere Entwicklung war?
SK: Am Anfang, während des Hungerstreiks, waren wir ca. 30 Leute. Danach kamen einige mehr auf die Plena während der Planungsphase und momentan beteiligen sich mindestens 200 Menschen aus dem Gesundheitsbereich. Darüber hinaus gibt es ÄrztInnen mit eigener Praxis, die sich gerne direkt beteiligen würden, was aber auf Grund der gleichen Sprechstundenzeiten nicht klappt. Die übernehmen dann 2 oder 5 oder 10 PatientInnen des SKS monatlich in ihrer Praxis. Im SKS selbst existieren verschiedene Fachbereiche wie Allgemeinmedizin, Zahnarzt-, Psychotherapeutische- und Kinderärztliche Praxis und die soziale Apotheke, in der die PatientInnen ihre Medikamente kostenlos bekommen. Das alles wird von Bürokräften organisiert und koordiniert ohne die das ganze Projekt unmöglich funktionieren würde.
RD: Kontrolliert ihr ob eure PatientInnen krankenversichert sind?
SK: Nein, wir wollen das nicht kontrollieren. Wir haben immer wieder öffentlich erklärt, dass wir nicht vorhaben - und es abgesehen davon auch nicht können - das bestehende staatliche Gesundheitssystem zu ersetzen. Wir werden nicht versuchen zum Gesundheitsministerium anstelle des Gesundheitsministeriums zu werden. Wir sind für all diejenigen da, die vom kapitalistischen System ausgeschlossen wurden, die aus den Krankenhäusern und Gesundheitszentren rausfliegen und nirgends anders behandelt werden. Wir haben nicht die Absicht für immer zur Verfügung zu stehen, sondern versuchen die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle Menschen einen gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitssystem haben und niemand von der Behandlung im Krankenhaus ausgeschlossen ist. Wir können nur eine gesundheitliche Grundversorgung bereitstellen, doch sobald eine Operation oder eine Wirbelsäulentomografie nötig wird, müssen unsere PatientInnen gezwungenermaßen in irgendein Krankenhaus. Es ist also unabdingbar für alle Menschen eine kostenlose Gesundheitsversorgung zu erkämpfen, unabhängig davon, ob sie krankenversichert sind oder nicht.
RD: Ist die SKS jeden Tag geöffnet?
SK: Unsere Sprechstunden finden täglich, außer Sonntag statt.
RD: Der Bedarf scheint also groß zu sein.
SK: Zu Beginn hatten nur einige Fachbereiche tägliche Sprechstunden, inzwischen gibt es Bedarf an weiteren Fachbereichen, an viel mehr ÄrztInnen die Schichten übernehmen können und unsere Räume werden auch langsam zu klein. Außerdem werden in diesem Winter noch weitaus mehr Menschen ohne Krankenversicherung zur SKS kommen.
RD: In Deutschland interessieren sich viele Menschen für die Arbeit des SKS. Ich denke die Mehrheit dieses sozial engagierten Teils der Bevölkerung, schätzt euer Projekt als karitativen Dienst ein. Stimmt das mit eurer Selbsteinschätzung überein?
SK: In Griechenland gibt es verschiedene Arten sozialer Krankenstationen. Wir bezeichnen uns als „Soziale Krankenstation der Solidarität“, oft ziehe ich persönlich die Bezeichnung „Solidarische Krankenstation“ vor, da sie deutlicher ausdrückt für was wir stehen. Es gibt im Moment solidarische Krankenstationen wie uns, die selbstverwaltet und von der Basis auf selbstorganisiert arbeiten, keine Nichtregierungsorganisation (NGO) sind und nicht zur Kirche gehören. Es gibt außerdem soziale Krankenstationen, die karitative Arbeit leisten und von NGO, der Kirche oder Ärztevereinigungen unterhalten werden und es gibt die Nazipropaganda von Chrysí Avgí (Goldene Morgendämmerung), die „Soziale Krankenstationen nur für Griechen“ angekündigt haben. Tatsächlich handelt es sich dabei um Propaganda, da diese Nazipartei nicht in der Lage ist solche Projekte zu verwirklichen. Eine ihrer so genannten sozialen Krankenstationen war für die Stadt Xánthi in Nordgriechenland angekündigt. Real handelt es sich um einen faschistischen Armeearzt, der nie einen Patienten behandelt hat.
RD: Am 13.September war in der Tagespresse zu lesen, dass Chrysí Avgí zu „Blutspenden nur für Griechen“ aufruft.
SK: Ja, die Nachricht stimmt, aber auch dabei handelt es sich um Nazipropaganda von Chrysí Avgí mit der sie beweisen wollen, dass sie sich um die Griechen kümmern. GenossInnen aus Athen berichteten, dass sich nur 10 bis 12 Nazis an der Blutspendenaktion beteiligten. Die ärztliche Deontologie besagt übrigens eindeutig, dass Blut gespendet und nicht verkauft wird und dass dieses Blut ausschließlich nach medizinischen Kriterien denjenigen zur Verfügung gestellt wird, die es benötigen. Es ist lächerlich und unwissenschaftlich griechisches Blut für griechische Patienten oder deutsches für deutsche zu spenden. Ekelhaft und skandalös ist allerdings, dass die zuständige staatliche Behörde auf Anforderung von Chrysí Avgí tatsächlich eine Blutspendeeinheit zur Verfügung gestellt hat. Die Konföderation der Krankenhausärzte und die Allgriechische Ärztevereinigung haben die rassistische Blutspendenaktion dagegen in ihren Erklärungen scharf verurteilt.
RD: Zurück zu euch und euren Zielen als solidarischer Krankenstation. Außer Menschen ohne Krankenversicherung eine medizinische Grundversorgung zu gewährleisten, zielt ihr durchaus noch auf anderes ab.
SK: Wir haben das Projekt nicht gestartet um unsere Seele mit karitativer Arbeit zu retten, sondern verstehen uns als politisches Projekt mit einem klaren Ziel. Unser Hauptziel als SKS ist es zu zeigen, dass solidarische Strukturen funktionieren und das es durch solidarische Organisierung gelingen kann die Probleme zu überwinden, die durch die ökonomische Krise entstehen. Solidarität bedeutet dabei mehr als nur eine helfende Hand auszustrecken. Solidarische Strukturen können dann wirkungsmächtig werden, wenn Solidarität zum Teil des Bewusstseins wird, nicht nur unserer PatientInnen, sondern auch ihrer Familien, und der Viertel in denen sie wohnen. Während eines solchen Prozesses wird klar, dass solidarische Strukturen nicht nur im Gesundheitssektor geschaffen werden können sondern auch in allen anderen Bereichen unseres Lebens. Dieser Bewusstwerdungsprozess ist sehr schwer in Gang zu setzen. Wenn wir jedoch dabei stehen bleiben nur ein funktionierendes Gesundheitszentrum erschaffen zu haben, war unsere Arbeit umsonst. Erfolg haben wir dann, wenn es gelingt das SKS zum Teil einer allgemeinen Bewegung mit dem Ziel der gesellschaftlichen Selbstverwaltung und Solidarität in der Stadt, aber auch im ganzen Land, zu machen.
RD: Es gibt ja eine ganze Menge selbstverwalteter Strukturen in Thessaloníki. Seid ihr untereinander koordiniert? Gebt ihr gemeinsame Texte oder politische Analysen heraus? Organisiert ihr Veranstaltungen oder Demonstrationen mit anderen Projekten wie dem sozialen Zentrum Mikrópolis, oder den BesetzerInnen des ehemaligen Armeegeländes im Westen der Stadt, die als „PerKa“ kollektiv Gemüse anbauen? Habt ihr Kontakt zu den besetzten Häusern?
SK: Gemeinsame politische Texte haben wir bisher nicht herausgegeben, aber es gibt Plena zu denen wir gehen oder Menschen aus anderen Projekten, die auf unsere Plena kommen. Das Mikrópolis unterstützt uns beispielsweise finanziell mit einem festen monatlichen Beitrag. Mit verschiedenen anderen Gruppen der Stadt versuchen wir ein antifaschistisches, antirassistisches Netz aufzubauen. Es ist uns bisher nicht gelungen eine organisatorische Struktur zu erschaffen aber informell gibt es viele Verbindungen zwischen den verschiedenen Projekten.
RD: Wenn ihr über solche Art von Zusammenarbeit diskutiert, oder politische Aktionen beschließt, wer entscheidet dann letztendlich was geschieht?
SK: Das SKS ist selbstverwaltet und alle Entscheidungen werden von der Vollversammlung getroffen. An den Vollversammlungen kann jede und jeder teilnehmen. Leider wird das nicht von allen wahrgenommen sondern meist entscheiden 40 bis 60 AktivistInnen was geschieht. Viele ziehen die aktive Arbeit den Diskussionen der Vollversammlung vor. Ich persönlich halte es für überaus wichtig sich gemeinsam Standpunkte zu erarbeiten und zu Entscheidungen zu gelangen.
RD: Welche Reaktionen gibt es von Seiten des Staates oder der Massenmedien auf euch?
SK: Wir versuchen immer mit eindeutigen antirassistischen Positionen an die Öffentlichkeit zu treten und veröffentlichen unsere Texte in vielen verschiedenen Sprachen in der Stadt. Das SKS ist dadurch mittlerweile ziemlich bekannt und wird von vielen Menschen unterstützt. Eine Tatsache, die uns momentan vor direkten staatlichen Angriffen schützt. Die Massenmedien spielen ihr eigenes Spiel. Die präsentieren natürlich keine antikapitalistische oder antirassistische Perspektive, sondern wollen unsere „karitative“ Arbeit herausstellen, weshalb wir im Umgang mit den Massenmedien sehr vorsichtig sind. Die Befürchtung liegt einfach nahe, dass sie unsere Inhalte völlig ins Gegenteil verdrehen und uns im Endeffekt als Ersatzkirche oder NGO darstellen.
RD: Wir haben vorhin die faschistischen Banden von Chrysí Avgí erwähnt. Ein Projekt wie das SKS drängt sich doch förmlich auf als Angriffsziel der Nazis?
SK: Diese Gefahr besteht tatsächlich, da im Stadtteil indem wir uns befinden nicht nur viele MigrantInnen wohnen, sondern sich auch das Parteibüro von Chrysí Avgí befindet. Wir machen uns durchaus Sorgen wegen möglicher Naziangriffe auf unsere PatientInnen oder uns selbst wenn wir spät abends das Haus verlassen. Bisher ist zum Glück nichts passiert. Abgesehen von den persönlichen oder informellen Verbindungen zu anderen Projekten über die wir gesprochen haben, gibt es eine antifaschistische Telefonkette, die bei Gefahr aktiviert wird.
RD: Über eure Ausgaben und wie sie gedeckt werden haben wir zu Beginn gesprochen. Welche Möglichkeiten bestehen für solidarische Menschen aus Deutschland, die euren Kampf gegen die kapitalistische Barbarei unterstützen wollen?
SK: (lacht) Na, das Naheliegende ist natürlich die finanzielle Unterstützung. Geld brauchen wir immer und wie ich beschrieben habe gibt es Sachen, die wir kaufen müssen, also vor allem Zahnersatz, Plomben, Impfstoffe für Kinder und so weiter, was alles sehr teuer ist. Ein nicht krankenversichertes Kind bekommt beispielsweise keine Impfungen umsonst, was bedeutet, dass es nicht geimpft wird. Um später eingeschult zu werden, muss es allerdings den Impfausweis mit allen Schutzimpfungen vorweisen. Eltern, die nicht einmal genug Geld haben um ihre Kinder zu ernähren, können sich die teuren Impfungen einfach nicht leisten. Von solchen Verpflichtungen gegenüber den BürgerInnen hat sich der griechische Staat einfach verabschiedet, was mit der entsprechenden Rückendeckung der Massenmedien und verbreiteter rassistischer Propaganda zum weiteren Erstarken der Nazis führt. Bisher bekommen wir finanzielle Unterstützung von Betriebsgruppen, Vereinen, durch Veranstaltungen, von Privatpersonen oder durch andere Projekte wie das Mikrópolis. Das langt aber nicht und da sich die Situation weiter zuspitzen wird wären Spenden von GenossInnen aus Deutschland sehr willkommen. Darüber hinaus könnten solidarische ÄrztInnen, falls sie die Möglichkeit haben, uns bestimmte teure Medikamente zukommen lassen. Außerdem brauchen wir Ideen und Unterstützung im antifaschistischen Kampf und für antirassistische Mobilisierungen, wo ihr ja in Deutschland langjährige Erfahrungen habt.
Kontakt: Aisópou Straße 24, Thessaloníki,
email: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Tel: 0030-2310-520386
Spenden bitte an: Freunde der sozialen Krankenstation der Solidarität Thessaloniki,
Pireos Bank
KTO: 5272-059087-744
IBAN: GR89 0172 2720 0052 7205 9087 744
BIC: PIRBGRAA