Hans Bronnen - Mit der Centuria "Erich Mühsam" vor Huesca
Erinnerung eines Spanienkämpfers anläßlich des 100. Geburtstages Erich Mühsams
Am Nachmittag geraten wir nordöstlich von Tardienta, bei der Einnahme eines Landsitzes mit Gut und Gesindehäusern, wo sich ein faschistischer Vorposten eingenistet hat, ins Sperrfeuer ihrer Artillerie, die im Umkreis plaziert ist. Mit Ausnahme unseres militärischen Leiters unserer Erich-Mühsam-Gruppe, der den Ersten Weltkrieg in Frankreich mitmachte, hat keiner der Unsrigen je so etwas zuvor erlebt. Granatsplitter, aufgeworfenes Erdreich und Körperteile zerschmetterter Kameraden fliegen über unsere blitzesschnell aufgeworfenen Schützenlöcher hinweg. Wie eine Ewigkeit erscheint uns dieser Granathagel, der erbarmungslos auf uns herniederprasselt. Wir erleben, wie sehr uns die Armee putschender Generäle an Material sowie auch militärisch überlegen ist. Eine Sache ist es, im Straßenkampf seinen Mann zu stehen, eine andere, in offener Feldschlacht zu kämpfen. Unser Feind verfügt über Flugzeuge, Geschütze und ausgebildete Militärs. Wir haben nur Mut und Gewehre. Dennoch befreien wir im Laufe der folgenden Tage eine Ortschaft nach der anderen auf unserem opferreichen Vormarsch nach Huesca. Bis wir, nahe vor dieser Provinzhauptstadt, an der Mauer eines Friedhofes zu stehen kommen.
Ein unheimlicher Anblick läßt uns das Blut in den Adern erstarren. Längs dieser Mauer, in regelmäßigen Abständen von etwa einem Meter, liegen die verbrannten Überreste achtzehn von Feindeshand Füsilierter in ebenso vielen erloschenen Benzinlachen. Die Einschüsse deuten unzweifelhaft darauf hin: Hier wurden aufrechte Antifaschisten von Mörderhand erschossen und unkenntlich gemacht.
Unwillkürlich taucht vor meinen Augen das Bildwerk des bedeutenden aragonesischen Malers aus dem vorigen Jahrhundert auf: "Die Erschießung der Madrider Aufständischen am 3. Mai 1808". Ergreifend hat Francisco Goya die grauenvolle Hinrichtung seiner Landsleute durch die französischen Invasoren festgehalten. In Spaniens Hauptstadt wie auch in seiner aragonesischen Heimat erlebte er die Glut des damaligen Geschehens, wie wir in diesem alles aufwühlenden Bürgerkrieg angesichts dieser Mauer der Erschossenen erleben müssen, wie nach dem Willen putschender Generäle aragonesische Widerstandskämpfer von ihren eigenen Landsleuten brudermörderisch umgebracht wurden. Ergriffen und bewegt erweisen wir den Überresten der achtzehn aufrechten Aragonier die letzte Ehre auf dem Friedhofe vor den Toren Huescas.
Seit Tagen dient uns das Friedhofsinnere als Vorpostenstellung. Die Mauern schützen uns vor den Artilleriegeschossen, die im Rücken der Provinzhauptstadt ihre Abschußbasis haben. In der Nachbarschaft kleiner Grabmäler steht unser schweres MG und sendet seine Feuerstöße auf die feindlichen Brustwehren vor uns. Angelehnt an die Innenmauer reihen und türmen sich eigenartige Totenschränke, die in jedem Fach einen Verstorbenen bergen. An der Stirnseite dieser uns seltsam erscheinenden Grabmäler lesen wir durchweg auf jeder Gedenkplatte eine ähnlich lautende lakonische Inschrift: "Nr. 36. Depositado el Cadavor de Fernando Sanchez Bueno, en el 13 de Junio de 1921". Dazu das Foto des oder der Verstorbenen mit dem Bild eines Schutzengels. Nach der Einmauerung wird der Leichnam durch die Wirkung ausgestreuten Kalkes im Innern des Totenschrankes bis aufs Gebein zerstört. Granateinschläge legen solche Überreste der Toten bloß.
"Längst wäre dieser Bruderkrieg zu Ende, wenn wir es allein mit diesen verkitschten Schutzengeln zu tun hätten", lästert unser spannenlanger, bebrillter Karl, den wir gebührend mit Don Carlos ansprechen, weil er einstmals studierte, aber durch die Nazis von der Uni flog. Die Rache der Schutzengel folgt auf dem Fuße. Mit bösartigem Gepfiff schießt eine vom Erzbischof von Huesca gesegnete Granate über unsere Köpfe hinweg, die den Kreuzzug gegen uns Gotteslästerer beenden möchte. Das Geschoß und ein nachfolgendes explodieren im äußersten Winkel des Friedhofes und sprengen dort eine Anzahl Totenschränke auf. Fehltreffer? Gewiß nicht! Die längst Bestatteten erleben ihren zweifachen Tod und ihre Gebeine wirbeln zum makabren Totentanze durch die Luft ...
Zu unseren Zugführern in der Centuria "Erich Mühsam" zählt der junge Aragonier Paco aus Graus, einer Kleinstadt im Norden der Huescaprovinz. Etwa 2.500 Einwohner zählt diese Ortschaft am Gebirgsfluß der Esora, der Aragonien und Katalonien mit Wasser versorgt. Als Sohn eines Bauern und Militanten der CNT hat Paco eine freiheitliche Erziehung genossen. Er ist belesen und möchte mehr über Erich Mühsam erfahren. Ich bin dabei, für Paco aus dem "Alarm", Ausgabe 1925, den "Weckruf" zu übersetzen, der in den letzten fünf Versen so ausklingt:
"Ans Werk! Ihr Männer und ihr Frauen!
Den Kindern gilt s die Welt zu bauen!
Mensch, fühl dich Mensch und sei kein Hund!
Freiheit auf freiem Ackergrund!
Dem Volk den Boden! Schließt den Bund!"
Die Macht der Ereignisse und das revolutionäre Bewußtsein ermöglichten den Landsleuten Pacos den Sprung aus der Knechtschaft ins Reich der Freiheit. Noch lebten im Juli 1936 in Graus 40 % der Menschen vom Handel. Der Rest arbeitete fast zu gleichen Teilen in der Industrie und Landwirtschaft. Der bewässerte Boden gehörte zur Hälfte zwei Eigentümern. In die andere Hälfte teilten sich die mittleren Bauern, deren Ernte so dürftig war, daß sie sich als Tagelöhner auf den Gütern der beiden Großgrundbesitzer verdingen mußten. Mit dem Widerstand gegen die meuternden Generäle beginnt zugleich die Kollektivierung der Industrie und Landwirtschaft. Der Kampf gegen die Faschisten kann nur erfolgreich geführt werden, so meint man, wenn er von einer wirtschaftlichen Umwandlung, von einer sozialen Revolution hinter den Frontlinien begleitet wird. Von einer Aufteilung großer Besitztümer untereinander wird Abstand genommen zugunsten der Kollektivierung. Also wird mit der geringsten Zahl von Arbeitskräften, weil die jüngsten und kräftigsten Manos zur Front geschickt werden, geerntet, gepflügt und gesät. Ganz so, wie das Erich Mühsam in seiner Poesie vorweggenommen hat.
Eines Tages ergibt sich für Paco die Möglichkeit eines Urlaubs. Er schlägt mir vor, ihn zu begleiten. "In Graus kannst du dich überzeugen, daß meine Erzählung auf Tatsachen beruht", meint er lachend. Ich willige ein. Wir leben an der Front ganz am Rande der Einführung und Entwicklung der aragonesischen Kollektive. Unsere militärischen Aufgaben und Sorgen nehmen uns so in Anspruch, daß wir uns nicht darum kümmern, was hinter der Frontlinie vor sich geht. Zwar versorgen uns die Kollektive mit allem, was wir zum Leben brauchen, aber ansonsten stehen wir ihnen recht gleichgültig gegenüber.
Etwa 80 km Lkw-Fahrt auf kurvenreicher Landstraße stehen uns bevor, über Sietamo und die nachfolgende Hängebrücke, die den Alcanadre überquert, Abstieg in Serpentinen bis Barbastro und durch die Flußtäler des Cinco und der Esera. Wo kein Wasser hingelangt, zeigen nackte Felsen kleine Büsche von Salbei, Rosmarin und Thymian. Bei aufsteigender Fahrt, als Zeugen verbissener Arbeit, kleine angebaute Felder, die stufenweise die Hänge erklimmen. Mehr Fels als bebauter Boden. Aus demselben Gestein gebaute und deshalb kaum erkennbare Ortschaften am Wege. Endlich erscheint Graus am Kreuzungspunkt mehrerer Straßen.
Pacos Eltern begrüßen uns herzlich, und ich werde wie der eigene Sohn empfangen. Wein wird im porron gereicht, einer Art Karaffe mit langem Hals, dessen dünner Bogenstrahl bei erhobener Rechte und hinten übergebeugtem Kopf unmittelbar in die Gurgel läuft. Ich verschütte dabei keinen Tropfen und habe damit die Herzen der Gastgeber gewonnen. Dazu almendras garbinadas, geröstete Mandeln, selbst die berühmten melocotones, Herzpfirsiche, werden aufgetischt. Wie in Friedenszeiten, wage ich zu denken und bedanke mich.
Man begleitet mich zum comite de enlace, dem Verbindungskomitee, das die Bestrebungen aller Kollektive koordiniert. Hier erhalte ich Einblick in die wesentlichen Richtlinien und Grundsätze der Genossenschaften. Auch die Miederfabrik darf ich besichtigen, in der jetzt Hemden und Hosen für die Milizionäre hergestellt werden. Ich muß in meinem zerschlissenen Hemd den hier arbeitenden dreißig Frauen aufgefallen sein. Dem companero aleman, dem deutschen Genossen, wird vom Frauenkollektiv ein neues Hemd überreicht. Herzliches Lachen. Die Arbeit wird vom Gesang revolutionärer Lieder und natürlich von der jota aragonesa begleitet. Die Stimmlage der Manas ist Sopran, die den Gedanken der Jota lebhaft, kraftvoll und zugleich anheimelnd zum Ausdruck bringt.
La jota es todo, alegria, la jota es todo, emociecion, y la jotas verdadera es la jota de Aragon.
Die Jota ist lauter Freude, sie begeistert durch Rhythmus und Ton. Doch die wahre Jota ist die aus dem Aragon.
So unglaublich dies dem Aragonier auch erscheinen mag, die alte Volksmusik ist valenzianischen Ursprungs. Ein arabischer Dichter und Musiker aus dem 12. Jahrhundert namens Aben Jor ist ihr Schöpfer, der aus seiner Heimatstadt verbannt sich nach Calatayud flüchtete, wo er seine eigenartigen Gedichte vertonte. Das jedoch verschweige ich meinen Gastgebern, sonst gibt es kein Ende der Diskussionen. Der Aragonier ist hartnäckig, besonders in bezug auf seine regionale Eigenart, auf sein kulturelles Erbe. Fast jede Ortschaft hat ihre eigene Jota, und anders als örtlich unterschieden sind die des Maurers, die der Mühen, des Kopftuches, der Haselnuß und wie sie alle heißen.
Aber das große Erlebnis, das wie ein Schlaglicht die sozialistische Wirklichkeit in Graus erhellt, bleibt mir jene Marmortafel mit goldener Aufschrift "Quelle der Freiheit - 19. Juli 1936", zu der man mich geleitet. Aus dieser Quelle zu trinken, war vom früheren Eigentümer jedermann verboten. Sogar an heißesten Tagen untersagte er seinen Pächtern, hier ihren Durst zu löschen. Da es trotzdem vorkam, daß dieses Verbot von Zeit zu Zeit umgangen wurde, ließ der schikanöse Eigentümer die Öffnung der Quelle zumauern. Die Revolution triumphierte und enteignete den unnachgiebigen Grundbesitzer. Klares Wasser sprudelt aufs neue aus dem Gestein zur Freude aller. Der einstige Eigentümer wurde damit bestraft, daß er wie jeder andere sein Brot im Schweiße seines Angesichts verdienen muß. Ein Märchen? Gewiß nicht! Die besagte Marmortafel bezeugt es.
Noch zur Nacht dieses erlebnisreichen Tages kehren wir in unsere Schützenlinien vor Huesca zurück. Unser Lkw bringt in Graus erworbenes Frachtgut für Milizionäre der Asconso-Kolonne: Wolldecken! Wir haben diese bitter nötig. Ein rauher Wind kommt von den Pyrenäen herunter. Die Kälte dringt unter die Haut. In den darauffolgenden Tagen regnet es in Strömen. Die Nächte sind stockdunkel. Alarmbereitschaft. Wir stehen in den Laufgräben bis zum Knie im Wasser. Geknatter der Maschinengewehre. Keiner kommt zur Ruhe.
Ende Oktober 1936 wird unsere Centuria "Erich Mühsam" in aller Eile nach Tardienta abberufen. Die Höhe Frenita Santa Quiteria, wichtige Position im faschistischen Verteidigungssystem und Artilleriestellung der großen Kaliber 15,5, welche dauernd die Carlos-Marx-Kolonne unter Beschuß nimmt, soll in unsere Hände übergehen. Seit Tagen tobt hier ein Kampf auf Leben und Tod, der die Madrider Front vom Einsatz der faschistischen Luftwaffe entlasten soll ...
26. Oktober 1936 vor Tardienta. Wir arbeiten uns langsam die felsige Böschung hinauf. Dicht vor der feindlichen Brustwehr hören wir die Wachtposten fluchen. Caramba con eso ehdiablado tiempo! (Zum Kuckuck mit diesem verteufelten Wetter!) Esta dilu-vianda y nosotros sin paragua's! (Es regnet sintflutartig und wir stehen da ohne Regenschirm.) Ein anderer: "Estoy mojado como un pato!" (Ich bin naß wie eine Ente.) Nach einer Weile: "Mejor es refugiarnos en algun rincon esperar que pase el chaprron!" (Besser ist, wir stellen uns irgendwo unter und warten, bis der Schauer vorüber ist.) Schritte. Dann Totenstille. Bis unsere "FAI-Bomben" explodieren, jene Handgranaten von ungeheurer Sprengwirkung. Wir setzen über die Brustwehr hinweg, stürzen, um uns schießend, den Laufgraben dieser Vorpostenstellung entlang. Regen und eisiger Wind schlägt uns ins Gesicht. Feuerstöße aus feindlichen Gewehren. Aufschrei der Verwundeten. Wir kämpfen uns durch bis zu einem Rondell, dem Stellplatz der faschistischen Batterie. Sechs Geschütze mit Munition. Umherliegendes technisches Gerät und zerstörte Telefonleitungen. Tote Kanoniere mit verglastem Blick, die unser Überfall überraschte. Eine gespenstische Szene, die der dämmernde Morgen aufhellt. Jetzt erst finden wir einen Augenblick zur Orientierung und überschauen die Hochsteppe, die vor uns liegt.
Bei der Aufgabe ihrer Stellung haben die Faschisten die Verschlüsse der Geschütze mit sich genommen und diese damit für uns unbrauchbar gemacht. Schnell rollen wir die Lafetten samt der Geschütze die steile Böschung hinab. Ihnen folgt die schwere Munition. Einem Zug der Centuria fällt die Aufgabe zu, den getöteten Soldaten sämtliche schriftliche Sachen und Ausweise abzunehmen, die Aufschluß über die Mannschaftsstärke oder über das faschistische Hinterland geben könnten. Andere schleppen Sandsäcke herbei und errichten eine Brustwehr mit dem Gesicht zum Feinde. Kaum daß wir unsere Centuria mit den links und rechts anschließenden Milizionären der Carlos-Marx-Kolonne in Stellung bringen können, erfolgt in mehreren Wellen der Luftangriff der Messerschmitt-Jäger. Handgranaten und Feuerstöße der Bordgeschütze hageln auf uns herab...
Der Tagesbericht unserer Centuria "Erich Mühsam" vom 26. Oktober 1936 besagte kurz:
Verluste | Bestand | ||
Tote | 16 | Kommandeur | 1 |
Verwundete | 23 | Politdeleg. | 1 |
Vermißte | 4 | Zugführer | 6 |
Kranke | 4 | Milizionäre | 43 |
| ----- 47 Mann |
| ----- 51 Mann |
davon | davon | ||
27 Spanier | 15 Spanier | ||
20 Internationale | 36 Internationale |
Aus: Der spanische Bürgerkrieg. La guerra civil espanola 1936 – 1939. Texte – Bilder – Gedanken. Katalog anlässlich einer Veranstaltungsreihe 1986 in München.
Gescannt von anarchismus.at