Gerhard Hanloser - Der Rätekommunismus: Pannkoek und die holländisch-deutsche Schule

Der Rätekommunismus entstand aus der Konfrontation mit dem bolschewistischen Revolutionsmodell von 1917. Rätekommunisten sind eine anti-staatliche Fraktion im Kommunismus, wollten einen neuen Gesellschaftsaufbau von unten und keine bloße Macht- und Staatsübernahme.

In ihrer Staats-Kritik gab es deutliche Ähnlichkeiten zu der anarchistischen Position gegenüber Marx in der I. Internationale. Bakunin hielt fest, dass eine soziale Revolution nur gelingen kann, wenn sofort der Staat vernichtet wird, weil die Idee des Staates der absoluten Freiheit widerspricht. Kommunismus kann es nur räumlich-föderativ als Aktion gegen den Zentralismus geben. Bakunin gegen Marx: „Sie versichern, daß allein die Diktatur, natürlich die ihre, die Freiheit des Volks schaffen kann; wir dagegen behaupten, daß eine Diktatur kein anderes Ziel haben kann, als nur das eine, sich zu verewigen, und daß sie in dem Volk, das sie erträgt, nur Sklaverei zeugen und nähren kann“. Bakunin nahm mit dieser Kritik die Gefahr einer totalitären Politik sich revolutionär dünkender Staatsparteien vorweg – und die Rätekommunisten nahmen diese frühe Kritik wieder auf, allerdings nicht als Anarchisten, sondern als Kommunisten. Gegen die jakobinische Machtpolitik der Bolschewiki und die staatskapitalistische Industrialisierungspolitik hielt der Rätekommunismus die Räte und die Spontanität der Proletarier als positive Bezugspunkte hoch. Die vielleicht wichtigste Schrift des Rätekommunismus ist das Werk „Arbeiterräte“  des Holländers Anton Pannekoek. Dieser entstammte dem linken Flügel der niederländischen Vorkriegs-Sozialdemokratie. Er war 1914 Antimilitarist, sprach sich für Massenstreikaktionen aus und begrüßte anfangs die Russische Revolution mit den sich in ihr artikulierenden Räten. Die Politik der Bolschewiki lehnte er allerdings vehement ab. Als die KPD im Herbst 1919 ihren linken Flügel ausschloß und dieser 1920 die Kommunistische Arbeiterpartei (KAPD) gründete, unterstützte Pannekoek diese Strömung, mit der er auch lebhaft kommunizierte. Zu der niederländischen Gruppe Internationaler Kommunisten hielt er enge Kontakte und veröffentlichte regelmäßig Beiträge in ihrem Organ. Sein Hauptwerk „Die Arbeiterräte“ entstand zu größten Teilen 1941/42, einige Kapitel wurden 1944 und 1947 hinzugefügt. Mit dem Buch wollte Pannekoek „keine Rezepte für das praktisch-politische Handeln“ geben, wie er in einem Brief an den deutschen Rätekommunisten Alfred Weiland im Juni 1949 kundtat, sondern lediglich die Grundlagen liefern, „von denen aus die Probleme selbst erkannt und aufgestellt werden können.“

„Arbeiterräte“ enthält eine kommunistische Gesellschaftskritik vom Standpunkt rätekommunistischer Positionen aus, die die Selbsttätigkeit der Arbeiter betont. Die Arbeiter sollten sich in Räten organisieren, um ihre Belange selbst in die Hand zu nehmen. Eine klare Teleologie war diesem Konzept zu eigen, ging Pannekoek doch davon aus, dass die Arbeiterräte als Form der Selbstregierung „in den kommenden Zeiten die Regierungsform der alten Welt ersetzen wird“. In den Arbeiterräten ist die im bürgerlichen Parlamentarismus enthaltene Trennung zwischen Politik und Wirtschaft aufgehoben, sie beschäftigen sich aber vorzüglich mit der Arbeit und der Produktion. Mittels der Arbeiterräte wird gemeinschaftlich produziert und die Gesellschaft sei dadurch in der Lage „ein zusammenhängendes Ganzes, für das die Gesamtheit der Arbeiter zu sorgen hat und das als gemeinsame Aufgabe alle ihre Gedanken beschäftigt hält“ herauszubilden. Im Gegensatz zum Parlamentarismus, sind die Delegierten mandatsgebunden, in den Räten gibt es keine Politiker, sondern die in den Räten anwesenden Personen sind „Boten, die die Meinung, die Absicht und das Wollen der Arbeitergruppen vermitteln und überbringen“. Mit der Rätebildung verbunden ist ein kulturrevolutionärer Prozess, der die vollständige Umwälzung des geistigen Lebens bewirkt: „Wenn es zur natürlichen Gewohnheit geworden ist, in Gemeinschaft zu leben und in Gemeinschaft zu arbeiten, wenn die Menschen ihr eigenes Leben vollkommen kontrollieren, dann wird das Reich der Notwendigkeit dem Reich der Freiheit Platz machen und dann werden die vorher aufgestellten genauen Rechtsregeln sich in ein selbstverständliches Verhalten auflösen.“ Die „neue Ordnung“, die Pannekoek anstrebt, soll „von unten heraus wachsen, aus den Betrieben, aus Arbeit und Kampf zugleich“.

Pannekoek lässt keinen Zweifel aufkommen, dass der Kommunismus oder Sozialismus der Arbeiterklasse keine Wissenschaft ist, sondern eine „Ideologie“. Als solche stellt sie ein „Ganzes von Ideen, Anschauungen und Zielen“ dar, „das aus der Gesellschaft, aus dem Kapitalismus, aus der Arbeiterklasse heraus entsteht, so wie sie zu dieser Zeit, in dieser Phase der Entwicklung sind“. Kommunismus ist demnach keine starre, überhistorische Wissenschaft, sondern im Sinne von Marx die „wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“, es wird ihr aber ganz offen eine Mobilisierungsfunktion zugemessen.

Pannekoek sieht die Bildung von Arbeiterräten als einzig mögliche Form an, die Gesellschaft vor dem Versinken in Ausbeutung und Barbarei zu retten. Dabei stehen der Arbeiterklasse auf ihrem Weg zur Befreiung mehrere feindliche Fraktionen gegenüber, die allesamt geprägt waren oder Ausdruck waren von der zunehmenden Verstaatlichung der kapitalistischen Ökonomie. Die westlichen Ökonomien unterlagen mit New Deal, Faschismus und Nationalsozialismus einem Formwandel und die Sowjetunion entpuppte sich als ein Land, in dem etatistisch eine nachholende Industrialisierung durchgeführt wurde. Diese Formationen wurde als „Feinde“ der Selbstbefreiung des Proletariats begriffen. Zwei große ideologische Mächte stehen der sich selbst befreienden Arbeiterklasse entgegen: der Nationalismus und die bürgerliche Demokratie.

Pannekoek sah die Räteorganisation als Produzentendemokratie, die die bloß formale bürgerliche Demokratie überflügeln und sozial vertiefen würde. Erst in einer solchen hätten die „arbeitenden Produzenten die freie und gleiche Verfügung über die Quellen ihres Lebens“. Die Arbeiter sollten nicht die bürgerliche Demokratie mit der wahren Demokratie der in Räten organisierten Produzentendemokratie verwechseln. Im Zentrum des Pannekoekschen Demokratiebegriffs steht die Arbeit. Kollektive Tätigkeit für die Gemeinschaft garantiert das Recht auf Mitbestimmung. Arbeit stiftet gesellschaftliche Synthesis und ist auch der Garant für das „gleiche Recht auf Mitbestimmung“. Wer nicht arbeitet, wird ausgeschlossen: „Daß Parasiten, die nicht an der Produktion beteiligt sind, sich selbst automatisch von der Mitbestimmung ausschließen, wird keiner einen Mangel an Demokratie nennen können“, urteilt Pannekoek und setzt dazu: „Nicht ihre Person, sondern ihre Funktion schließt sie aus.“

In erster Linie muss der Rätekommunismus als dissidente Strömung des Marxismus und der Arbeiterbewegung verstanden werden, die in scharfer Opposition zum bolschewistischen Revolutionsmodell stand. Während des zaghaften Revolutionsversuchs 1905 wurden in Russland sogenannte Sowjets, also Räte gegründet. Die Bolschewiki nahmen im roten Oktober zusammen mit den linken Sozialrevolutionären unter der Parole "Alle Macht den Räten!" den weiteren Verlauf der Revolution in die Hand. Überall dort, wo imperialistischer Krieg, Ausbeutung und Bourgeoisie-Herrschaft angegriffen wurden und ihre Legitimation verloren ging, bildeten sich Räte. Doch die von Lenin angeführte Dritte Internationale wollte den Gesamtvertretungsanspruch der bolschewistischen Partei durchsetzen, Lenin schraubte die Macht der Räte zurück, diffamierte Kritiker von links als "Dummköpfe" und wollte sie aus den Reihen der Kommunisten ausgrenzen. Die Schrift "Der ,linke Radikalismus’ - Die Kinderkrankheit im Kommunismus" ist hierfür ein trauriges, doch interessantes Beispiel. Sie zeigt allerdings, dass es innerhalb der damaligen revolutionären Linken eine breite Front von Kritiker des Bolschewismus gab. Dass also auch die damaligen revolutionären Prozesse keinesfalls auf die Ideenwelt und die Praxis des Leninismus reduziert werden darf. In seiner 1920 veröffentlichten Schrift befasst sich Lenin mit verschiedenen linksradikalen Strömungen der weltweiten revolutionären Bewegung: zum einen mit den Anarchisten, die auch individuellen Terror befürworteten, mit den linken Sozialrevolutionären, die die verarmten Bauernmassen als revolutionäres Subjekt ansahen, und den westlichen Linkskommunisten und Rätekommunisten, die Parlamentarismus und Parteienherrschaft radikal ablehnten.

Lenin konnte den Vorteil des Erfolgs geltend machen: immerhin war er der Führer der bislang einzigen gelungenen kommunistischen Revolution. Dieser Erfolg soll mittels eines Patentrezepts erreicht worden sein: "ohne die strengste, wahrhaft eiserne Disziplin in unserer Partei" wäre alles nichts geworden. Der Hinweis auf die "Disziplin" wird in der Folge das am häufigsten bemühte Argument von Parteikommunisten sein, wenn sie den Linksradikalismus kritisieren - doch die Frage war: Disziplin wofür? Es sollte klar sein, dass Lenin als russischer Sozialdemokrat die Disziplin als notwendiges Mittel zum Aufbau einer Arbeitsdiktatur vor Augen hatte. Gemessen daran fielen die Antworten der Rätekommunisten teilweise zu sanft aus, z.B. von Hermann Gorter in seinem "Offenen Brief an den Genossen Lenin". Gorter war einer der wichtigsten Vertreter des Linkskommunismus und hatte in der Kommunikation zwischen holländischen Rätekommunisten und deutschen Linksradikalen der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD) eine wichtige Scharnierposition inne. Anfangs, so bekennt Gorter, habe er nach Lektüre der Broschüre gedacht, dass das alles schon richtig ist, was der Genosse Lenin schreibt, doch nach einigen Überlegungen ist er nun zu dem Entschluss gekommen, dass Lenins Ausgangsüberlegung einfach nicht richtig ist. Dass das, was in Russland geschehen ist, "internationale Geltung" haben soll, wie Lenin in Erfolgseuphorie verkündete, provoziert seinen größten Einspruch. "Sie urteilen", so formuliert Gorter bescheiden "wie ich glaube, nicht richtig über die Übereinstimmung der westeuropäischen Revolution mit der russischen", denn in Westeuropa sind die Bauern eine verschwindende und keineswegs revolutionäre Kraft, die Arbeiter werden ganz alleine die Revolution machen müssen. Die Politik der Linksradikalen stärkt die Ansicht, dass "auf sie alles ankommt, dass sie von fremder Hilfe anderer Klassen nicht, von Führern wenig, von sich selbst aber alles erwarten sollen."

Auch die Spontanitätstheorie - die in Deutschland am prominentesten durch Rosa Luxemburg stark gemacht wird - will Gorter nicht verabsolutiert wissen. Damit ist er vielen Rätekommunisten, die den Spontanitätsgedanken als Dogma behandeln, überlegen. Man suche ja, so bekennt Gorter, in Holland und Deutschland die richtigen Führer, die "nicht über die Massen herrschen wollen und die sie nicht verraten, und solange wir diese nicht haben, wollen wir alles von unten auf und durch die Diktatur der Massen selbst". Die Frage der Repräsentation der Massen in "Führerfiguren" wird selbst vom Lenin-Kritiker Gorter bejaht. Außerdem scheint Gorter mit der Politik der Bolschewiki in einem Bauernland einverstanden zu sein. Andere Rätekommunisten sahen darin bereits einen großen Fehler – sie einte aber alle eine Kritik der Übertragung der spezifischen bolschewistischen Politik in Rußland auf andere Länder, wobei die autoritäre Rolle der Partei, die diesen Herrschaftsanspruch formuliert, durchschaut wurde. "Tritt die Dritte Internationale (...) auf mit der Vollmacht der Zentralgewalt eines Landes, dann trägt sie den Todeskeim in sich und wird die Weltrevolution hemmen. Die Revolution ist die Angelegenheit des Proletariats als Klasse; die soziale Revolution ist keine Parteisache!", so Franz Pfemfert, der antimilitaristische und linkskommunistische Herausgeber der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion. Paul Mattick, einer der agilsten rätekommunistischen Theoretiker, hielt so auch fest, dass Lenins negative Einstellung zum Problem der Spontaneität in der linken Opposition des Westens nur befremdend wirken konnte. Denn gerade hier hoffte man auf die Spontaneität "um dem entnervenden Einfluss der offiziellen Arbeiterbewegung die revolutionäre Frische proletarischer Selbstinitiative entgegenzusetzen".

Die Räte waren für alle Revolutionäre aber gerade der Ausdruck der Spontaneität der Klasse. Als sich 1921 in Kronstadt die Bevölkerung gegen die Parteiherrschaft und für die Räte stark machte, war dies ein Beweis, wie sehr sich die bolschewistische Partei vom Anfangsimpetus der Revolution gelöst hatte. Die Rätekommunisten erkannten im Gegensatz zu den Trotzkisten, dass die Kronstädter keineswegs die bürgerliche Demokratie aufrichten wollten. Für sie war die Kronstadter Revolte ein proletarischer Ausläufer in einer Revolution, die auf einen autoritären Staatskapitalismus hinauslief. Wie für Anton Pannekoek war für Paul Mattick im rückständigen Russland im Gegensatz zum Westen keine proletarische Revolution möglich und so beschrieben die Rätekommunisten die bolschewistische Revolution auch als bürgerliche Revolution, die von einer jakobinischen Partei, den Bolschewiki, an- und durchgeführt wurde. Die Möglichkeit einer kommunistischen Bauernrevolution wurde kategorisch ausgeschlossen, die Rätekommunisten rezipierten Marx späte Bemerkungen zu dieser Möglichkeit nicht und sahen die Bauern nur als rückständig und individualistisch an.

Der Bolschewismus war in ihren Augen keineswegs Antipode zur legalistischen, korrumpierten deutschen Sozialdemokratie. Schon in der deutschen Sozialdemokratie konstatierten Rätekommunisten eine autoritäre Staatsvergötzung, besonders bei Lassalle, der sich für ein sozialistisch gewandeltes preußisches Königtum aussprach. Diesen Etatismus entdeckten sie bei den Bolschewiki wieder, alles sollte bei ihnen staatlich-dirigistisch kontrolliert sein: meinte nicht auch Lenin, dass der Sozialismus wie die deutsche Post funktionieren sollte? Der Ideologisierung des russischen Marxismus hielten die Rätekommunisten den autonomen Klassenkampf jenseits von Gewerkschaften und Parteien entgegen. Cajo Brendel, der im Juni 2007 verstorbene holländischen Rätekommunist, brachte seine Position kurz und knapp auf den Punkt: "Wir treten also nicht als Vorhut der Arbeiter, wie es die Maoisten, die Trotzkisten tun, auf. Nach unserer Meinung ist eine derartige Handlung im Klassenkampf eine nachteilige, weil damit immer die selbstständige Bestimmung des Arbeiterkampfes verzögert wird. Man soll auch nie vergessen, dass Arbeiter nicht kämpfen, weil sie das Kapital gelesen haben, sondern weil sie ihre eigenen Interessen aus ihrer unmittelbaren Erfahrung vertreten." Und dieses Interesse der Arbeiterklasse war der Dreh- und Angelpunkt aller Analysen der Rätekommunisten. Arbeiter, Bauern und unterdrückte Völker wollte Lenin zusammenführen. Doch für die Rätekommunisten war dies eine unzulässige Aufweichung revolutionärer Positionen: gegenüber den Bauern blieben sie skeptisch und "Völker" galt es nicht zu befreien, sondern lediglich die ausgebeuteten Arbeiter. Wie schon Rosa Luxemburg, die das "famose Selbstbestimmungsrecht der Nationen" scharf attackierte, weil hier der Gedanke des Klassenkampfs aufgegeben wird, hielt man von der anti-imperialistischen Hinwendung zu den unterdrückten Völkern nicht viel.

In den von der holländischen Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) im Jahre 1930 veröffentlichten "Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung", einer Art konkreten kommunistischen Utopie, bezieht sie sich auf Marx, der - gegen die spätere surrealistische oder marcusianische Sichtweise - festhielt, dass Arbeit nicht zum Spiel werden könne und es eine Art Sphärentrennung eines Reichs der Notwendigkeit (in der Arbeit so kurz, unprätentiös wie möglich und sinnvoll geplant weiter geleistet werden muss) und eines Reichs der Freiheit (in der die freie Zeit den neuen Reichtumsbegriff ausmacht) geben müsse. Sie propagieren eine Abschaffung des „Werts“: die notwendige gesellschaftliche Koordination der Produktion soll nicht dem Markt überlassen werden und den privaten Besitzverhältnissen; da aber jedes Wirtschaften und Arbeiten "Ökonomie der Zeit" darstellt, müsse nach wie vor eine notwenige Recheneinheit bestehen, die die Verfasser in der gesellschaftlichen durchschnittlichen Arbeitszeit sehen. Die GIK landet bei einer strikt mathematischen Berechnung der gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitsleistung in Zeit für das "Reich der Notwendigkeit" - ob dies heute in der nach-fordistischen Phase möglich ist und ob dies nach der umfassenden Kritik der modernen Gesellschaft um 1968 ff. wünschenswert ist, ist in Zweifel zu ziehen.

Interessant ist, dass auch die orthodoxesten Kommunisten und Marxisten wie Rosa Luxemburg oder Anton Pannekoek sich immer für eine ethische Aktivierung der Arbeiterklasse aussprechen. Sie haben nicht nur die Spontaneität gegen die Parteienherrschaft aufrechterhalten, sondern auch auf die Zentralität einer sich herausbildenden neuen Ethik abgestellt. Für Pannekoek liegen die „wesentlichen Schwierigkeiten (auf dem Weg zu einer freien Rätegesellschaft) in der geistigen Einstellung“, deswegen sei auch eine „vollständige Umwälzung des geistigen Lebens des Menschen“ notwendig. Der Rätekommunismus hatte so auch immer einen kulturrevolutionären und pädagogischen Anspruch, nicht wenige Rätekommunisten waren ausgebildete Volksschullehrer.

In der Revolte von 1968 wurde Pannekoek entdeckt, so beziehen sich die Gebrüder Cohn-Bendit in ihrem Bestseller „Linksradikalismus. Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus“ von 1968 neben Rosa Luxemburg und der damals im deutschsprachigen Raum noch kaum erforschten KAPD positiv auf diesen rätekommunistischen Theoretiker, die als einzige Ausnahmen „vor und nach der (russischen) Revolution den Führungsanspruch der Partei zugunsten der Spontaneität und der Selbstorganisierung der Massen“. Die Cohn-Bendits erklärten, sie wollten in die „Fußstapfen dieser linksradikaler Gruppen“ treten. Eine „Projektgruppe Räte“ erklärte im März 1968 im Vorwort ihres Raubdrucks mit dem Titel „Parlamentarismusdebatte. Pannekoek – Lukács – Rudas – Friedländer (Reuter)“, dass sie mit dieser Veröffentlichung den Wunsch verbinden, dass die antiautoritäre Bewegung nicht in der Diskussion um die politische Konsolidierung auf die Strategie einer „Wahlbeteiligung an den Bundestagswahlen 1969“ verfällt. Sie präsentierten dafür unter anderem Texte von Pannekoeks von 1916 und 1920. Das historische Material zeige, wie sehr der Parlamentarismus die „soziologische Umwandlung der proletarischen Partei in eine Führerpartei“. Die 68er-Rätekommunisten wollten sich in eine Tradition der antiautoritären Sozialisten stellen, die Wahlbeteiligung „nur als Startzeichen für Massenkampagnen begriffen, entweder als ‚offensiver Wahlboykott‘ (Bela Kuhn), Revolutionierung des Parlaments (Rudas) oder antiparlamentarische Streikbewegungen für ein Rätesystem (Pannekoek, ähnlich auch Lukács, der für ein Rätesystem mit taktischen Modifizierungen eintrat. Die außerparlamentarischen Massenaktionen sollten weitgehend die parlamentarische Kompromißpolitik von bürokratischen Führeroligarcien ersetzen“.

Die Herausgeber setzten auf die Hoffnung, dass gesellschaftliche Widersprüche bewußt werden und nicht parlamentarisch überdeckt, (d)adurch können Randgruppen, Abteilungen der Klasse, aus der ‚Volksgemeinschaft‘ ausbrechen, die dann je nach ihrer Stellung im Produktionsprozeß die gesamte Herrschaftsstruktur dieser Gesellschaft in Frage stellen können.“

Die Revolte von 1968, die sich teilweise auf Pannekoek und den Rätekommunismus positiv bezog, nahm nicht alle Seiten der eine umfassende Arbeiter- und Arbeitsgesellschaft propagierenden Vorschläge Pannekoeks wahr. Er wurde als dissidente Stimme rezipiert, das Rätemodell wurde der verknöcherten Sowjetideologie entgegengestellt. Die auf Ausschluss, Arbeitspflicht und Zwang aufgrund der Notwendigkeit des „Stoffwechselprozesses mit der Natur“ (Marx) setzenden Positionen wurden schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen. Der Rätekommunismus wurde den Erfordernissen der antiautoritären Revolte angepasst, die das Reich der Freiheit betonte und auf Befreiung von der Arbeit tendierte. Der Rätekommunismus eignete sich für einige Protagonisten der Revolte von 1968 häufig schlicht als Durchgangsstation für neoanarchistisches Denken.

Literatur:

  • Hans Manfred Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923, Darmstadt 1993
  • Anton Pannekoek, Arbeiterräte. Texte zur sozialen Revolution, Frenwald (Annerod) 2008
  • Anton Pannekoek, Paul Mattick u.a., Marxistischer Antileninismus, Freiburg 1991


Originaltext: http://www.workerscontrol.net/de/autoren/der-raetekommunismus-%E2%80%93-pannkoek-und-die-hollaendisch-deutsche-schule


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