Anton Pannekoek [1] - Marx und Bakunin

… Ich denke, daß wir jetzt, bedingt durch die gegenwärtigen Bedingungen, die die gesellschaftliche Entwicklung hervorbracht hat, in der Stimmung sind, objektiver, ohne Partei zu ergreifen, die Auseinandersetzung zwischen zwei großen Revolutionären betrachten können, welche die rev[olutionäre] Bewegung des 19. Jahrhunderts dominiert hat; zu schätzen, daß wir sie beide haben, und um ihre Unterschiede und Gegensätze zu verstehen. Beide nahmen an der Revolution von 1848 aktiv teil; aber dann trennten sich ihre Wege; sie waren in der Tat beide Produkte völlig unterschiedlicher sozialer Umgebungen. B[akunin] kam aus Rußland, wo der zaristische Absolutismus allen sozialen und geistigen Fortschritt niederhielt; Marx wurde durch den aufsteigenden westlichen Kapitalismus geformt.

Für Bakunin war deshalb die Freiheit die große Idee; er sah in … der Staatsmacht die Grundlage der Sklaverei und der Armut der Massen. Marx sah in der kapitalistischen Ausbeutung den Grund für Elend und Sklaverei; politische Freiheit sah er in England vorhanden, allerdings waren die miteinander konkurrierenden kleinen Unternehmen dort unorganisiert, und so sah er Organisation als die vorrangige Forderung an, die nur durch eine zentrale beherrschende Macht gesichert werden konnte, durch eine demokratische Staatsmacht, dominiert durch die Arbeiterklasse.[2] Deshalb waren ihre grundlegenden Ideen einander entgegengesetzt; M[arx] erkannte, daß Bakunins politische Freiheit nicht ausreichte (… England); B[akunin] erkannte, daß Marx organisierte Staatsmacht die schlimmste Sklaverei hervorrufen würde. Bakunin hatte, wie viele Russen, die westliche Wissenschaft studiert und angenommen und sie, im Unterschied zu anderen Russen, angewendet, um am Kampf der ausgebeuteten Massen in Westeuropa teilzunehmen, unter der Annahme, daß ihre Bedrückungen dieselben wären wie seine. Marx revolutionierte die westliche Wissenschaft und schuf dadurch, mit seinem Historischen Materialismus und seiner ökonomischen Theorie des Kapitals, eine neue Grundlage für alle zukünftigen Klassenkämpfe.

Ihr Zusammenprall in der 1. Internationale ist von beiden Seiten, von Sozialisten und Anarchisten, behandelt worden, wobei jede ihre großen Vorbilder verteidigte, indem sie meist die alten Argumente und Anschuldigungen wiederholte. Sie kennen das Werk des Schweizer Autors Brupbacher über Marx und Bakunin;[3] als der wohlbekannte deutsche Historiker und Sozialist Franz Mehring damals dessen Ansichten teilte und selbst seine kritische Haltung zu vielen von Marx Ansichten ausdrückte, erfuhr er viel Widerspruch unter seinen sozialistischen Parteigenossen;[4] ich glaube, ich kann mich daran erinnern, daß Rjazanow, sicher einer der besten Experten für sozialistische Geschichte, Mehring dafür kritisiert hat.[5]

Es war nicht einfach der Zusammenstoß zweier entgegengesetzter Charaktere – hier der feurige Geist, der an die rebellischen Gefühle appellierte, um für die Freiheit zu kämpfen, dort der ernsthafte Wissenschaftler, der versucht, die erwachende Arbeiterklasse zu organisieren. Es ging um das Problem, wie Organisation und Freiheit zu einer Form und Methode der revolutionären Aktion vereint werden könnten. Dies konnte zu dieser Zeit nicht gelöst werden, denn seine Lösung erforderte eine höhere Form des proletarischen Bewußtseins als jenes, das im 19. Jahrhundert präsent war. Die kapitalistische Entwicklung hat seitdem diese Bedingungen verändert. Organisation ist eine Waffe des Kapitalismus geworden, und in seiner Hand wurde die Staatsmacht in Deutschland und Rußland zu einem vernichtenden Instrument der despotischen Unterdrückung aller Freiheit. Heutzutage, wo Sozialisten, die sich, in einseitiger Verzerrung seiner Ansichten, Anhänger von Marx nennen, jetzt als Agenten des Staatskapitalismus handeln, ist es natürlich, daß die Schriften Bakunins in weiteren Kreisen Aufmerksamkeit finden. Und deshalb denke ich, daß ein Buch, das seine Gedanken erläutert, unter den Arbeitern großes Interesse finden wird.

Wir sollten allerdings nicht vergessen, daß damit das Problem nicht gelöst ist. Diese Lösung kann sich nur aus der Aktion der Arbeiterklasse entwickeln, wenn sie gegen die sich verschlechternden Bedingungen unter einer mächtiger werdenden Staatsdiktatur kämpfen muß. Ich denke, es sollte klar sein, daß die Räteorganisation die Synthese für die Ansichten bildet, die im vorigen Jahrhundert im vollständigen Antagonismus[6] zueinander zu stehen schienen. Hierin sind die Ziele Organisation und Freiheit zu einer harmonischen Einheit verbunden. Sie erschien zuerst spontan in den Sowjets der Russischen Revolution, wurde aber bald vom Staatskapitalismus unterdrückt und verzerrt. In Deutschland kam sie dann 1918-19 als Arbeiterräte[6] plötzlich wieder auf, und hier und in Holland, in den Splittergruppen, die sich der Entwicklung der KP widersetzten, fand die Idee der Arbeiterräte einen immer klareren Ausdruck. Mit dieser neuen Betrachtungsweise werden wir in der Lage sein, das Werk unserer großen Vorgänger besser zu verstehen. …

Übersetzung: Jonnie Schlichting

Anmerkungen:
[1] Auszug aus einem Brief von Anton Pannekoek an Paul Mattick vom 26. Mai 1949. Das Original befindet sich im Amsterdamer Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG, Archief Anton Pannekoek, F. 108 PP.8). Die Transkription des englischsprachigen Originals wurde am 20. Oktober 2014 auf libcom.org veröffentlicht (http://libcom.org/history/pannekoek-marx-bakunin) – Auslassungszeichen im Text nach der Vorlage, alle Anmerkungen und [eckigen Klammern im Text] vom Übersetzer.
[2] Der Satz ist grammatisch teilweise etwas verunglückt: »political freedom he [Marx] saw present in England, where, however the competing small business, unorganized, he considered organization as the chief demand, which could only be ascertained by a central dominating power, democratic state power, dominated by the working class«
[3] Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin. Ein Beitrag zur Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation. München 1913, G. Birk & Co. [2. Auflage (Politische Aktions-Bibliothek 11), Berlin-Wilmersdorf 1922 (Aktion)]
[4] Franz Mehring, Neue Schriften über Marx ; in: Die Neue Zeit (NZ), Jg. 31, Bd. 2, Heft 51, 19. 9. 1913 (Feuilleton Nr. 67), S. 985-991
[5] D. B. Rjazanows Polemik erschien unter dem Titel Sozialdemokratische Flagge und anarchistische Ware. Ein Beitrag zur Parteigeschichte im 1. Band des 32. Jg. der NZ, Heft 5, 31. 10. 1913, S. 150-161, Heft 7, 14. 11. 1913, S. 226-239, Heft 8, 21. 11. 1913, 265-272, Heft 9, 28. 11. 1913, S. 320-330, Heft 10, 5. 12. 1913, S. 360-376.

Mehring schrieb darauf eine kurze Replik (Ein neuer Literatenkrakeel in Heft 10, 5. 12 1913 (Feuilleton Nr. 69), S. 393-396), worauf Rjazanow noch einmal nachlegte (Geschichtsschreibung ohne Gänsefüßchen in Heft 13, 26. 12. 1913, S. 473 – 479).

Mehring ging in seiner 1918 erschienen großen Marx-Biographie auf diese Polemik noch einmal ausführlicher ein: s. Franz Mehring, Karl Marx – Geschichte seines Lebens [1918]; in: Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, ³1976, S. 543-545 (Mehrings Anmerkungen zum Kapitel »Der Niedergang der Internationalen«).

[6] Antagonismus: unvereinbarer Widerspruch, Feindschaft.
[7] in der Vorlage deutsch.

Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2014/11/03/eingesandt-marx-und-bakunin/


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