Gaston Leval - Die schwarz-roten Straßenbahnen von Barcelona
Die Straßenbahnen waren in Barcelona das wichtigste Transportmittel. 60 Linien zogen durch die Stadt und fuhren zu den Vororten und den umliegenden Ortschaften: Pueblo Nuevo, Horta, Sarria, Badalona, Sens, Bonanova, Gracia, Casa Anunez usw. Die Allgemeine Straßenbahngesellschaft, eine AG mit hauptsächlich belgischem Kapital, beschäftigte 7.000 Lohnempfänger, die die Wagen fuhren und den Fahrpreis kassierten und in den 8 Depots und in den Reparaturwerkstätten arbeiteten.
Ungefähr 6.500 von diesen 7.000 Arbeitern waren in der CNT, wo sie die ihrem Fachgebiet entsprechende Sektion der Industriegewerkschaft der Transportmittel bildeten. Die anderen, bedeutend kleineren Sektionen waren die der U-Bahn (2 Linien), der Taxifahrer, die sich in der Folge getrennt organisierten, der Autobusse und schließlich der beiden Drahtseilbahnlinien nach Montjuich und dem Tibidabo-Berg.
Die Straßenkämpfe hatten den ganzen Verkehr lahmgelegt, die Straßen waren durch die Barrikaden versperrt, deren Hauptmaterial eben oft aus Straßenbahnen und Bussen bestand. Man mußte also alles ausräumen und den Weg freimachen, um die in der Großstadt unerläßlichen Transportmittel wieder ingangzusetzen. Nun beauftragte die gewerkschaftliche Straßenbahnsektion eine Kommission von sieben Genossen damit, die Verwaltungsräume zu besetzen, während andere die Bahnen besichtigen und sich einen Überblick über die nötigen Aufräumungsarbeiten verschaffen sollten.
Vor dem Gesellschaftslokal fand die Kommission eine Bereitschaftsgruppe der Zivilgarde, die den Zugang verhindern sollte. Der sie befehligende Unteroffizier erklärte, er habe den Befehl erhalten, keinen Menschen hineinzulassen. Mit Gewehren und Granaten bewaffnet und zum Teil durch den Panzerwagen, der für den Geldtransport der Gesellschaft bestimmt war, gut geschützt, drohten unsere Genossen anzugreifen. Der Unteroffizier bat seine Vorgesetzten telephonisch um die Erlaubnis zum Rückzug und sie wurde ihm gewährt.
Verweilen wir einen Augenblick bei einer kleinen, amüsanten Einzelheit. Das gesamte höhere Personal war nicht da, und in den Büroräumen fand die Gewerkschaftsdelegation nur den Anwalt vor, dessen Aufgabe es war, die Gesellschaft zu vertreten und für sie Verhandlungen durchzuführen. Der Genösse Sanchez, der aktivste und erfahrenste Militante, kannte diesen Herrn sehr wohl, der ihn vor zwei Jahren bei einem 28monatigen Streik zu 17 Jahren Gefängnis hatte verurteilen lassen - dieser Verteidiger der Interessen der Gesellschaft hatte sogar eine Strafe von 105 Jahren Gefängnis gegen ihn beantragt! (Sanchez war zusammen mit Tausenden anderer Genossen dank der nach den Wahlen im Februar 1936 gewährte Amnestie aus dem Gefängnis entlassen worden.)
Dieser Herr empfing ihn auf sehr liebenswürdige Weise, indem er erklärte, er würde die neue Situation akzeptieren und sich sogar als Anwalt den Arbeitern zur Verfügung stellen. Sanchez' Genossen wollten ihn auf der Stelle erschießen, dieser aber war dagegen und ließ ihn sogar weggehen. Es war Freitag, und man machte für den nächsten Montag ein Treffen aus. Vertrauensvoll bat der Mann darum, daß man ihn heimbegleitete, da auf den Straßen so viele bewaffnete Revolutionäre wären ... Man tat es, aber er kam am folgenden Montag nicht wieder und wurde dann nie wieder gesehen.
Das Komitee der sieben rief sofort die Delegierten der verschiedenen Gewerkschaftssektionen - Elektrizitätswerk, Kabel, Reparaturen, Verkehr, Schaffner, Lagerräume, Buchführung, Büros, Verwaltung usw. - zusammen: wieder einmal gelang die Synchronisierung der Industriegewerkschaft hervorragend. Einstimmig wurde beschlossen, die Straßenbahnen unverzüglich wieder ingangzusetzen.
Am folgenden Tag wurden die Handarbeiter und Techniker durch den Rundfunk zusammengerufen - so wie die Metallindustriegewerkschaft es mit ihren Mitgliedern getan hatte - es fehlten nur einige Faschisten. Alle Ingenieure stellten sich der Gewerkschaft zur Verfügung, ein alter Oberst miteinbegriffen, der wegen seiner aktiven Sympathie für die Arbeiter bereits vom Posten des Leiters der Verkehrsabteilung und Direktors der U-Bahn in die Archivabteilung zurückversetzt worden war.
Fünf Tage nach dem Abschluß der Kämpfe fuhren 700 - anstatt 600 - Straßenbahnen mit den schwarzroten Schrägstreifen der FAI durch Barcelona. Ihre Zahl war vergrößert worden, um die Anhänger abzuschaffen, die viele Unfälle verursachten. Dafür hatte man Tag und Nacht und mit allgemeiner Begeisterung gearbeitet, um ungefähr 100 zum alten Eisen geworfene, weil für unbrauchbar gehaltene Wagen zu reparieren.
Natürlich konnten die Dinge deshalb so schnell und so gut organisiert werden, weil die Menschen selbst gut organisiert waren. Denn wir finden hier eine Gesamtheit von Sektionen vor, die nach Berufszweigen und auf industrieller Basis gemäß der Arbeitsorganisation gegründet worden sind, und zwar sowohl auf Betriebs- als auch auf Gewerkschaftsebene. Mechaniker, Schaffner, Autoschlosser, Tischler usw. bildeten jeweils einander ergänzende Gruppierungen, die über den bloßen, herkömmlichen Berufsrahmen hinausgingen, um sich in einer einzigen Organisation zu vereinigen.
An der Spitze jeder Sektion standen ein in Übereinstimmung mit der Gewerkschaft ernannter Ingenieur und ein Vertreter der Arbeiter: so wurde zu gleicher Zeit für die Arbeit und für die Arbeiter gesorgt. Auf der nächsthöheren Stufe bildeten die versammelten Delegierten das lokale Generalkomitee. Die Sektionen kamen getrennt zusammen, wenn es sich um ihre spezifischen Aktivitäten handelte, die also unabhängig von den anderen betrachtet werden konnten; wenn es um allgemeine Probleme ging, hielten dagegen alle Arbeiter aller Berufe eine Vollversammlung ab.
Es bestand also auch eine permanente Übereinkunft zwischen Ingenieuren und Arbeitern. Kein Ingenieur durfte eine wichtige Maßnahme ergreifen, ohne das Lokalkomitee um Rat zu fragen, nicht nur, weil alle gleichermaßen an den Entscheidungen teilhaben sollten, sondern auch deswegen, weil die Handarbeiter meistens in praktischen Fragen mehr Erfahrung haben als die Ingenieure. (...)
Die spontane Disziplin und das hohe ethische Bewußtsein der Arbeiter waren allgemein anerkannt. Alle stimmten dem gemeinsamen Werk zu und nahmen daran teil, und jeder entwickelte seine eigene Phantasie, um technische Verbesserungen und neue Arbeitsmethoden zu finden. (...)
Diese Mitarbeit ging sogar über den Betriebs- bzw. Gewerkschaftsrahmen hinaus. Die gut ausgerüsteten Werkstätten stellten z.B. Raketen und Haubitzen für die aragonesische Front her. Die Arbeiter machten also kostenlos Extrastunden und kamen sogar Sonntags in die Fabrik, um dem gemeinsamen Kampf ihren unentgeltlichen Beitrag zu leisten.
Zum Abschluß will ich noch betonen, daß überall Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit herrschten. Gewiß hat es einige wenige Fälle von Unehrlichkeit gegeben, sie beschränkten sich aber innerhalb von Jahren auf sechs kleinere Diebstähle, die nicht einmal nennenswert wären, aber wir wollen nicht den Anschein erwecken, das Unangenehme zu übergehen. Am ernstesten war folgender Fall: Ein Arbeiter nahm ab und zu kleinere Mengen Kupfer mit nach Hause, die er dann verkaufte, sobald er ein Kilo zusammen hatte. Er wurde entlassen, als seine Frau aber zum Betriebskomitee ging und erklärte, sie hätte ein Kind, das darunter zu leiden haben würde, gab man ihr den Lohn für drei oder vier Wochen und versetzte ihren Mann in eine andere Werkstatt.
Gaston Leval
Aus: "Die Aktion" Nr. 161/164 - Dossier zu Spanien 1936
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