Isaac Puente - Der freiheitliche Kommunismus (1933)
Der freiheitliche Kommunismus ist die Organisation der Gesellschaft ohne Staat und Privateigentum. (...) Die Kristallisationspunkte der Organisation, um die herum sich das künftige Wirtschaftsleben konstituieren wird, sind bereits in der jetzigen Gesellschaft vorhanden: die freie Gewerkschaft und die freie Kommune. In der Gewerkschaft versammeln sich heutzutage spontan die Arbeiter der Fabriken sowie aller kollektiven Unternehmungen. In der freien Kommune, die eine altehrwürdige Tradition aufweist, schließen sich (ebenfalls spontan) die Einwohner der Ortschaften und Dörfer zusammen (…)
Beide Organe, die auf föderativen und demokratischen Normen aufbauen, werden ihre Entscheidungen souverän treffen; sie werden von keinem übergeordneten Organ bevormundet. Sie sind lediglich dazu verpflichtet, sich zusammenzuschließen, wobei die Verbindungsgremien, die Industrieföderationen bilden, wirtschaftlichen Druck ausüben. Diese Gremien ergreifen kollektiven oder gemeinsamen Besitz von all dem, was heute Privateigentum ist; sie regulieren in jeder Ortschaft Produktion und Konsum, das heißt das Wirtschaftsleben. Die Zusammenstellung der beiden Wörter "freiheitlich" und "Kommunismus" deutet auch auf die Verschmelzung zweier Vorstellungen hin: die eine ist die kollektivistische, die auf die Erstellung einer harmonischen Einheit abzielt, indem die Individuen zusammenwirken oder zusammenarbeiten, ohne daß ihre Unabhängigkeit geschmälert würde; die andere ist die individualistische, die dem Individuum seine Unabhängigkeit garantieren will. (...) Die Gewerkschaft ist auf die Notwendigkeit kollektiver Organisation zurückzuführen, die freie Kommune spiegelt das individualistische Denken der Bauern besser wider. (…)
Der freiheitliche Kommunismus muß die Befriedigung wirtschaftlicher Bedürfnisse ermöglichen und zugleich das Streben nach Freiheit respektieren. Aus Liebe zur Freiheit lehnen wir einen Kloster- oder Kasernenkommunismus, einen Ameisenhaufen- oder Bienenkorbkommunismus ebenso wie einen Herdenkommunismus a la Rußland ab. (…)
Indem wir den freiheitlichen Kommunismus leben, werden wir lernen, ihn zu leben. Indem wir ihn durchsetzen, werden seine schwachen Stellen und seine falschen Seiten deutlich. (...) Der freiheitliche Kommunismus wird in dem Maße durchführbar, in dem auf die direkte Aktion zurückgegriffen und auf Vermittler verzichtet wird. Der freiheitliche Kommunismus beruht auf der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft; dabei ist das wirtschaftliche Interesse der einzige Verbindungsknoten, der zwischen den Individuen zu bestehen hat, denn nur er ist allen gemeinsam.
Die gesellschaftliche Organisation verfolgt als alleiniges Ziel, all das zu Gemeinschaftsgut werden zu lassen, was den gesellschaftlichen Reichtum bildet, das heißt die Produktionsmittel und -geräte ebenso wie die Produkte selbst; gemeinsam soll auch die Verpflichtung sein, zur Produktion beizutragen, ein jeder entsprechend seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten; sodann sollen die Produkte unter allen, in Übereinstimmung mit den individuellen Bedürfnissen, verteilt werden. Alles, was nicht unter den Begriff wirtschaftliche Funktion oder Handlung fällt, bleibt von der Organisation unberührt und unkontrolliert, das heißt der privaten Initiative und Handlungsweise überlassen.
Auf dem Lande ist die Durchführung des freiheitlichen Kommunismus besonders einfach, denn sie reduziert sich darauf, die freien Kommunen einzusetzen. Die freie Kommune ist die Versammlung (der Rat) aller Einwohner einer Ortschaft oder eines Dorfes; diese Versammlung kann in souveräner Weise alle lokalen Angelegenheiten verwalten und ordnen, insbesondere Produktion und Güterverteilung. (...) In der freien Kommune wird nicht nur, wie es heute der Fall ist, ein Teil des kommunalen Gebiets, sondern alles, was der Gemeindeverwaltung rechtlich untersteht, gemeinschaftliches Eigentum sein (...) Das private Eigentum wird (...) nur bei der Nutznießung erforderlicher Güter bestehen bleiben, wie z.B. bei der Wohnung, Kleidung, den Möbeln, dem Handwerkzeug (...) Alles, was über die unmittelbaren Bedürfnisse hinausgeht, kann jederzeit durch die Kommune eingezogen werden, wenn die Vollversammlung es beschließt; denn alles, was wir anhäufen, ohne es zu benötigen, gehört uns nicht, da wir es den anderen entwenden. (...)
Alle Einwohner werden gleich sein,
1. um zu produzieren und zum Unterhalt der Kommune beizutragen; der einzige Unterschied wird in den jeweiligen Fähigkeiten begründet liegen (Alter, Beruf, Ausbildung etc.);
2. um an den Verwaltungsentscheidungen der Vollversammlung teilzunehmen;
3. um entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen oder nach unerwarteter Rationalisierung zu konsumieren. Wer sich weigert, für die Gemeinschaft zu arbeiten (außer den Kindern, Kranken und Alten), muß auf das Recht der Mitbestimmung und des Konsums verzichten.
Die freie Kommune wird mit anderen Ortschaften und den nationalen Industrieföderationen verbunden sein. Jeder Ort bietet die im Überfluß vorhandenen Güter zum Tausch an; dafür fordert er die Produkte an, die er benötigt. Jeder Ort wird durch speziellen Einsatz zu den Gemeinschaftsaufgaben beitragen (...) Als Gegenleistung zu dieser Zusammenarbeit im regionalen oder nationalen Interesse kann die Bevölkerung in der freien Kommune von den öffentlichen Dienstleistungen Gebrauch machen, z.B. von Post, Telegraphenamt, Telefon, Eisenbahnen und Transportwesen; von Licht und elektrischer Energie mit allen Zusatzdiensten; von Asylen, Krankenhäusern, Sanatorien und Heilbädern; von höherer Schulbildung und Universitätsstudium; von Waren, die nicht am Ort hergestellt werden. Das Überangebot von Arbeitskräften wird mit neuen Arbeitsaufträgen ausgeglichen, die die Ortschaft in Angriff nimmt; außerdem wird die anfallende Arbeitszeit auf alle verteilt, so daß der tägliche Arbeitseinsatz eines jeden Arbeiters reduziert werden kann. Der Bauer braucht vor dieser Art Kommune keine Angst zu haben; seine Vorfahren haben sie in sehr ähnlicher Form kennengelernt. In allen Dörfern gibt es gemeinschaftliche Arbeit, mehr oder minder umfangreiches kommunales Eigentum, gemeinsame Nutznießung (Holz oder Weide). (…)
In der Stadt wird die freie Kommune durch die Lokalföderation repräsentiert. In großen Ortschaften kann es ähnliche Organisationen auf Stadtteilebene geben. Die Lokalföderation der Industriegewerkschaften übt ihre Souveränität in der Vollversammlung aller Produzenten einer Ortschaft aus. Ihre Aufgabe besteht darin, das Wirtschaftsleben eines Ortes, insbesondere Produktion und Güterverteilung, zu regeln; sie wird dabei die Bedürfnisse der eigenen Ortschaft sowie die Erfordernisse anderer Ortschaften berücksichtigen. Zum Zeitpunkt der Revolution ergreifen die Gewerkschaften kollektiven Besitz von den Fabriken, Werkstätten und Arbeitsräumen, von den Wohnungen, Gebäuden und Ländereien, von den öffentlichen Diensten und den eingelagerten Gütern und Rohstoffen. Die Syndikate der Produzenten organisieren die Verteilung; zu diesem Zweck greifen sie auf die Genossenschaften zurück oder benutzen vorhandene Geschäfts- und Markthallen.
Um in den Genuß aller Rechte zu kommen, muß man über einen Produzentenausweis verfügen (...) Der Produzentenausweis verleiht folgende Rechte:
1. Entsprechend der getroffenen Rationalisierung oder den Bedürfnissen alle im Ort verteilten Güter zu konsumieren;
2. zur Nutznießung über ein anständiges Haus, die erforderlichen Möbel, Geflügel und einen (Obst-)Garten zu verfügen, wenn die Gemeinschaft dies beschließt;
3. von den öffentlichen Diensten Gebrauch machen zu dürfen;
4. an den Abstimmungen in der Fabrik, der Werkhalle, der Zeche, der Abteilung in der Gewerkschaft und der Lokalföderation teilzunehmen.
Der wirtschaftliche Zwang verpflichtet den einzelnen, am lokalen Wirtschaftsleben teilzunehmen. Derselbe wirtschaftliche Zwang muß auf den Gemeinschaften lasten und sie dazu zwingen, volkswirtschaftlich zusammenzuarbeiten. Die Volkswirtschaft jedoch darf nicht von einem Zentralrat oder einem Obersten Komitee abhängig sein, die Keimzellen des Autoritarismus und Kristallisationspunkte von Diktaturen sowie Brutstätten von Bürokraten sind. (...) Wenn alle Orte (Städte, Dörfer und Weiler) ihr inneres Leben geordnet haben, wird die Organisation im Landesmaßstab vollkommen sein. Dasselbe können wir von den Ortschaften sagen: Wenn alle Individuen, die die Ortschaft bilden, die Befriedigung ihrer Bedürfnisse gesichert sehen, wird das Wirtschaftsleben der Kommune oder der Föderation ebenfalls vollkommen sein (...).
Über der Lokalorganisation darf es keinen Überbau geben; es darf nur zur Bildung solcher überörtlicher Strukturen kommen, die lokal nicht ausführbaren Funktionen nachkommen müssen. Nur die Kongresse geben den nationalen Willen wieder und üben vorübergehend die Souveränität aus, die ihnen die Abstimmungen in den Versammlungen verleihen.
Aus: Isaac Puente, El comunismo libertario, Editiones CNT, o.O. (Toulouse) und o J. (1949), S. 2-8
Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at