Willy Brandt - Die Schwarz-Roten

Willy Brandt, ehemaliger SPD-Bundeskanzler der Bundesrepublik, beschreibt in seinem autobiografischen Buch "Links und frei. Mein Weg 1930 - 1950" seine Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg mit den AnarchistInnen. 

Die spanische Arbeiterbewegung prägten ab den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zwei Hauptströme: zum einen die "marxistische" Partido Sociálista Obrero Español mit ihrer Gewerkschaft UGT (Union General de Trabajadores), zum anderen die syndikalistische CNT (Confederación National del Trabajo), auf die - überwiegend als Geheimorganisation - die Federación Anarquista Ibérica (FAI) maßgeblichen ideologischen Einfluß hatte. Die "Marxisten" - vor allem durch Largo Caballero repräsentiert - hatten ihr Zentrum in Madrid, die Syndikalisten in Barcelona. Die einen gaben anderthalb Millionen, die anderen eine Million Mitglieder an; doch mit solchen Zahlen durfte man es, wie ich bald lernte, nicht allzu genau nehmen.

Die Anarchisten und die von ihnen beeinflußte Gewerkschaftsbewegung formierten sich im Jahr 1870, als Michail Bakunin, der russische Intimfeind von Karl Marx, dafür sorgte, daß eine spanische Sektion der Ersten Internationale ins Leben gerufen wurde. Die Richtung Bakunins wurde in der jungen Arbeiterbewegung nicht nur Kataloniens vorherrschend. Sie fand auch unter den Landarbeitern Andalusiens und anderer südlicher Provinzen erheblichen Anhang. Der Appell zur "direkten Aktion" stieß bei der Arbeiterschaft auch in Portugal und vor allem in Italien auf starken Widerhall.

Anarchistische Ideen waren einem jungen Sozialisten meines Schlages nicht völlig fremd. Einzelne Vertreter dieser Ideen hatten wir mit Respekt beobachtet, doch die Bewegung galt uns als utopisch und eher schädlich. In Spanien hatte ich nun Gelegenheit, die Schwarz-Roten nicht als Sekte, sondern als Massenbewegung kennenzulernen. An einem meiner ersten Abende in Barcelona besuchte ich eine große Versammlung der CNT und hatte das Gefühl, eine Veranstaltung des Deutschen Metallarbeiterverbandes hätte sich in einer bewegten Situation nicht viel anders gezeigt. Ich spürte mehr Geschlossenheit, als meine Voreingenommenheit mich erwarten ließ: eine Demonstration von geballter Kraft. Vermutlich legten die Reden, die geführt wurden, nicht Zeugnis von einer nüchternen Wirklichkeit ab, aber ich empfand die Atmosphäre als durchaus sympathisch. Man wollte neu gestalten und selbst bestimmen: Der revolutionäre Elan war von einem starken freiheitlichen Pathos getragen.

Unter dem Eindruck meines Spanienaufenthalts sagte ich, im spanischen Anarchosyndikalismus seien große moralische Qualitäten aufgespeichert und seine Verfechter zeigten großen Mut: "Aus dem dezentralistischen Postulat kommt dazu eine antibürokratische Haltung, die als Gegengewicht gegen die bürokratische Entartung, die die Arbeiterbewegung sonst angefressen hat, durchaus gesund sein kann." 

In Spanien hatten die Anarchosyndikalisten, so stellte ich fest, einen wesentlichen Anteil an der Niederschlagung des "militärfaschistischen Aufstands" und in deren Folge starke schöpferische Kräfte freigesetzt. In der Tat, man begegnete nicht nur in Barcelona, sondern auch auf dem Lande, bei Bauern und Fischern, Menschen mit einer schönen Liebe zur Freiheit und einer imponierenden Leidenschaft für die Gleichheit. Mich interessierte, mit wieviel Respekt und Sympathie Jahre später, nach dem "Tauwetter", ein Mann wie Ilja Ehrenburg über seine Erfahrungen mit spanischen Anarchisten schreibt: "Sie bewiesen, und gar nicht schlecht, daß es ohne Freiheit keinen echten Kommunismus geben kann." (Ehrenburg hatte ich vor dem Spanienkrieg in Oslo getroffen. Vieles, was er schrieb, sagte mir nicht zu, und seine Haßtiraden im Zweiten Weltkrieg fand ich abstoßend. Offensichtlich war auch er zur Anpassung gezwungen. Um so nachdenklicher stimmte mich in den fünfziger Jahren eine Botschaft, in der es heißt: "Urteilt nicht so hart über Ehrenburg. Er konnte reisen und kam nie ohne Bücher und Zeitschriften zurück. Dadurch hat er einem Dutzend von uns das geistige Überleben möglich gemacht": der dies gemeinsamen Freunden ausrichten ließ war Boris Pasternak.)

Die spanischen Anarchosyndikalisten hatten gewaltige Veränderungen zu bestehen, als sie - die den Staat und jedes überkommene Herrschaftssystem ablehnten - selbst Regierungsverantwortung übernahmen. An der Madrider Regierung, die unter der Ministerpräsidentschaft Largo Caballeros Ende 1936 neu gebildet wurde, waren zum erstenmal Vertreter der beiden großen Gewerkschaftsbünde neben linken und liberal-demokratischen Parteien beteiligt. Zuvor schon waren die Anarchosyndikalisten in Katalonien - durch Vertreter der CNT - in der Regionalregierung maßgeblich vertreten. Wirtschaftsminister in Barcelona war Diego Abad de Santillan, der lange in Argentinien gelebt hatte; nach dem Sieg Francos kehrte er dorthin zurück und wirkte als Historiker. Das Justizministerium unter Caballero hatte der bekannte Anarchosyndikalist Garcia Oliver übernommen.

Mir fiel Federica Montseny auf, die wohl bedeutendste Frau der spanischen anarchistischen Bewegung, die 1936/37 Gesundheitsministerin war; in diesem Amt legalisierte sie den Schwangerschaftsabbruch. Die gerade erst 30jährige - Theoretikerin der "reinen" anarchistischen, Linie - war schon früh als Schriftstellerin hervorgetreten. Im französischen Exil - erst 1977 kehrte sie nach Spanien zurück - blieb sie der Ablehnung aller Politik im landläufigen Sinne treu.

Anarchistische Überzeugung und Tradition hatten es geboten, daß sich ihre Anhänger nicht einmal an Parlamentswahlen beteiligten: Wahlen wurden vielmehr als Betrug an den Arbeitern denunziert. Im Februar 1936 hatte die CNT jedoch zum erstenmal nicht zur Wahlenthaltung aufgerufen, und ihre Mitglieder gaben meist den Kandidaten der Frente Popular, vor allem Sozialisten, ihre Stimme. Man wollte dadurch erreichen, daß politische Gefangene freigelassen würden, was auch gelang. Einen viel tieferen Einschnitt bedeutete es natürlich, daß die Anarchosyndikalisten mit vier Ministern in die Zentralregierung eintraten, nachdem sie in der katalanischen Generalität schon vertreten waren. Sie konnten ihre Staatsverneinung nur mühsam überwinden. Aber an Kampfesmut ließen sie sich von niemandem übertreffen. Für den Befehlshaber einer schwarz-roten Einheit war es Ehrensache, an der Spitze zu marschieren. In Barcelona und in Madrid hatten syndikalistische und sozialistische Arbeiter gemeinsam die putschenden Militärs niedergerungen und deren Hoffnung auf einen raschen Sieg zunichte gemacht. Für eine kurze Zeit schien es möglich, die traditionellen Gegensätze zwischen den beiden Richtungen zu überwinden.

Zwischen Largo Caballero und führenden Repräsentanten der syndikalistischen CNT bahnte sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit an; man diskutierte sogar über eine Vereinigung der Gewerkschaftsbünde. Die Kommunisten proklamierten statt dessen die Einheit der Parteien, weil sie sich ausrechneten, daß sie auf diese Weise die Sozialisten unter ihre Kontrolle bringen könnten; mit den beiden Jugendverbänden war ihnen dies noch kurz vor dem Juli 1936 geglückt. Den Weisungen ihrer Berater zufolge verlangten die spanischen Kommunisten, es dürfe nichts geschehen, das die bürgerlichen Volksfrontpartner abstoßen könnte - es müsse Schluß sein mit dem "Unkontrollierbaren" und den "Unordentlichkeiten" der Revolution. Das war ein Angriff besonders gegen die Anarchosyndikalisten. Die Kommunisten fanden - auch bei Polizei und Armee - nicht geringe Zustimmung. Sie präsentierten sich als die Partei der Ordnung. Sie forderten auch am massivsten, daß alles den Notwendigkeiten des Krieges unterzuordnen sei. Das war nicht so abwegig, aber das Prinzip erlaubte jeden Mißbrauch.

Trotzdem: Die soziale Revolution, die mit dem Krieg einherging, ließ sich nicht einfach abblasen; Sie war ja auch nicht durch Knopfdruck ausgelöst worden. Der staatliche Machtapparat war in Stadt und Land zusammengebrochen, das Vakuum von Arbeiterausschüssen gefüllt worden. Sie nahmen nun weithin die Verwaltungsaufgaben wahr. In diesen Komitees verfügten - jedenfalls in Katalonien - Vertreter der syndikalistischen CNT meist über dominierenden Einfluß. Auch bei den Milizen hatten sie das Sagen. In Katalonien kämpften zwei Drittel der Milizionäre unter schwarz-roten Fahnen und unter dem Kommando von Männern, die jedes Kommandieren eigentlich ablehnten. Ihre Vorstellungen von einer militärischen Auseinandersetzung waren auch für den Nichtmilitär - in diesem Fall: einen linken Sozialdemokraten aus dem Norden - ein wenig verwirrend. Einige hatten versucht, den Achtstundentag auch bei der Miliz einzuführen. Man glaubte da und dort, zumal zu Beginn des Krieges, über die Zweckmäßigkeit eines jeweiligen militärischen Vorgehens könne abgestimmt werden. Durch Mehrheitsbeschluß war gelegentlich entschieden worden, daß für einen Vormarsch nur die Landstraße in Betracht zu ziehen sei.

Einiges, das ausländische Beobachter den Anarchisten ankreideten, gehörte freilich zu den nationalen Eigenheiten: so die Siesta, die an manchen Frontabschnitten, an denen die Spanier unter sich waren, in gegenseitigem stillschweigendem Einvernehmen eingehalten wurde. Oder die Neigung, nach Hause zu gehen, wenn man keinen Wachdienst hatte. Bei den Barrikadenkämpfen im Mai 1937 in Barcelona hielt ein deutscher Anarchosyndikalist fest: "Mittags um 12 Uhr war Pause. Da ging man zum Essen. Da konnte man gehen, wo man wollte. Um 2 Uhr fingen dann die Kämpfe wieder an."

Die soziale Revolution veränderte die Verfügungsgewalt über die Wirtschaft. In Katalonien wurden im Herbst 1936 die Errungenschaften des unmittelbaren revolutionären Prozesses festgeschrieben: Alle Betriebe mit mehr als 100 Beschäftigten galten als "kollektiviert". Banken, Hotels und Versorgungsbetriebe - Eisenbahnen, städtisches Transportwesen, Gas und Elektrizität - waren schon vorher, teils von den Betriebsausschüssen der CNT oder gemeinsam mit der UGT, teils von der Generalitat (die Regionalregierung) oder auch von einer der politischen Organisationen übernommen worden. In anderen Teilen des republikanischen Spanien war der syndikalistische Einfluß geringer, doch Banken, Bergwerke, größere Fabrikbetriebe wurden durchweg verstaatlicht.

Die landwirtschaftlichen Kollektive - wiederum am stärksten ausgeprägt in Katalonien - blieben umstritten. Die Kommunisten machten dort, wo ihr Einfluß ausreichte, die Gründung von Produktionsgenossenschaften rückgängig, auch wenn es an ihrer Freiwilligkeit keinen Zweifel gab. Oft genug freilich war Zwang ausgeübt worden. Die Sympathien der bäuerlichen Bevölkerung für die republikanische Sache würden dadurch nicht ermutigt. Auch fehlte die Industrie, die landwirtschaftliches Gerät hätte liefern können. In einzelnen der etwa 500 katalanischen Kollektivwirtschaften wurde mit einer geldlosen Gütergemeinschaft experimentiert. In einem Fall hatte man zuvor die in der Gemeindekasse vorhandenen Peseten gleichmäßig verteilt. Ich dachte an meinen Großvater, der in der Bebelschen Partei gelernt hatte, daß die Abschaffung des Geldes ein nicht zu fernes Ziel sei.

Die Ablösung staatlicher und privatökonomischer (oder staatskapitalistischer) Strukturen förderte örtliche Eigenbröteleien oder betriebsgewerkschaftliche Egoismen. Es war nicht viel Zeit, um die neuen Modelle und Experimente zu erproben. Doch viele der "Libertären" gewannen meine Achtung, obwohl ich als junger "marxistisch" orientierter Linkssozialist gelernt hatte, daß anarchistischer Individualismus abzulehnen, Antiparlamentarismus nicht vernünftig sei und daß Putschismus nicht dem Wohl des Volkes diene.

Die Auseinandersetzung mit dem Geist einer Linken, deren Ideenwelt sich vor und unabhängig von Marx geformt hatte, war zu oberflächlich geblieben. Von einzelnen Persönlichkeiten, die in Deutschland den Anarchisten zugerechnet wurden - wie den Schriftstellern Gustav Landauer und Erich Mühsam-, ging gleichwohl eine beträchtliche Wirkung aus. Der eine - eher Philosoph, Freund Martin Bubers, Verfasser eines schönen Buches über Shakespeare - hatte der ersten bayerischen Räteregierung 1919 angehört und wurde von konterrevolutionären Ordnungshütern erschossen. Mühsam, der als edelanarchistischer Dichter galt, in Berlin geboren und in Lübeck aufgewachsen, war ebenfalls Mitglied jener kurzlebigen Räteregierung; er starb im Sommer 1934 nach Folterungen im KZ Oranienburg. Mein Freund Stefan Szende schrieb von ihm: "Die Nazis haßten Mühsam mehr als uns andere. Der alternde Mann wurde häufiger gequält als irgendein Häftling in Oranienburg."

In meiner Kindheit hörte ich Erzählungen von russischen "Sozialrevolutionären", die ihr Leben bei Anschlägen auf zaristische Repräsentanten riskiert hatten. Viel Sympathie wandte sich den Italienern Sacco und Vanzetti zu, die 1920 in Boston wegen angeblichen Raubmordes zum Tode verurteilt worden waren und - unbeschadet weltweiter Proteste - sieben Jahre später hingerichtet wurden. (50 Jahre später hob ein Gouverneur von Massachusetts - der erste italienischer Herkunft - das zweifelhafte Urteil auf.)

Bei meinen Bemerkungen zur schwedischen und norwegischen Arbeiterbewegung erwähnte ich, daß sich in ihr zu Beginn des Jahrhunderts Einflüsse des revolutionären Syndikalismus aus Frankreich und Amerika geltend gemacht hatten. In vielen Ländern wurde der Sozialismus von anarchistischen Denkern beeinflußt - nicht so in Deutschland. Pierre-Joseph Proudhon (1809 bis 1865), ursprünglich Buchdrucker, zum Beispiel wirkte auf die sozialistische Bewegung in Frankreich mit seiner Zielvorstellung, die "Verwaltung von Sachen" anstelle der "Herrschaft über Menschen" zu setzen. Hieraus wurden die Forderungen nach freier Zusammenarbeit von Individuen und Gruppen ohne Ausbeutung und Zwang und einer Ordnung von Bünden aus Freiwilligkeit abgeleitet. Proudhon, dessen Haltung zu Fragen der Gewalt labil blieb, betrachtete die Revolution als den unumgänglichen Weg zur Gerechtigkeit: doch die wahrhafte Revolution sei nicht die politische, sondern "une révolution morale et sociale".

Immanuel Kant noch setzte Anarchie gleich Gesetz und Freiheit ohne Gewalt. Tolstoj machte sich diese Definition zu eigen, doch Bakunin hat sie nie akzeptiert. Er und seine Jünger trieben zu Gewalttaten an, die ohne Sinn und Nutzen waren. Ein anderer "Klassiker" des Anarchismus, der Fürst Kropotkin, ging eigene Wege, die der Gewaltlosigkeit näher waren. (Die terroristischen Desperados der siebziger Jahre verdienten es in Wahrheit kaum, Anarchist genannt zu werden. Hierzu schrieb mir einer der bekanntesten deutschen und europäischen Anarchosyndikalisten, der mittlerweile 80jährige Augustin Souchy, der aus Schlesien stammte. Er wandte sich an mich nach einer Fernsehansprache, mit der ich im Juni 1972 auf das Umfeld der Baader-Meinhof-Gruppe mit Argumenten der Vernunft nicht erfolglos einzuwirken versuchte: Mit der Verurteilung des Terrorismus sei er einverstanden, "denn auch ich verabscheue sinnlose Gewalttaten, selbst wenn sie politisch motiviert werden". Enttäuscht, sei er, daß leider auch ich "wildgewordene, sich zu einem konfusen Neomarxismus und Maoismus bekennende Bürgersöhne und Bürgertöchter" als kriminelle Anarchisten bezeichnet habe: "Ich möchte Dein Augenmerk auch darauf lenken, daß die seinerzeit von Proudhon aufgestellten anarchistischen Prinzipien politischer Autonomie und freier Föderation bei gleichzeitiger Kooperation von selbständigen Kollektivunternehmungen heute als Alternative zur privatkapitalistischen Monopolwirtschaft einerseits und zur zentralen Verwaltungswirtschaft andererseits ernsthaft in Erwägung gezogen werden." In meiner Antwort sagte ich, es liege mir fern, der irrigen Meinung Vorschub zu leisten, jeder Anarchismus sei auf Gewalt gerichtet und kriminell. So äußerte ich mich auch vor dem Bundestag. Meine Antwort an Souchy war freilich nicht sehr anspruchsvoll.)

Die revolutionär-syndikalistischen Ideen haben vermutlich ihre Zukunft hinter sich. Ihre Vertreter wollten statt politischer Arbeit stets den Massenstreik ins Zentrum von Aktivitäten der Arbeiterbewegung gerückt sehen. Dies war übrigens die Orientierung der französischen CGT noch vor der Jahrhundertwende, ähnlich wie die der italienischen USI. Nach dem Ersten Weltkrieg gesellte sich eine Anzahl der italienischen Anarchisten, Syndikalisten und Linkssozialisten zu den Faschisten Mussolinis. (Bei Georges Sorel, dem Theoretiker des revolutionären Syndikalismus, finden sich Anklänge an einen vorfaschistischen Antirationalismus.)

Der Einfluß der Anarchosyndikalisten in Südamerika - in Argentinien und Uruguay vor allem - ging inzwischen zurück. Die IWW in den USA, zu denen Tranmäl und andere "meiner" Norweger gehört hatten, verloren nach dem ersten Krieg ihren Anhang. Im Deutschland der Weimarer Republik hatte die Freie Arbeiter-Union (FAU) in den zwanziger Jahren etwa 50000 Mitglieder. In Schweden unterhielt ich während des Krieges freundschaftlichen Kontakt zur gemäßigten SAC (Svenska Ärbetares Centralorganisation); sie zählte etwa 25000 Mitglieder - vor allem unter den Waldarbeitern, Grubenarbeitern und bei den Bauarbeitern für Eisenbahnen, Häfen, Straßen und sie hatte zwei Tageszeitungen; an "Arbetaren" in Stockholm arbeitete ich gelegentlich mit. Meine beiden Kollegen im Norwegisch-Schwedischen Pressebüro, für das ich während des Krieges arbeitete, kamen aus dem Jugendverband dieser Organisation. (Aus dem gleichen Milieu stammte der befreundete Schriftsteller Eyvind Johnson, Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1974.)

Nicht alle ideologischen Schlachten von vorgestern müssen morgen noch einmal geschlagen werden. Anarchismus im Sinne von Herrschaftslosigkeit: Der Gedanke ist zu schön, um wahr werden zu können, wenngleich man es nicht einfach als Torheit abtun sollte. Fichte immerhin schrieb, es sei der Zweck aller Regierungen, die Regierung überflüssig zu machen. Die Würde der Maxime bleibt: Ich will nicht herrschen, mich aber auch nicht beherrschen lassen. Es ist ein eitler Wahn, die Menschen zu ihrem Glück zwingen zu wollen - was allerdings stets die fatale Neigung vieler Ideologien war. Mit der These, es müsse revolutionäre Gewalt eingesetzt werden, um jede Art von Gewalt abschaffen zu können, wurde viel Unheil angerichtet.

Etwas anderes ist es, wenn man in der "libertären" Tradition das Gegengewicht zu einer gewissen "marxistischen" Dogmatik sucht: Der freiheitliche und dezentralisierte Selbstverwaltungssozialismus hat seinen Stellenwert; und manche seiner Gedanken finden sich wieder in der deutschen oder schwedischen Debatte über Mitbestimmung oder der französischen über Autogestion. Das Ziel war eine ins Wirtschaftliche und Soziale übergreifende Demokratie, wovon einiges sich in den israelischen Kibuzzim und Moshaws darstellte oder auch in der jugoslawischen Konzeption der Arbeiterselbstverwaltung Ausdruck fand. Was immer die chinesische Kulturrevolution angerichtet hat: Daß Mao von ihr antibürokratische Wirkungen erhoffte, steht wohl außer Zweifel. Mindestens so sicher ist, daß die polnische Entwicklung 1980/81 durch den Rückgriff auf eigenständige Ideen von Selbstverwaltung mitbeeinflußt wurde. (Anders als es die Unbedarften wissen und die Ideenverfälscher wahrhaben wollen, war auch Marx für "freie Vereinigungen der unmittelbaren Produzenten" - wo es um das "Absterben" des Staates ging, stritt er mit den Anarchisten nicht über das Ob, sondern über das Wie.)

Regierende Kommunisten, auch andere Staatssozialisten, kommen in Verlegenheit, wenn sie in Fragen Partizipation - Mitbestimmung - Selbstverwaltung gefordert werden. Allerdings zeigt die Erfahrung auch, daß anarchosyndikalistische (oder rätedemokratische) Aktivitäten noch nirgends dazu geführt haben, Interessenkonflikte gewaltfrei zu lösen. Statt dessen hat man erlebt, daß Andersdenkende gewaltsam ausgeschaltet und reaktionäre Folgen bewirkt wurden.

Originaltext: Willy Brandt - Links und frei. Mein Weg 1930 - 1950. Hoffmann und Campe, 1982. Digitalisiert von www.anarchismus.at, als Quelle diente ein PDF der sozialdemokratischen Friedrich Ebert - Stiftung.


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