Pierre Clastres - Archäologie der Gewalt. Zur Rolle des Krieges in primitiven Gesellschaften

Schauen wir uns die umfangreiche Literatur der Ethnographie an. Seit einigen Jahrzehnten ist sie bemüht, primitive Gesellschaften zu beschreiben und ihre Funktionsweise zu verstehen. Dabei ist äusserst selten von Gewalt die Rede und wenn überhaupt, dann nur um zu zeigen, wie diese Gesellschaften sich abmühen, sie zu kontrollieren, zu kodifizieren, zu ritualisieren, kurz, einzudämmen, wenn nicht gar abzuschaffen. Man bringt zwar Gewalt zur Sprache, aber ausschliesslich um zu zeigen, welches grosse Entsetzen sie primitiven Gesellschaften einjagt, um dann, unterm Strich, feststellen zu können, dass es sich um Gesellschaften gegen Gewalt handelt. Folglich überrascht es nicht, dass in der zeitgenössischen ethnologischen Forschung eine allgemeine Betrachtung über Gewalt in ihrer zugleich brutalsten und kollektivsten, in ihrer reinsten und sozialsten Form fast gänzlich fehlt: der Krieg. Wenn sich der neugierige Leser oder der Forscher der Sozialwissenschaften ausschliesslich auf den ethnologischen Ansatz über Krieg bei Primitiven - genauer: seine Nichtexistenz - bezieht, dann folgert er zurecht, dass (mit Ausnahme einiger nebensächlicher Anekdötchen) Gewalt im gesellschaftlichen Leben der Wilden keine Rolle spielt, dass sich das primitiv-gesellschaftliche Sein ausserhalb von bewaffneten Konflikten entfaltet, dass der Krieg nicht zur normalen und gewöhnlichen Art und Weise des Funktionierens primitiver Gesellschaften gehört. Der Krieg ist also aus der theoretischen Diskussion der Ethnologie verbannt. Man kann die primitive Gesellschaft denken, ohne gleichzeitig den Krieg denken zu müssen. Es ist nun zu fragen, ob diese wissenschaftliche Diskussion die Wahrheit über den Gesellschaftstyp ausdrückt, den sie untersucht: halten wir einen Moment inne, um uns der Wirklichkeit zuzuwenden, von der sie spricht.

Die Entdeckung Amerikas hat, wie man weiss, dem Abendland die Möglichkeit gegeben, das erste Mal denjenigen zu begegnen, die man von da an Wilde nennen sollte. Hier wurden die Europäer das erste Mal mit einer anderen Art von Gesellschaft konfrontiert, die so grundsätzlich verschieden war von allem, was sie bis dahin kannten. Sie waren gezwungen, eine gesellschaftliche Wirklichkeit zu denken, die innerhalb ihrer traditionellen Vorstellungen vom gesellschaftlichen Sein keinen Platz finden konnte; mit anderen Worten: für das europäische Denken war die Welt der Wilden absolut undenkbar. Hier ist nicht der Ort, um die genauen Gründe dieser echten epistemologischen Unmöglichkeit zu untersuchen. Nur so viel dazu: sie hängen mit jener Gewissheit zusammen, die über der gesamten abendländischen Geschichte ausgebreitet liegt und die zu wissen meint, was die menschliche Gesellschaft ist und was sie sein soll, jener Gewissheit, die von der griechischen Morgendämmerung an das europäische Denken über Politik bestimmt, welches im fragmentarischen Werk von Heraklit über die Polis seinen Ausdruck findet. Diese Vorstellung von Gesellschaft verkörpert sich in Gestalt des Einen, das ausserhalb der Gesellschaft steht, in der hierarchischen Anordnung des politischen Raumes, in der Befehlsfunktion des Häuptlings, des Königs oder des Despoten: sie ist nur Gesellschaft unter dem Merkmal von Teilung, ihrer Teilung in Herren und Untertanen. Durch diese Festlegung vom Gesellschaftlichen folgt, dass eine Gruppierung von Menschen, die diesen Teilungscharakter nicht aufweist, nicht als eine Gesellschaft betrachtet werden kann. Also wen sahen die Entdecker der Neuen Welt am Ufer des Atlantik auftauchen? "Völker ohne Glaube, ohne Gesetz, ohne König." So sahen sie die Chronisten des 16. Jahrhunderts. Die Ursache dafür war selbstverständlich und klar: diese Menschen im Naturzustand waren noch nicht in den Zustand von Gesellschaft gelangt. In dieser Einschätzung der brasilianischen Indianer herrscht fast Einstimmigkeit, die nur von den dissonanten Tönen der Herren Montaigne und La Boetie getrübt wird. (Montaigne, franz. Moralist, 1533-1592, er machte eine Reise quer durch Europa, die ihm die Relativität aller menschlichen Dinge vor Augen führte. Er entdeckte die Unmöglichkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit zu finden. Trotzdem war er kein Pessimist, sondern er beschloss, dass sich "Die Kunst des Lebens" auf eindringliche Weisheit und Klugheit gründen muss, die vom guten Willen und Toleranz durchdrungen sein sollten./La Boetie, 1530-1563, franz. Schriftsteller, Stoiker, Freund von Montaigne, er schrieb gegen die Tyrannei.)

Ungetrübte Einstimmigkeit aber herrscht dort, wo es darum geht, quasi als Gegenleistung, die Sitten der Wilden zu beschreiben. Seien es Entdecker oder Missionare, Händler oder gelehrte Reisende: sie alle sind sich seit dem 16. Jahrhundert bis zur erst kürzlich abgeschlossenen Eroberung der Welt in einem einig: seien sie aus Amerika (von Alaska bis Feuerland) oder Afrika, aus sibirischen Steppen oder melanesischen Inseln, seien es Nomaden aus den australischen Wüsten oder sesshafte Ackerbauern aus den Dschungeln Neu-Guineas - immer werden die primitiven Völker als leidenschaftliche dem Krieg verfallen dargestellt. Ihr besonders kriegerischer Charakter beeindruckt ausnahmslos alle europäischen Forscher und Beobachter. Aus der ungeheuren Ansammlung von Dokumenten, Chroniken, Reiseberichten, Aussagen von Priestern und Pastoren erwächst ein Bild - unbestritten und sofort - aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der beschriebenen Kulturen: das des Krieges. Es ist hervorstechend genug, um daraus einen soziologischen Tatbestand abzuleiten: die primitiven Gesellschaften sind gewalttätige Gesellschaften, ihr gesellschaftliches Sein ist ein Sein- für-den-Krieg,

Das ist jedenfalls der Eindruck, den in allen Klimata und seit mehreren Jahrhunderten die unmittelbaren Zeugen gewonnen haben, von denen viele lange Jahre am Leben der eingeborenen Stämme teilnahmen. Es wäre genauso leicht wie unnütz, eine Auswahl dieser Einschätzungen zusammenzustellen, die sich auf die Bevölkerung sehr unterschiedlicher Gegenden und Epochen beziehen.

Die aggressiven Neigungen der Wilden werden immer als äusserst rauh eingeschätzt: wie soll man letztendlich die Völker christianisieren, zivilisieren und von den Werten der Arbeit und des Geschäfts überzeugen, die sich hauptsächlich darum kümmern, Krieg gegen ihre Nachbarn zu führen, ihre Niederlagen zu rächen oder ihre Siege zu feiern? Tatsächlich werden in den Ansichten der französischen und portugiesischen Missionare über die Tupi des brasilianischen Küstenstrichs schon Mitte des 16. Jahrhunderts die kommenden Diskussionen vorweggenommen und zusammengefasst: wäre nicht, so sagen sie, dieser unaufhörliche Krieg, den die einen gegen die anderen Stämme führen, dann wäre das Land überbevölkert. Das offensichtliche Dominieren des Krieges im Leben der primitiven Völker ist es, was in erster Linie die Aufmerksamkeit der Gesellschaftstheoretiker beansprucht. Dem Zustand der Gesellschaftlichkeit, die für ihn Gesellschaft des Staates ist, stellt Thomas Hobbes eine nicht reale, sondern logische Konstruktion des Menschen unter natürlichen bedingungen (condition naturelle) entgegen, einen Menschheitszustand vor dem Leben in der Gesellschaft, das heisst: "unter einer allgemeinen Macht, die sie alle in Schach hält". Also wodurch zeichnen sich die natürlichen Bedingungen des Menschen aus? Durch "den Krieg aller gegen alle". Aber, so wird man entgegnen, dieser Krieg, der die einen gegen die anderen abstrakten Menschen setzt, ist vom Philosophen des bürgerlichen Staates erfunden, um der Sache zu dienen, die er verteidigt. Weiter wird man entgegnen, dass dieser eingebildete Krieg nichts mit der empirischen Wirklichkeit des Krieges in den primitiven Gesellschaften zu tun hat. Das kann sein. Aber trotzdem bleibt, dass Hobbes selbst seine Ableitung zu begründen versucht, indem er sich auf eine konkrete Wirklichkeit bezieht: die natürlichen Bedingungen der Menschen sind nicht nur eine abstrakte Konstruktion eines Philosophen, sondern ein tatsächliches Schicksal, welches man bei einer erst kürzlich entdeckten Menschheit beobachten kann. "Man könnte glauben, dass weder eine solche Zeit noch ein solcher Kriegszustand jemals existiert hat. Ich glaube wirklich, dass es niemals in dieser Allgemeinheit auf der ganzen Welt so war. Aber es gibt viele Gebiete, wo die Menschen heute noch so leben. In der Tat. In manchen Gebieten Amerikas haben die Wilden - wenn man von der Regierung kleiner Familien absieht, deren gegenseitiges Einverständnis von natürlichen Begierden abhängt - überhaupt keine Regierung und sie leben bis auf den heutigen Tag noch in dieser fast tierischen Art und Weise, die ich oben beschrieben habe."(1) Man verwundere sich nicht zu sehr über Hobbes, darüber, wie er so unangegriffen und leicht die Wilden verachten kann; diese Vorstellungen entspringen seiner Zeit (Vorstellungen, wiederholen wir es noch einmal, die von Montaigne und La Boetie jedoch abgelehnt wurden): eine Gesellschaft ohne Staat und Regierung ist keine Gesellschaft; folglich leben die Wilden ausserhalb des Gesellschaftlichen, unter natürlichen Menschheitsbedingungen, wo der Krieg jeder gegen jeden regiert. Hobbes wusste um die starke Kriegsleidenschaft der amerikanischen Indianer; deshalb konnte er in ihren wirklichen Kriegen die offensichtliche Bestätigung seiner Gewissheit sehen: die Abwesenheit des Staates macht die Verallgemeinerung des Krieges möglich und verunmöglicht die Errichtung von Gesellschaft.

Die Gleichung Welt der Wilden = Welt des Krieges, d. h. sich immer wieder auf dem "Schlachtfeld" behaupten müssen, zieht sich quer durch alle Darstellungen primitiver Gesellschaften, seien sie volkstümlich oder gelehrt. So schrieb auch ein anderer englischer Philosoph, Spencer, in seinen Principles of Sociology: "Im Leben der Wilden und Barbaren sind die hervorragendsten Ereignisse die Kriege." Das klingt wie ein Echo auf das, was drei Jahrhunderte vor ihm der Jesuit Soarez aus Souza über die Tupinamba Brasiliens gesagt hatte: "Da die Tupinamba sehr kriegerisch sind, beschäftigen sie sich hauptsächlich damit, wie der Krieg gegen ihre Feinde zu führen sei." Besitzen aber die Bewohner der Neuen Welt das Monopol auf die Kriegsleidenschaft? Keineswegs. In einer schon alten Arbeit (2) über die Ursachen und die Bedeutung des Krieges in den primitiven Gesellschaften hatte Maurice R. Davie versucht, das systematisch miteinander zu vergleichen, was die Ethnographie seiner Zeit über diesen Gegenstand aussagte. Abgesehen von wenigen Ausnahmen (die Eskimos aus Mittel- und Ostamerika) ergibt sich aus seiner peinlich genauen Forschungsarbeit, dass überhaupt keine primitive Gesellschaft dem Bann der Gewalt entgeht, dass keine unter ihnen ist, für die Gewalt nicht Produktionsweise, techno-ökonomisches System oder ökologisches Umfeld wäre, unter ihnen ist keine, die die kriegerische Entfaltung von Gewalt nicht kennen oder zurückweisen würde, die das Sein selbst jeder betroffenen Gemeinschaft mit in den bewaffneten Konflikt hineinzieht. Es scheint also sehr wohl begründet, dass man die primitive Gesellschafft nicht denken kann, ohne zugleich an den Krieg zu denken, der, als unmittelbar bekannte Grösse der Soziologie Primitiver Völker, eine Dimension der universalität erhält,

Dieser überdeutlich starken Präsenz des Krieges in primitiven Gesellschaften widerspricht das Schweigen der neueren Ethnologie, für die Gewalt und Krieg nur als Beschwörungsmittel dienen. Woher kommt dieses Schweigen? Zuerst sind da sicherlich die Bedingungen im Spiel, unter denen heutzutage die Gesellschaften leben, mit denen sich die Ethnologen beschäftigen. Man weiss, dass es auf der Erde heute kaum mehr primitive Gesellschaften gibt, die absolut frei, autonom und ohne Kontakt mit der "weissen" sozioökonomischen Umwelt sind. Die Ethnologen haben keinerlei Möglichkeit mehr, so stark isolierte Gesellschaften zu beobachten, dass sich in ihnen das freie Spiel der Kräfte welches sie charakterisieren und stützen würde, entfalten könnte: ihre hundertjährige Abgeschiedenheit hat dieser ohne Zweifel letzten primitiven Gesellschaft erlaubt, bis heute so zu leben, als wäre Amerika nie entdeckt worden. Unter anderem kann man bei ihnen die Allgegenwart des Krieges beobachten. Aber das ist noch lange kein Grund, von ihnen eine karikaturhafte Fratze zu entwerfen, so wie es gewisse Leute tun, bei denen die Lust am Sensationellen die Fähigkeit zum Verständnis eines mächtigen soziologischen Getriebes zum Verschwinden bringt (3). Kurz, wenn die Ethnologie nicht vom Krieg spricht, dann deswegen, weil sie keine Möglichkeit mehr hat, von ihm zu sprechen. Als die primitiven Gesellschaften Studienobjekte wurden, waren sie schon auf dem Weg der Zerstückelung, der Zerstörung und des Todes gebracht: wie sollten sie den Ethnologen das Schauspiel ihrer freien kriegerischen Vitalität vorführen können?

Aber vielleicht ist das nicht der einzige Grund für das Schweigen der Ethnologen. Man kann letztlich annehmen, dass sie, seitdem sie sich am Werk befinden, die ausgewählte Gesellschaft nicht nur in ihre Notizbücher und auf ihre Tonbänder festlegten, sondern auch in eine vorher erworbene Konzeption über das gesellschaftliche Sein primitiver Gesellschaften einbauten. Infolgedessen auch in eine Konzeption über den Zustand ihrer Gewalt; in eine Konzeption über die Ursachen ihrer Entfesselung und die Wirkungen, die sie hervorbringt. Keine allgemeine Theorie der primitiven Gesellschaft kann zum Abschluss kommen, ohne nicht dem Krieg Rechnung zu tragen. Es ist nicht nur so, dass die theoretische Diskussion über den Krieg ein Teil der Diskussion über die Gesellschaften ist, sondern die erste bestimmt die Richtung der zweiten: die Vorstellung über den Krieg bemisst und bestimmt die Vorstellung über die Gesellschaft. So könnte die fehlende Behandlung der Gewalt in der zeitgenössischen Ethnologie nicht nur mit dem Verschwinden des Krieges erklärt werden. Dem Verschwinden, dem der Verlust der Freiheit folgte und der die Wilden in einen gezwungenen Pazifismus hineinzwängte. Sondern ebenso auch damit, dass die zeitgenössische Ethnologie einer Art soziologischen Ansatz anhängt, der den Krieg aus dem Bereich der sozialen Beziehungen in den primitiven Gesellschaften ausschliesst. Es stellt sich folglich die Frage, ob solch ein Ansatz der primitiv-gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessen ist. Daher soll sich jetzt - und sei es auch nur kurz - mit den gängigen Ansätzen über Gesellschaft und Krieg bei den primitiven auseinandergesetzt werden, bevor diese Wirklichkeit selbst befragt wird. Diese Ansätze entwickeln sich in drei grosse unterschiedliche Richtungen: es gibt über den Krieg einen naturalistischen Ansatz (discours naturaliste), einen ökonomischen (dis cours economiste) und einen Ansatz, der vom Tausch ausgeht (discours echangiste) .

Insbesondere im vorletzten Kapitel des Werkes von A. Leroi-Gourhan (Le Geste et la Parole) ist der naturalistische Ansatz mit eigentümlicher Entschlossenheit formuliert worden. Hier entwickelt der Autor seinen historisch-ethnologischen Ansatz über die primitive Gesellschaft und der sie umgestaltenden Veränderungen mit unbestreitbarer (aber sehr wohl anfechtbarer) Fülle und Beredsamkeit. Gemäss der unlösbaren Verbindung zwischen archaischer Gesellschaft und kriegerischer Erscheinung schliesst das allgemeine Unterfangen Leroi-Gourhans logischerweise eine Betrachtung über den primitiven Krieg mit ein. Betrachtet unter einem Blickwinkel, der ausreichend in dem Geist zu erkennen ist, der das ganze Werk durchzieht und der sich in der Kapitelüberschrift ausdrückt: der soziale Organismus. Dieser organizistische Ansatz, der unverkennbar von Leroi-Gourhan behauptet wird, schliesst eine in sich schlüssige Vorstellung von Krieg ein. Was ist also nach Leroi-Gourhan Gewalt? Seine Antwort ist klar und eindeutig: "Aggressives Verhalten gehört spätestens seit den Australmenschen zur menschlichen Wirklichkeit und auch die beschleunigte Entwicklung der Gesellschaft hat nichts an ihrer Verbreitung und heranreifenden Verzweigung geändert." (S. 237)

Aggression als Verhaltensweise, d.h. Gebrauch der Gewalt, ist also auf die Menschheit als Gattung bezogen, sie breitet sich gleichzeitig mit ihr aus. Im grossen und ganzen eine Art zoologische Eigentümlichkeit der menschlichen Gattung, wird Gewalt als nicht wieder rückgängig zu machendes Gattungsmerkmal identifiziert, als natürliche Grösse, die ihre Wurzeln im biologischen Sein des Menschen hat. Diese spezifische Gewalt, die sich im aggressiven Verhalten ausdrückt, ist nicht ohne Grund und Ziel, sie ist immer auf einen Zweck hin ausgerichtet: "Seit ewigen Zeiten erscheint die Aggression als eine Technik, die grundsätzlich an die Beschaffung von Dingen (l'acquisation) gebunden ist. Beim Primitiven besteht sie aus Jagd, in der sich Aggression und Lebensmittelbeschaffung verbinden." (S. 236) Dem Menschen als natürliches Sein inhärent, bestimmt sich Gewalt also als ein Mittel zum Überleben, als ein Mittel, den Lebensunterhalt zu sichern, als das Mittel für ein Ziel, welches natürlicherweise im Herzen eines jeden lebenden Organismus eingeschrieben steht: überleben. An dieser Stelle wird die Ökonomie der Primitiven als Ökonomie des Raubes identifiziert. Der primitive Mensch ist, sofern er Mensch ist, dem aggressiven Verhalten unterworfen; insofern er primitiv ist, ist er zugleich dazu fähig und entschlossen, seine Natürlichkeit und seine Menschlichkeit (seine ursprüngliche und menschliche Natur / naturalitÉ et humanitÉ) in einer schon damals nützlichen und einträglichen Aggressivität zusammenzufassen, in ein Handwerk zu verwandeln: er ist Jäger.

Lassen wir einmal diese Verbindung gelten. Diese Verbindung zwischen der Gewalt, die im Handwerk der Lebensmittelbeschaffung diszipliniert ist und dem biologisch determinierten Sein des Menschen, dessen Unversehrtheit, dessen Integrität er missionarisch aufrecht zu erhalten hat. Aber wo sitzt nun diese besondere Aggression, die sich in der kriegerischen Gewalt ausdrückt? Leroi-Gourhan erklärt es uns so: "Zwischen der Jagd und ihrer Doublette, dem Krieg, stellt sich allmählich in dem Masse eine feine Angleichung (assimilation) her, in dem sowohl die eine als auch die andere in einer Klasse Mensch verschmilzt, die durch die neue Ökonomie geboren wird, die Klasse der bewaffneten Menschen." (S. 237) Hier lüftet sich also in einem einzigen Satz das Geheimnis über den Ursprung der gesellschaftlichen Teilung: durch "feine Angleichung" (?) werden die Jäger Stück für Stück zu Kriegern, die, als Inhaber der gesellschaftlichen Gewalt, von da an die Mittel besitzen, um zu ihren Gunsten die politische Macht über den Rest der Gemeinschaft auszuüben. Es ist erstaunlich, wie locker dieser Gelehrte, dessen Werk für sein Fach (Vorgeschichte) als exemplarisch anzusehen ist, solche Äusserungen niederschreibt. Mit alldem müsste man sich besonders beschäftigen, aber es ist schon jetzt eindeutig, welche Lehre daraus gezogen werden kann: es ist mehr als unüberlegt, bei der Analyse menschlicher Faktoren von Kontinuierlichkeit auszugehen, das Soziale auf das Natürliche, das Institutionalisierte auf das Biologische zurückzuführen und einzuschränken. Die menschliche Gesellschaft entspringt nicht der Zoologie, sondern der Soziologie.

Kehren wir wieder zum Krieg zurück. Dieser soll also die Bürde seiner Aggressivität von der Jagd ererbt haben - Handwerk der Lebensmittelbeschaffung - und nichts anderes als eine blosse Wiederholung, eine "Doublette " , eine Weiterentwicklung der Jagd sein; prosaischer ausgedrückt: für Leroi-Gourhan ist der Krieg die Jagd auf den Menschen. Stimmt das oder stimmt das nicht? Das ist schwer zu sagen, da es ja genügt, diejenigen selbst zu befragen, von denen Leroi-Gourhan glaubt zu reden: die Primitiven der heutigen Zeit. Was lehren uns die ethnographischen Erfahrungen? Wenn der Zweck der Jagd die Beschaffung der Nahrungsmittel ist, dann ist das Mittel dazu eine Aggression: um das Tier essen zu können, muss man es töten. Aber dann müssen auch alle anderen destruktiven Verhaltensweisen, die einer anderen Lebensweise entsprechen, der Jagd zum Zweck der Lebensmittelbeschaffung zugerechnet werden, nicht nur bei den fleischfressenden Tieren, Fischen und Vögeln, sondern auch bei den insektenfressenden Tieren (das Vöglein ist aggressiv gegen die Mücke, die es runterschluckt etc.). Dementsprechend müssten alle Arten der gewaltsamen Lebensmittelbeschaffung logischerweise in den Terminologien von aggressiven Verhaltensweisen analysiert werden; es gäbe keinen Grund, den menschlichen gegenüber dem tierischen Jäger zu bevorzugen. Wirklich, das, was den primitiven Jäger unter Ausschluss aller anderen Gefühle vorerst treibt und motiviert, ist sein Appetit (der Fall ritueller Jagd, die nicht der Lebensmittelbeschaffung dient, entfaltet sich in einem anderen Bereich). Was den Krieg radikal und von Anfang an von der Jagd unterscheidet, ist das Vorhandensein einer Dimension, die bei der Jagd fehlt und auf der der Krieg gänzlich beruht: die Aggressivität. Und so reicht es nicht, dass ein und derselbe Mensch einen Affen oder einen Menschen töten könnte, um die Jagd und den Krieg miteinander zu identifizieren.

Deswegen kann man sie also nicht aufeinander beziehen: der Krieg ist eine reine Verhaltensweise der Aggression und der Aggressivität. Wenn der Krieg die Jagd ist, dann wäre er also die Jagd auf Menschen; zum Beispiel würde so auch umgekehrt die Jagd auf den Büffel zum Krieg. Sofern nicht unterstellt werden kann, dass der Zweck des Krieges immer der der Ernährung ist und dass das Objekt dieser Aggessionsart der Mensch ist, zum Verzehr bestimmt wie das Wild, insofern ist die Zurückführung des Krieges auf die Jagd ohne Grundlage. Denn wenn der Krieg die "Doublette" der Jagd wäre, dann wäre die allgemeine Menschenfresserei der Endpunkt. Man weiss sehr gut, dass das nicht stimmt: selbst bei den kannibalischen Stämmen ist der Zweck des Krieges nie, die Feinde zu töten, um sie zu verzehren. Weiter: die "Biologisierung" solch einer Tätigkeit wie der des Krieges führt unweigerlich dazu, die eigentlich gesellschaftliche Dimension des Krieges zu verlieren: der besorgniserregende Ansatz von Leroi-Gourhan löst die Soziologie in die Biologie auf, transformiert die Gesellschaft in einen sozialen Organismus und lässt alle Versuche, eine nicht zoologische Diskussion über die Gesellschaft zu führen, schon von vornherein als vergeblich erscheinen. Demgegenüber muss festgestellt werden, dass der Krieg der primitiven Völker nichts mit der Jagd zu tun hat, dass er nicht im Menschen als etwas gattungsspezifisches verwurzelt ist, sondern im sozialen Sein der primitiven Gesellschaft, die deutlich macht, dass die Universalität des Krieges nicht auf die Natur, sondern auf die Kultur verweist.

Der ökonomische Ansatz ist insofern anonym, als er nicht das bestimmte Werk eines bestimmbaren Theoretikers ist, sondern viel eher der Ausdruck einer allgemeinen Überzeugung, einer vagen Gewissheit - der Ausdruck des gesunden Menschenverstandes. Dieser "Ansatz" entstand im 19. Jahrhundert, als man in Europa begann, die Vorstellung von Wildheit und die von Glück voneinander zu trennen, als man, zu Recht oder zu Unrecht, den Glauben verliess, dass das primitive Leben das glückliche sei. Man verkehrte den alten Ansatz in sein Gegenteil: von da an ist die Welt der Wilden, zu Recht oder zu Unrecht, eine Welt des Elends und des Unglücks gewesen. Vor nicht allzu langer Zeit erlangte dieses Volks"Wissen" einen wissenschaftlichen Status innerhalb der sogenannten Geisteswissenschaften, es wurde zur gelehrten Theorie, zur Theorie der Gelehrten: die Begründer der ökonomischen Anthropologie, die diese Gewissheit über das Elend der primitiven Völker für wahr nehmen, sind ganz der grossen Aufgabe gewidmet, dieses Elend zu ergründen und seine Folgen zu entschleiern. Diese Übereinstimmung (convergence) zwischen gesundem Menschenverstand und wissenschaftlicher Diskussion gabar noch eine Botschaft, die von den Ethnologen unaufhörlich verkündet wird: die Wirtschaft der primitiven Völker ist eine Subsistenzwirtschaft, die den Wilden nur das blosse Überleben gestattet. Wenn die Ökonomie dieser Gesellschaften nicht über die erbärmliche Stufe des reinen Überlebens - des Nicht-Sterbens - hinauskommt, dann liegt das, gemäss dem ökonomischen Ansatz, an ihrer technologischen Unterentwicklung und an ihrer Machtlosigkeit einer natürlichen Umwelt gegenüber, die zu beherrschen ihr nicht gelingt. So ist also die Ökonomie der primitiven Völker eine des Elends und auf diesem Boden erwächst der Krieg. Für den ökonomischen Ansatz ist der Krieg der Schwäche der Produktivkräfte geschuldet: der Mangel verfügbarer Güter zieht Konkurrenz zwischen den Gruppen nach sich, weil sie Not dazu treibt, sie sich anzueignen, und dieser Überlebenskampf führt zum bewaffneten konflikt: es gibt nicht genug für alle.

Es muss hier festgehalten werden, dass diese Erklärung des primitiven Krieges für so unhinterfragbar und evident gehalten wird, dass es überhaupt keinen Platz und Raum mehr gibt, sie zu überprüfen.

M.Davie erläutert in dem schon zitierten Aufsatz diesen Standpunkt: "Jede Gruppe muss, abgesehen vom Existenzkampf gegen die Natur, eine Konkurrenz mit allen anderen Gruppen, mit denen sie in Kontakt tritt, aufrechterhalten; es entstehen Rivalitäten und Interessenkollisionen und wenn diese durch Gewalt entarten, nennen wir das einen Krieg." (S. 28) Und weiter: "Krieg wurde folgendermassen definiert: er ist ein gewaltsamer Streit zwischen politischen Gemeinschaften unter der Einwirkung lebensnotwendiger Konkurrenz . . . Also verändert sich Gewicht und Bedeutung des Krieges für eine gegebene Gruppe in direktem Verhältnis zur Intensität ihrer lebensnotwendigen Konkurrenz." (S. 78) Wie man sieht, stellt der Autor in Anlehnung an die Ergebnisse der Ethnographie die Universalität des Krieges in der primitiven Gesellschaft fest: nur die Eskimos von Grönland machen eine Ausnahme und das liegt, so erklärt Davie, an der in hohem Masse feindlichen Umwelt, in der sie leben und die es ihnen nicht erlaubt, ihre Energie anderen Dingen als der Suche nach Nahrungsmitteln zuzuwenden: "In ihrem Fall ist die Zusammenarbeit im Existenzkampf höchstes Gebot." (S. 79) Aber auch die Australier sind in den heissen Wüsten nicht besser angesiedelt als die Eskimos im Schnee und trotzdem sind sie nicht weniger kriegerisch als die anderen Völker. Es muss hier eben noch vermerkt werden, dass diese gelehrte Diskussion, die einfach die volkstümlichen Ansichten über das Elend der primitiven Völker "wissenschaftlich" ausdrückt, volens nolens mit den jüngsten Wandlungen der "marxistischen" Anschauungen über die Gesellschaft übereinstimmt, dem Wissen der marxistischen "Anthropologie" angepasst ist. Den nordamerikanischen Anthropologen ist die marxistische Interpretation über den Krieg bei primitiven Völkern zu verdanken. Schneller als ihre französischen Mitgläubigen sind sie bereit und begierig, die marxistische Wahrheit über Themen wie: die Klassen im afrikanischen Zeitalter, oder: das amerikanische Potlach (Indianerwort/religiöses Fest der nordamerikanischen Indianer und der Melanesen, bei dem Geschenke getauscht werden, (Die Soziologen sehen in diesem Fest eine der primitiven Formen des Vertrags.)), oder: das Verhältnis zwischen Männern und Frauen wo auch immer, zu verbreiten. Solche Forscher wie M. Harris oder D. Gross machen sich nun daran, die Gründe für den Krieg unter den Amazonas-Indianern, insbesondere den Yanomami (4), zu erforschen. Wer von diesen Marxisten eine unvorhergesehene Erleuchtung erwartet hat, wird enttäuscht sein: diese Neuerer sagen nicht mehr aus (und sie denken ohne Zweifel weniger nach) als alle ihre nicht-marxistischen Vorgänger. Wenn bei den südamerikanischen Indianern der Krieg besonders intensiv geführt wird, dann liegt das nach Gross und Harris daran, dass es in ihrer Nahrung zu wenig Proteine gibt, dass es demnach für sie notwendig ist, neue Jagdgründe zu erobern und dass so der bewaffnete Konflikt mit den Besitzern dieser Gebiete unvermeidlich ist. Kurz, hier haben wir wieder die äusserst ältliche These vor uns, die unter anderem von Davie formuliert wurde und die besagt, dass die Wirtschaft der primitiven Völker eine adäquate Versorgung der Gesellschaft nicht ermöglicht (5). Jetzt kann auf einen Punkt hingewiesen werden, der vorher noch nicht entwickelt werden konnte. Wenn der "marxistische" Ansatz (er wurde auch ökonomischer Ansatz genannt) derartig leicht die gesammelten Vorstellungen des gesunden Menschenverstandes aufgenommen hat, dann entweder deswegen, weil dieser gesunde Menschenverstand schon auf seine eigene Art und Weise, aus eigenem Antrieb und spontan marxistisch ist (o heiliger Mao!) oder weil sich dieser Marxismus vom gesunden Menschenverstand durch nichts anderes als diesen recht seltsamen wissenschaftlichen Anspruch unterscheidet.

Aber da ist noch mehr. Der Marxismus ist, insofern er sowohl allgemeine Theorie der Gesellschaft als auch allgemeine Theorie der Geschichte ist, dazu verpflichtet, das Elend der primitiven Wirtschaft, d.h. einen sehr schwachen Ertrag der Produktionstätigkeit, zu postulieren. Warum? Weil die marxistische Geschichtstheorie (und hierbei geht es sogar um die Theorie von Karl Marx) das Gesetz historischer Bewegungen und gesellschaftlicher Veränderung in der unaufhörlichen Entwicklungstendenz der Produktivkräfte entdeckt. Aber damit die Geschichte sich in Marsch setzen kann, damit die Produktivkräfte ihren Aufschwung nehmen können, müssen am Ausgangspunkt dieses Prozesses die gleichen Produktivkräfte nur extrem schwach entwickelt sein, am Beginn in totaler Unterentwicklung existieren: bei diesem Modell liegt der einzige Fehler darin, dass es nicht den geringsten Grund für eine Entwicklung geben würde und dass man so gesellschaftliche Veränderung und Entwicklung der Produktivkräfte nicht bestimmen könnte. Deswegen muss der Marxismus als Geschichtstheorie, die auf der Entwicklungstendenz der Produktivkräfte aufbaut, sich als Ausgangspunkt einer Art Stufe Null der Produktivkraftentwicklung geben: und die findet er in der Ökonomie der primitiven Gesellschaften, die seitdem als eine des Elends gedacht wird, als eine Ökonomie, die sich aus dem Elend losreissen will und dabei sich anstrengt, ihre Produktivkräfte zu entwickeln. Für viele wäre es eine grosse Befriedigung, wenn sie da durchblicken könnten, wenn sie ihn erreichen könnten, diesen Standpunkt der marxistischen Anthropologen: äusserst erfindungsreich, was Ausbeutungsformen in primitiven Gesellschaften anbelangt (Alter/Jugend; Mann/Frau etc.), sind sie weniger redselig, wenn es darum geht, die Lehre die sie verkünden, auch zu begründen. Denn die primitive Gesellschaft stellt an die marxistische Theorie eine höchst entscheidende Frage: wenn nun die Ökonomie nicht den Unterbau bildet, durch den das gesellschaftliche Sein durchschaubar, transparent wird; wenn die Produktivkräfte nun nicht dahin tendieren, sich zu entwickeln, nicht als der bestimmende Faktor der gesellschaftlichen Veränderung fungieren - welches ist dann der Motor, der die Bewegung der Geschichte in Gang setzt, auf den Weg bringt?

Kommen wir wieder auf die Ökonomie der primitiven Völker zurück. Ist sie, ja oder nein, eine Ökonomie des Elends? Stellen ihre Produktivkräfte das mögliche Minimum der Produktivkrafteniwicklung dar - oder nicht? Die neuesten und gewissenhaftesten Untersuchungen der ökonomischen Anthropologie haben erwiesen, dass die Ökonomie der Wilden, oder auch die Hauswirtschaftliche Produktionsweise, in Wirklichkeit eine vollkommene Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Gesellschaft ermöglicht. Und zwar mittels zeitlich begrenzter und nur wenig intensiver Produktionstätigkeit. Mit anderen Worten: weit davon entfernt, sich ohne Unterlass im Überlebenskampf zu erschöpfen, verfügt die primitive Gesellschaft, die sehr wählerisch in ihren Bedürfnissen ist, über eine Produktions"maschine", die dazu fähig ist, sie alle zu befriedigen und die nach dem Prinzip funktioniert: jedem nach seinen Bedürfnissen. Deswegen sprach M. Sahlins von der primitiven Gesellschaft zu Recht wie von einer Überflussgesellschaft. Die Analysen von Sahlins und Lizot über die notwendige Lebensmittelmenge einer Gemeinschaft und über die Zeit, die zu ihrer Beschaffung gebraucht wird, lassen erkennen, dass die primitiven Gesellschaften, ob es sich um nomadisierende Jäger oder sesshafte Ackerbauern handelt, unter dem Gesichtspunkt der kurzen, der Produktion gewidmeten Zeit, in Wirklichkeit wahrhafte Gesellschaften der Musse sind. Sahlins und Lizot entdecken in ihren Arbeiten das ethnographische Material, welches die alten Reisenden und Chronisten geliefert hatten, wieder neu und bestätigen es (6).

Der ökonomische Ansatz erklärt, in seiner volkstümlichen, gelehrten oder auch marxistischen Variante, den Krieg aus der Konkurrenz um die Aneignung der gering vorhandenen Güter. Es wäre schon nicht leicht zu verstehen, woher die Wilden die zusätzliche Energie und Zeit nehmen, um gegen ihre Nachbarn Krieg zu führen, da sie doch andauernd mit der erschöpfenden Suche nach Nahrungsmitteln beschäftigt sind. Ferner zeigen die gegenwärtigen Forschungen, dass die Ökonomie der primitiven Völker eine des Überflusses und nicht des Mangels ist: die Gewalt entspringt folglich nicht dem Elend und die volkswirtschaftliche Erklärungsweise des Krieges bei primitiven Völkern muss dem Zusammensturz ihrer Hauptstütze ins Auge sehen. Gerade die Universalität des Überflusses primitiver Gemeinschaften verbietet es, damit die Universalität des Krieges zu begründen. Warum befinden sich die Stämme im Krieg? Wenigstens wissen wir schon, wofür die "materialistische" Antwort plädiert. Und wenn die Ökonomie nichts mit dem Krieg zu tun hat, dann könnte es wohl nötig sein, den Blick auf die Politik zu lenken (7).

Der Ansatz über den Krieg bei primitiven Völkern, der vom Tausch ausgeht, wird vom soziologischen Ansatz des Claude Levi-Strauss getragen. Auf den ersten Blick erscheint folgende Behauptung paradox: im beachtlichen Werk dieses Autors nimmt der Krieg im grossen und ganzen nur einen geringen Platz ein. Doch sehen wir einmal davon ab, dass die Bedeutung eines Themas sich nicht notwendigerweise am Raum misst, dem man ihm zubilligt. Bei Levi-Strauss ist es nun so, dass die von ihm entwickelte Gesellschaftstheorie, mit Einschränkungen, von seiner Konzeption der Gewalt abhängt: Wenn von dieser Konzeption die Rede ist, dann geht es letztlich um die gesamte strukturalistische Theorie über das gesellschaftliche Sein der Primitiven. Es geht nun darum, zu prüfen, inwieweit diese Konzeption brauchbar ist.

Levi-Strauss behandelt die Frage des Krieges in einem einzigen Text, in dem er das Verhältnis zwischen Krieg und Handel bei südamerikanischen Indianern analysiert (8). In dieser Analyse untersucht er den Krieg im Rahmen gesellschaftlicher Beziehungen: "Bei den Nambikuara, wie ohne Zweifel bei vielen Völkern des vor-kolumbianischen Amerikas, bilden Krieg und Handel derart zusammengehörige Tätigkeiten, dass es nicht möglich ist, sie getrennt zu untersuchen." (S. 136) Und weiter: "... Im Amerika des Südens bilden die kriegerischen Auseinandersetzungen und die wirtschaftlichen Tauschhandlungen nicht nur zwei Typen miteinander zusammenhängender Beziehungen, sondern sie sind vielmehr zwei entgegengesetzte und gleichzeitig untrennbar miteinander verbundene Aspekte ein und desselben gesellschaftlichen Prozesses." (S. 138) Nach LeviStrauss kann man also Krieg nicht für sich allein denken. Er besitzt keine eigenen besonderen Eigenschaften und kann, weit entfernt davon, für sich eine besondere Untersuchung zu beanspruchen, im Gegenteil nur im "Zusammenhang aller Elemente des gesellschaftlichen Ganzen" (S. 138) verstanden werden. Es gibt also in der primitiven Gesellschaft keine Autonomie des Bereichs der Gewalt: Gewalt bekommt nur einen Sinn innerhalb des allgemeinen Beziehungsgeflechts, welches die Gruppen umfasst; sie ist nur ein besonderer Teil des gesamten Systems. Wenn Levi-Strauss damit sagen will, dass der Krieg bei den primitiven Völkern sich im soziologischen Bereich abspielt, dann wird das keiner bezweifeln - ausser Leroi-Gourhan, der ja die kriegerische Tätigkeit in die biologische Ordnung aufgelöst hat. Levi-Strauss lässt es aber nicht bei dieser vagen Verallgemeinerung bewenden: er bringt im Gegenteil eine genaue Vorstellung über die Art und Weise, in der die primitiven Gesellschaften funktionieren, jedenfalls die der amerikanischen Indianer. Die Entschlüsselung dieser Funktionsweise erhält ein ungeheures Gewicht, die sie (die Funktionsweise) die Natur und die Tragweite von Gewalt und Krieg bestimmt, da sie diese in ihrem Sein festlegt. Wie stellt sich für Levi-Strauss das Verhältnis zwischen Krieg und Gesellschaft dar? Die Antwort ist klar und deutlich: "Die kommerziellen Tauschhandlungen sind potentielle Kriege, die auf friedliche Art und Weise schon fest beschlossen sind und die Kriege sind das Ergebnis missglückter Transaktionen." (S. 136) Für Levi-Strauss findet Krieg nicht nur im Bereich des Soziologischen statt, sondern er erhält sein Sein und seine Bedeutung letztendlich in einer besonderen Art und Weise des Funktionierens der primitiven Gesellschaft: die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften (Stämme, Horden, räumlich gebundene Gruppen) sind zuallererst kommerzieller Art, und Erfolg oder Misserfolg dieser Handelsbeziehungen entscheiden über Frieden oder Krieg zwischen den Stämmen. Es geht nicht nur darum, Handel und Krieg im Zusammenhang zu denken, sondern der Handel erhält, im Vergleich zum Krieg, eine soziologische Priorität, die im Herzen des gesellschaftlichen Seins ihren Platz erhält. Fügen wir noch hinzu, dass die Vorstellung einer Verbindung zwischen Krieg und Handel nichts Neues und in Wirklichkeit eine ethnologische Banalität ist und dass sie im gleichen Zusammenhang steckt wie die Überzeugung von den eng begrenzten Möglichkeiten der Ökonomie primitiver Gesellschaften. So beschreibt M. Davie mit genau den gleichen Worten wie Levi-Strauss die innere Beziehung zwischen Krieg und Handel: "Bei den primitiven Völkern ist der Handel oftmals eine Alternative zum Krieg, und die Art und Weise, in der er geführt wird, zeigt, dass er ein modifizierter Krieg ist." (a.a.O., S. 302)

Aber, so könnte man entgegnen, dieser so winzige Ausschnitt stellt nicht die gesamte Gesellschaftstheorie in Frage, die Levi - Strauss unter anderen Gesichtspunkten und in anderen Bereichen in seinen Arbeiten entwickelt hat. Das ist nur allzu richtig. Jedoch sind die theoretischen Schlussfolgerungen dieses so anspruchslosen Textes vollständig im grossen soziologischen Werk von Levi-Strauss (Les Structures ÉlÉmentaires de la parentÉ,) wiederholt und beschliessen eines seiner wichtigsten Kapitel, le Principe de reciprocitÉ : "Es existiert eine Verbindung, es existiert ein Zusammenhang zwischen feindschaftlichen Beziehungen und der wechselseitigen Belieferung: die Tauschhandlungen sind Kriege, die auf friedliche Art und Weise beschlossen werden, die Kriege sind das Ergebnis missglückter Transaktionen." (9) Ein wenig später; aber noch auf der gleichen Seite, gibt Levi-Strauss den Gedanken an kommerziellen Handel auf - und zwar ohne Kommentar. Er beschreibt jetzt den Tausch von Geschenken zwischen fremden Indianergruppen und ist darum bemüht, seine Nachlässigkeit in Bezug auf den Handel wiedergutzumachen: "Es handelt sich folglich um gegenseitige Geschenke und nicht um kommerzielle Unternehmungen." Untersuchen wir das.

Die Beharrlichkeit, mit der Levi-Strauss gegenseitige Geschenke von kommerziellen Unternehmungen unterscheidet, ist durchaus legitim. Dadurch wird er aber nicht der Aufgabe enthoben, zu erklären, warum er schnell einen Umweg durch die ökonomische Anthropologie gemacht hat. Da das materielle Leben der primitiven Gesellschaften sich auf der Basis des Überflusses entwickelt, weist die Hauswirtschaftliche Produktionsweise unter anderem ein wesentliches Merkmal auf (welches von Sahlins hervorgehoben wurde): sie untersteht dem Ideal der Autarkie: jede Gemeinschaft trachtet danach, alles zur Erhaltung ihrer Mitglieder Notwendige selbst zu produzieren. Die Ökonomie der primitiven Gesellschaften ist darauf ausgerichtet, sie geschlossen zu halten. Und weiter: im Ideal der ökonomischen Autarkie steckt noch ein anderes, dessen Mittel ist: das Ideal der politischen Unabhängigkeit. Indem die primitive Gesellschaft (Dorf, Horde etc. ) beschliesst, von nichts anderem als von sich selbst abhängig zu sein, schliesst sie dadurch die Notwendigkeit ökonomischer Beziehungen mit benachbarten Gruppen ebenfalls aus. Nicht aus der Not heraus entstehen also die "internationalen" Beziehungen in der primitiven Gesellschaft, die ja gerade fähig ist, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dazu gezwungen zu sein, um den Beistand anderer zu bitten: man produziert alles, was man braucht (Lebensmittel und Werkzeuge), man ist in der Lage, andere entbehren zu können. Das autarke Ideal ist also ein antikommerzielles Ideal. Vollkommen als Ideal ist es nicht immer und überall verwirklicht. Aber man kann von den Wilden sagen, dass sie, wenn es die Umstände erfordern, ohne andere auskommen können.

Gerade weil die hauswirtschaftliche Produktionsweise Handelsbeziehungen ignoriert, versucht sie, unter Ausschluss zu funktionieren: ihrem Sein nach lehnt die primitive Gesellschaften das dem Handel immanente Risiko ab, von ihrer Autonomie entfremdet zu werden, ihre Freiheit zu verlieren. Deswegen hütet sich der Levi-Strauss der Structures auch mit Recht davor, das zu wiederholen, was er in Guerre et commerce geschrieben hat . . . Wenn man von ihm trotzdem etwas über den Krieg bei primitiven Völkern lernen will, dann muss man es vermeiden, den Krieg einem Handel zuzuschreiben, der nicht existiert.

Folglich ist es nicht mehr der Handel, der dem Krieg einen Sinn gibt, sondern der Tausch. Die Deutung des Krieges hängt also ab von der Gesellschaftskonzeption, die vom Tausch ausgeht, darin ein Zusammenhang zwischen Krieg ("Ergebnis missglückter Transaktionen") und Tausch ("friedlich beschlossene Kriege") behauptet wird. Aber auch in der Theorie, die vom Tausch ausgeht, wird der Krieg, wie in der ersten Fassung der Gewalttheorie von Levi-Strauss, als ein möglicher, aber nicht erfolgter Tausch angesehen. Ansonsten erhält der Tausch die gleiche Priorität wie der Handel. Krieg ist also als ein Missratener Tausch zu denken. Der Krieg als solcher besitzt keinerlei Positivität , in ihm drückt sich nicht das gesellschaftliche Sein der primitiven Gesellschaft aus, sondern nur die Nicht-Verwirklichung dieses Seins, welches ein Sein für-den-Tausch ist: der Krieg, das ist die Negation, das ist das Negativ der primitiven Gesellschaft, insofern er der bevorzugte Ort des Tausches ist, im gleichen Masse wie der Tausch das eigentliche Wesen der primitiven Gesellschaft ist. Nach dieser Konzeption wäre Krieg, als ins Schleudern gekommener Tausch, das Nicht-Wesen, das Nicht-Sein der primitiven Gesellschaft. Er ist demzufolge ein Zusatz, eine Nebensache im Vergleich zur Hauptsache. Das, wonach die primitive Gesellschaft strebt, ist der Tausch: er ist ihre soziologische Bestimmung, die sie zu verwirklichen sucht, sie auch fast immer verwirklichen kann, ausser dann, wenn ein Unfall geschieht. Dann entstehen Gewalt und Krieg.

Die Logik dieser Konzeption führt zu einer Schein Auflösung des kriegerischen Phänomens. Der Krieg, jeglicher Positivität entkleidet durch die Priorität des Tauschs, verliert jede institutionelle Dimension . Er gehört nicht zum Sein der primitiven Gesellschaft, er ist nur eine zufällige, gefährliche aber unwesentliche Eigentümlichkeit von ihr. Die primitive Gesellschaft kann ohne Krieg gedacht werden. Dieser Ansatz, der vom Tausch ausgeht, der in der allgemeinen Theorie von Levi-Strauss über die primitive Gesellschaft enthalten ist, trägt den ethnographischen Angaben nicht Rechnung: dass nämlich der Krieg in den untersuchten Gesellschaften ein fast universelles Phänomen ist, sei er nun als ihre natürliche Umwelt oder als sozio-ökonomische Organisationsweise beschrieben; dass es eine, natürlich unterschiedliche, Intensität kriegerischer Aktivitäten gibt. Die Konzeption, die vom Tausch ausgeht, und ihr Objekt, der Krieg, schliessen sich gewissermassen gegenseitig aus. Die Wirklichkeit der primitiven Gesellschaft überflutet die theoretische Diskussion von Levi-Strauss. Nicht weil er nachlässig oder ignorant ist, sondern weil es unmöglich ist, den Krieg zu verstehen mit einer Gesellschaftsanalyse, die darauf angelegt ist, die soziologischen Funktionen des Krieges in der primitiven Gesellschaft auszuschliessen.

Ist es jetzt so, dass man nur dann alle Dimensionen der Wirklichkeit primitiver Gesellschaften erfassen kann, wenn man die Vorstellung von ihr als Tauschgesellschaft aufgibt? Keineswegs. Das ist in der Tat keine Alternative: entweder Tausch oder Gewalt. Der Tausch als solcher ist kein Widerspruch zum Krieg, sondern der Ansatz, der das gesellschaftliche Sein der primitiven Gesellschaft ausschliesslich vom Tausch abhängig macht. Innerhalb der primitiven Gesellschaft entfaltet sich sowohl der Tausch als auch die Gewalt: der Krieg gehört zu gleichen Teilen zum primitiv-gesellschaftlichen Sein wie der Tausch. Man kann die primitive Gesellschaft nicht denken, und darum wird es sich im folgenden drehen, ohne gleichzeitig den Krieg zu denken. Für Hobbes war die primitive Gesellschaft der Ort des Krieges jeder gegen jeden. Der Ansatzpunkt von Levi-Strauss steht dem von Hobbes umgekehrt symmetrisch gegenüber: für ihn ist die primitive Gesellschaft der Ort des Tausches jeder mit jedem. Bei Hobbes fehlte der Tausch, bei Levi-Strauss fehlt der Krieg.

Aber geht es eigentlich darum, einfach den Ansatz, der vom Tausch ausgeht neben den Ansatz, der vom Krieg ausgeht, zu stellen? Lässt denn die Rehabilitation des Krieges als wesentliche Dimension der primitiven Gesellschaft die Vorstellung vom Tausch als Wesen der Gesellschaft unberührt? Offensichtlich ist das nicht möglich: sich über den Krieg zu irren, heisst, sich über die Gesellschaft zu irren. Woher kommt nun der Irrtum von Levi-Strauss? Durch eine Verwechslung der soziologischen Ebenen, auf denen Krieg bzw. Tausch stattfinden. Wenn man sie auf eine Ebene stellen will, dann ist man fatalerweise dazu gezwungen, das eine oder das andere auszuschliessen und verstümmelt so die primitiv -gesellschaftliche Wirklichkeit.

Krieg und Tausch sind also nicht als ein Zusammenhang zu denken, innerhalb dessen mit Abstufungen vom einen zu anderen übergegangen werden kann, sondern als eine grundsätzliche Diskontinuität, die allein die Wahrheit über die primitive Gesellschaft vermitteln kann.

Man hat oft geschrieben, dass die extreme Zerstückelung, die überall bei den primitiven Gesellschaften zu beobachten ist, für die häufige Wiederkehr von Kriegen verantwortlich ist. Das hat man in eine mechanische Reihenfolge gebracht und als allgemeinen Entstehungsgrund für den Krieg ausgegeben: Lebensmittelknappheit - lebensnotwendige Konkurrenz - Isolation der Gruppen. Es gibt nun eine tiefgreifende Beziehung zwischen der Vielfältigkeit der soziopolitischen Einheiten und der Gewalt. Aber die kann man nicht verstehen, wenn man sie mit ihrer gewohnheitsmässigen Darstellung verwechselt: der Krieg ist nicht das Ergebnis der Zerstückelung sondern die Zerstückelung ist das Ergebnis des Krieges. Sie ist nicht nur das Ergebnis, sondern der Zweck: der Krieg ist zugleich Ursache und Mittel eines Ergebnisses und eines gesuchten, eines gewollten Zieles: der Zerstückelung der primitiven Gesellschaft. Das primitiv-gesellschaftliche Sein will die Zerstreuung, dieser Wille zur Aufteilung gehört zum primitiv-gesellschaftlichen Sein, welches sich als solches in und durch die Verwirklichung dieses soziologischen Willens institutionalisiert. Der Krieg in den primitiven Gesellschaften ist also ein Mittel für ein politisches Ziel. Die Frage nach dem Krieg fragt also letztendlich nach dem Sein ihrer Gesellschaft als solcher.

Jede einzelne primitive Gesellschaft besitzt gleichermassen und vollständig die wesentlichen Eigentümlichkeiten dieser Gesellschaftsformation. In der primitiven Gemeinschaft findet sie ihren konkreten Ausdruck. Diese wird durch eine Gesamtheit von Einzelwesen gebildet, von denen ein jedes seine Zugehörigkeit zu dieser Gesamtheit genau kennt und beansprucht. Diese Gemeinschaft als Gesamtheit geht über die verschiedenen Einheiten hinaus, aus der sie besteht. Die einzelnen Einheiten nun bestehen hauptsächlich aus Verwandtschaftszusammenhängen: aus umfangreichen Grundfamilien; aus Geschlechterformationen; aus Clans (Stamm, der aus einer gewissen Anzahl Familien besteht oder auch: Stamm, dessen Mitglieder alle unter einem Totem stehen); aus Zusammenschlüssen von Frauen (moities) etc. , aber z.B. auch militärischen Gemeinschaften, zeremoniellen Brüderschaften, aus dem Stand der Alten etc. Die Gemeinschaft ist also mehr als die Summe der Gruppen, aus denen sie sich zusammengesetzt und dieses Mehr bestimmt sie zur eigentlichen politischen Einheit. Die Politische Einheit der Gemeinschaft ist unmittelbar räumlich durch die Wohneinheit bestimmt: diejenigen, die derselben Gemeinschaft angehören, leben am selben Ort. Es gibt Vorschriften für den Wohnort. Nach der Eheschliessung, muss der Einzelne seine Ursprungsgemeinschaft verlassen, um sich der seines Ehegatten anzuschliessen; aber dieser neue Wohnsitz hebt nicht die Zugehörigkeit zum alten auf. Wenn die primitiven Gesellschaften die Regelungen für zu mühsam und zu kompliziert halten, erfinden sie zahlreiche Mittel, um sie umzuändern.

Die primitive Gemeinschaft besteht also aus der örtlich gebundenen Gruppe. Diese Bestimmung ist zentraler und wichtiger als die Mannigfaltigkeit der ökonomischen Produktionsweisen. Diese Mannigfaltigkeit hat nichts zu tun mit dem feststehenden oder unbeständigen Wohnsitz der Gemeinschaft. Die örtlich gebundene Gruppe kann sowohl durch umherziehende Jäger als auch durch sesshafte Ackerbauern gebildet werden; sowohl die Horde umherziehender Jäger-Sammler als auch die im Dorf lebenden Gärtner besitzen die soziologischen Eigentümlichkeiten der primitiven Gemeinschaft. Diese bezieht sich, insofern sie politische Einheit ist, nicht nur auf den einen homogenen Raum ihres Wohnsitzes, sondern ihre Kontrolle, ihre charakteristischen Zeichen und ihr Recht dehnen sich über ein Gebiet aus - ein Territorium. Erscheint das bei Jägern selbstverständlich, so gilt das auch für Ackerbauern, die jenseits ihrer Anpflanzungen ein wildes Gebiet benutzen, in dem sie jagen und nützliche Pflanzen sammeln: natürlich hat die Horde umherziehender Jäger mehr Möglichkeiten, ihr Territorium auszudehnen, als die Ackerbauern im Dorf. Die Örtlichkeit der örtlich gebundenen Gruppe besteht also aus ihrem Territorium, welches einmal die natürliche Quelle aller lebensnotwendigen Dinge ist, aber darüber hinaus auch den ausschliesslichen und ausschliessenden Raum darstellt, in dem die Gemeinschaft ihr Recht ausübt. Die Ausschliesslichkeit, mit der dieser Raum genutzt wird, impliziert eine Handlung des Ausschliessens, und in dieser erscheint die eigentlich politische Dimension der primitiven Gemeinschaft, die sich im wesentlichen auf das Territorium bezieht: die Existenz des Anderen ist in dem es ausschliessenden Akt schon von Anfang an vorausgesetzt. Jede Gemeinschaft sichert ihr exklusives Recht auf ein bestimmtes Territorium und auf diese Weise sind die politischen Beziehungen mit den benachbarten Gruppen schon unmittelbar gegeben. Diese Beziehungen entstehen auf der politischen und nicht auf der ökonomischen Ebene. Wiederholen wir: die Hauswirtschaftliche Produktionsweise enthält in dem, was sie ist, für keine örtlich gebundene Gruppe die Notwendigkeit, in das Territorium einer benachbarten Gruppe einzudringen, um sich dort zu versorgen.

Die Territorialherrschaft erlaubt es der Gemeinschaft, ihr autarkes Ideal zu verwirklichen, denn sie garantiert die Selbstversorgung mit Lebensmitteln: so sind die primitiven Gemeinschaften von niemandem abhängig, sie sind unabhängig. Demnach müsste doch, unter der Voraussetzung, dass dies für alle örtlich gebundenen Gruppen gleichermassen zutrifft, Gewalt allgemein nicht vorhanden sein: nur in den seltenen Fällen von Gebietsüberschreitungen dürfte sie auftauchen und sie müsste nur defensiver Natur sein - im Grunde also niemals in Erscheinung treten: denn jede Gruppe verlässt sich auf ihr eigenes Territorium und hat keinen Grund, es zu verlassen. Aber wir wissen, dass der Krieg allgemein verbreitet und sehr offensiv ist. Die Verteidigung des Territoriums kann also nicht der Grund für den Krieg sein; der Zusammenhang zwischen Krieg und Gesellschaft ist noch immer nicht erhellt. Woraus besteht das Sein der primitiven Gesellschaft, insofern sie gleichbedeutend ist mit der unendlichen Anzahl von Gemeinschaften, Horden, Dörfern oder lokal gebundenen Gruppen? Seitdem sich das Abendland für die Welt der Wilden interessiert, ist die Antwort schon wie auf einem Tablett in der gesamten ethnographischen Literatur serviert. Das Sein der primitiven Gesellschaft wurde schon immer als ein vollkommen unterschiedenes im Vergleich mit dem Sein der abendländischen Gesellschaft aufgefasst, als der fremde und in seiner Entrückung undenkbare Ort - entrückt von allem, was das sozio-kulturelle Universum der Beobachter ausmacht und bestimmt: Welt ohne Hierarchie, Untertanen, die niemandem gehorchen, Gesellschaften, gleichgültig gegenüber Besitz und Reichtum, Häuptlinge, die nicht zu befehlen haben, Kulturen ohne Moral, denn sie kennen die Sünde nicht, Gesellschaften ohne Klassen, ohne Staat etc. Kurzum: das, was in den Schriften der alten Reisenden und der modernen Gelehrten unaufhörlich hinausgeschrien wird, ohne dass es ausgesprochen wird, ist folgendes: die primitive Gesellschaft ist in ihrem Sein ungeteilt.

Sie kennt - weil sie diese Erscheinungen verhindert - nicht den Unterschied zwischen reich und arm, den Widerspruch zwischen Ausbeutet und Ausgebeutetem, die Herrschaft des Häuptlings über die Gesellschaft. Die Hauswirtschaftliche Produktionsweise, die der primitiven Gemeinschaft als solche Autarkie sichert, erlaubt auch die Autonomie der Verwandtschaftsgruppen, aus denen sich die soziale Gesamtheit zusammensetzt, sie erlaubt selbst die Unabhängigkeit des Einzelnen. Ausser der Arbeitsteilung, die durch den Geschlechtsunterschied hervorgerufen wird, gibt es in der primitiven Gesellschaft keinerlei Arbeitsteilung: jeder ist gewissermassen vielwertig. Die Männer können alles machen, was Männer machen müssen, alle Frauen können alle Arbeiten machen, die alle Frauen machen müssen.

Innerhalb der Rangordnung von Wissen und Geschicklichkeit hat kein Einzelner eine untergeordnete Stellung, die es notwendig machen würde, seine Fähigkeiten einem Begabteren oder Glücklicheren anzubieten: die Verwandtschaft des "Opfers" Handwerk legen. Schon immer haben die Ethnologen die Gleichgültigkeit der Wilden ihren Gütern und Reichtümern gegenüber (die sie auf leichte Art und Weise wieder herstellen, sobald sie verbraucht oder zerbrochen sind) mit Eifer hervorgehoben. Ebenso, dass jeglicher Wunsch nach Akkumulation zu fehlen scheint. Warum sollte ein solcher Wunsch entstehen? Die Produktionstätigkeit ist genau an der Befriedigung der Bedürfnisse bemessen und geht nicht darüber hinaus: die Produktion eines Überschusses ist in der Ökonomie der primitiven Gemeinschaften ganz und gar unmöglich. Sie auch ganz und gar unnütz: was sollte man damit machen? Und dann wäre die Akkumulationstätigkeit (einen unnützen Überschuss produzieren) in diesem Gesellschaftstyp ein vollständig individuelles Unterfangen: der "Unternehmer" könnte auf nichts als auf seine eigenen Kräfte bauen, denn die Ausbeutung anderer ist gemäss der Logik dieser Gesellschaften unmöglich. Stellen wir uns nichtsdestotrotz vor, dass es, obwohl er mit seinen Bemühungen allein steht, dem wilden Unternehmer gelingt, im Schweisse seines Angesichts einen Vorratsbestand an Lebensmitteln aufzubauen, mit dem er, rufen wir es uns nochmals ins Gedächtnis, nichts anzufangen weiss, weil es ein Überschuss ist. Das heisst: eine nicht notwendige Gütermenge, da diese nicht mehr der der Befriedigung der Bedürfnissse dient Was wird passieren? Die Gemeinschaft wird ihm einfach dabei helfen, diese unnützen Lebensmittel zu verbrauchen: dem Mann der durch die Kraft seiner eigenen Hände "reich" wurde, wird sein Reichtum im Nu zwischen den Händen zerrinnen oder in die Magen seiner Nachbarn wandern. So würde der Wunsch nach Akkumulation auf das Phänomen der Selbstausbeutung hinauslaufen. Und auf die Ausbeutung des Reichen durch die Gemeinschaft. Die Wilden sind klug genug, um sich nicht auf solch eine Torheit einzulassen. Die primitive Gesellschaft funktioniert in solcher einer Art und Weise, dass in ihr Ungleichheit, Ausbeutung und Teilung nicht möglich sind.

Wenn man die primitive Gesellschaft in ihrer wirklichen Existenzgrundlage erfasst - die örtlich gebundene Gruppe - dann weist sie zwei wesentliche soziologische Eigentümlichkeiten auf, die ihr eigenes Sein betreffen, dieses gesellschaftliche Sein welches den Grund und das Prinzip des Krieges bestimmt und verständlich macht. Die primitive Gesellschaft ist zugleich Totalität und Einheit . Totalität, weil sie eine vollendete, autonome vollständige Gesamtheit ist, die unaufhörlich darauf bedacht ist, ihre Autonomie zu wahren. Gesellschaftlich im eigentlichen Sinn des Wortes. Einheit, weil ihr homogenes Sein danach trachtet, gesellschaftliche Teilung abzulehnen, Ungleichheit auszuschliessen und Entfremdung zu verbannen. Die primitive Gesellschaft ist ungeteilte Totalität, weil ihr das Prinzip ihrer Einheit nichts Äusserliches ist: sie lässt es nicht zu, dass irgendjemand dieses Eine verkörpert und sich dadurch von der gesellschaftlichen Gesamtheit lostrennt, um sie zu repräsentieren, um sie als Einheit zu verkörpern. Deswegen ist das Kriterium der Unteilbarkeit so grundsätzlich politisch: wenn der Häuptling der Wilden ohne Macht ist, dann liegt das daran, dass die Gesellschaft es nicht zulässt, dass sich die Macht von ihrem Sein trennt, dass eine Teilung zwischen dem, der befiehlt, und denen, die gehorchen, entsteht. Deswegen spricht der Häuptling in der primitiven Gesellschaft im Namen der Gesellschaft: der Häuptling drückt in seiner Rede niemals seine eigenen Wunschvorstellengen aus oder gibt sie als sein privates Gesetz heraus, sondern er äussert nur den soziologischen Wunsch der ungeteilt gebliebenen Gesellschaft und spricht den Text eines Gesetzes, das niemand aufgeschrieben und festgelegt hat, weil es nicht aus menschlichem Beschluss kommt. Der Gesetzgeber ist gleichzeitig auch Gründer der Gesellschaft: es sind die mythischen Ahnen, die Helden der Kultur, die Götter. Der Häuptling ist nur das Sprachrohr dieses Gesetzes: der Hauptinhalt seiner Reden besteht immer aus der Referenz vor dem Gesetz der Ahnen, welches niemand übertreten kann, weil es das Sein der Gesellschaft ist: dieses Gesetz zu übertreten hiesse, den gesellschaftlichen Körper zu verändern, Neuerungen und Veränderungen einzuführen, was dieser aber ganz und gar von sich weisen würde.

Die primitive Gemeinschaft ist diejenige Gemeinschaft, die sich unter dem Zeichen des Gesetzes, welches ihre Unteilbarkeit garantiert, die Herrschaft über ihr Territorium sichert. Dieser territoriale Aspekt beinhaltet schon , insofern er Ausschliessung des Anderen ist, politische Bande. Das Andere - die benachbarten Gruppen - ist eben wie ein Spiegel, in dem die Gemeinschaft ihr eigenes Bild sieht, ein Spiegel, der ihr das Bild ihrer eigenen Einheit und Totalität entgegenwirft. Angesichts der benachbarten Gemeinschaften oder Horden kann sich die eine bestimmte Gemeinschaft als das absolut Unterschiedene setzen und denken, als die unreduzierte Freiheit als der Wille, ihr Sein als ungeteilte Totalität zu behaupten. Hier erscheint also die primitive Gesellschaft konkret: sie Besteht aus einer Vielfältigkeit getrennter Gemeinschaften, die alle für die Unversehrtheit (intÉgritÉ) ihres Territoriums sorgen, eine Anzahl Neo-Nomaden die alle im Gesicht der anderen ihre Unterschiedenheit bestätigen. Jede Gemeinschaft kann sich, insofern sie ungeteilt ist, als ein WIR denken, Dieses WIR, betrachtet sich nun seinerseits als eine Totalität in Bezug auf entsprechende andere WIRs mit denen es gleichberechtigte Beziehungen unterhält. Das sind die anderen Dörfer, Stämme oder Horden Die primitive Gemeinschaft kann sich als Totalität setzen, weil sie sich als Einheit konstruiert: sie ist ein vollendetes Ganze, weil sie ein ungeteiltes WIR ist.

Wir stellen fest: auf dieser Stufe der Analyse kann als das Hauptmerkmal der primitiven Organisation die blosse Statik, die vollkommene Trägheit, das Fehlen jeglicher Bewegung angesehen werden. So könnte in der Tat das Gesamtsystem nur unter dem Gesichtspunkt blosser Wiederholung funktionieren, da das Auftauchen von Gegensätzen oder Konflikten unmöglich gemacht ist. Aber die ethnographische Wirklichkeit lehrt uns das Gegenteil: weit davon entfernt bewegungslos zu sein, ist das System der primitiven Gesellschaft in ständiger Bewegung, es ist nicht statisch, sondern dynamisch und die primitive Monade weit davon entfernt, sich in sich selbst einzuschliessen, öffnet sich im Gegenteil den anderen gegenüber in der äussersten Intensität: der kriegerischen Gewalt.

Wie kann also jetzt das System und der Krieg zugleich gedacht werden? Ist der Krieg das durch gelegentliche Unfälle ins Schleudern gekommene System oder könnte das System ohne Krieg gar nicht funktionieren? Ist der Krieg nicht vielleicht eine Existenzbedingung des primitiv-gesellschaftlichen Seins? Ist er nicht vielleicht eine Bedingung für das Leben der primitiven Gesellschaft und keine Todesdrohung?

Eines ist klar: die Möglichkeit zum Krieg ist im Sein der primitiven Gesellschaft verankert. Es braucht in der Tat nicht viel dazu, dass er ausbricht. Der Wille jeder Gemeinschaft ihre Unterschiedenheit zu behaupten, bietet genug Spannung. Der geringste Zwischenfall kann schnell die gewollte Unterschiedenheit in einen wirklichen Streit verwandeln. Verletzung des Territoriums, vermutete Aggression benachbarter Schamanen: es braucht nicht viel, damit der Krieg ausbricht. Es existiert also ein labiles Gleichgewicht: Krieg und bewaffnete Auseinandersetzungen sind hier unmittelbar präsent. Könnte man sich also vorstellen, dass diese Möglichkeit niemals wirklich wird und dass anstelle des Krieges jeder gegen jeden, wie Hobbes ihn sich denkt, der Tausch jeder mit jedem stattfindet, so wie ihn sich Levi-Strauss vorstellt?

Stellen wir also erst einmal die Hypothese allgemeiner Freundschaft auf. Sehr schnell muss man erkennen, dass diese aus den verschiedensten Gründen nicht möglich ist. Da ist zuerst die grosse räumliche Zerstreuung der einzelnen Gemeinschaften. Unter ihnen besteht - im wörtlichen und übertragenen Sinn - eine bestimmte Distanz. Zwischen jeder Horde und jedem Dorf dehnt sich das dazugehörige Gebiet aus, welches jeder Gruppe erlaubt auf ihrem eigenen Territorium zu bleiben. In so grosser Entfernung gedeiht Freundschaft schlecht. Sie wird leicht mit den unmittelbaren Nachbarn unterhalten, die man zu Festen einladen kann von denen man Einladungen annehmen kann, die man besuchen kann. Mit entfernter gelegenen Gruppen können diese Art Beziehungen nicht entstehen.Der primitiven Gemeinschaft widerstrebt es sich weit und für lange Zeit von ihrem bekannten Territorium zu entfernen: sobald sie nicht "bei sich" sind empfinden die Wilden meistens zu Recht sehr starke und lebendige Gefühle von Misstrauen und Furcht. Freundschaftliche Tauschbeziehungen entwickeln sich also nur zwischen nahe beieinander gelegenen Gruppen. Entfernter gelegene Gruppen sind davon aus geschlossen: im besten Fall sind sie die Fremden.

Die Hypothese allgemeiner Freundschaft steht des weiteren im Widerspruch zu dem tiefliegenden, jeder Gemeinschaft wesentlichen Bedürfnis, sein Sein als ungeteilte Totalität aufrechtzuerhalten und zu entfalten, das ist seine unreduzierbare, nicht einschränkbare Unterschiedenheit allen anderen Gruppen gegenüber. Das bezieht sich sowohl auf die nachbarlichen Freunde als auch auf die Verbündeten. Die Logik der primitiven Gesellschaft steht im Gegensatz zur Logik des allgemeinen Tauschs, die eine Logik der Übereinstimmung und der Identifikation ist.

Aber das lehnt die primitive Gesellschaft vor allem anderen ab: sie lehnt es ab, sich mit anderen zu identifizieren, das zu verlieren, was sie als solche konstituiert - nämlich ihr eigenes Sein und seine Unterschiedenheit, die Fähigkeit (capacitÉ), sich als autonomes WIR zu denken. Durch die Identifikation aller mit allen, die der allgemeine Tausch und die Freundschaft aller mit allen nach sich ziehen würde, würde jede Gemeinschaft ihre Eigenart (individualitÉ) verlieren. Der Tausch aller mit allen würde die Zerstörung der primitiven Gesellschaft bedeuten: die Identifikation ist ein Schritt zum Tod, das primitiv-gesellschaftliche Sein ist eine Bejahung des Lebens. Die Logik der Übereinstimmung würde einer Art Gleichmacherei Platz machen, deren Oberbegriff die Freundschaft aller mit allen wäre: "Wir sind alle gleich!" Die Vereinheitlichung der Vielfältigkeit der einzelnen WIRs unter ein META-WIR, die Unterdrückung der Unterschiedenheit jeder autonomen Gemeinschaft, die Abschaffung der Unterscheidung zwischen WIR und dem anderen: das würde das Verschwinden der primitiven Gesellschaft als solcher bedeuten. Hierbei dreht es sich nicht um eine Psychologie der Primitiven, sondern um eine soziologische Logik: in der primitiven Gesellschaft existiert eine zentrifugale Logik der Zerbröselung, der Zerstreuung, der Spaltung. Die braucht jede Gemeinschaft, um sich als solche denken zu können (als ungeteilte Totalität). Sie braucht eine entgegengesetzte Gestalt des Fremden oder des Feindes. So ist also die Möglichkeit von Gewalt schon von Anfang an im primitiv-gesellschaftlichen Sein verankert: der Krieg ist eine Struktur der primitiven Gesellschaft und kein Ergebnis eines zufällig gescheiterten Tauschs. Diesem strukturellen Status der Gewalt entspricht die Universalität des Krieges in der Welt der Wilden.

Die primitive Gesellschaft funktioniert gemäss dieser Struktur und deswegen sind in ihr auch allgemeine Freundschaft und allgemeiner Tausch unmöglich. Muss also Hobbes Recht gegeben werden? Muss man von der Unmöglichkeit der Freundschaft aller mit allen auf den Krieg jeder gegen jeden schliessen? Stellen wir nun die Hypothese jeder gegen jeden schliessen. Stellen wir Hypothese der allgemeinen Feindschaft auf. Jede Gemeinschaft steht also allen anderen feindlich gegenüber, die Kriegsmaschine funktioniert auf vollen Touren, die Gesamtgesellschaft setzt sich nur noch aus Feinden zusammen, die sich gegenseitig zerstören wollen. Wie man weiss, hinterlässt jeder Krieg einen Sieger und einen Besiegten. Was wäre jetzt das Endergebnis des Krieges aller gegen alle? Er wurde die Art politischer Verhältnisse mit sich bringen, die die Primitive Gesellschaft gerade verhindern will. Der Krieg aller gegen alle würde dazu führen dass Herrschaftsverhältnisse entstehen und sich festsetzen, dass der Sieger Macht über die Besiegten ausüben könnte. Dann würde eine neue soziale Gestalt sichtbar werden: das Verhältnis Befehlsgewalt - Gehorsam, das die politische Teilung der Gesellschaft in Herren und Knechte beinhalten würde. Das wäre mit anderen Worten, der Tod der primitiven Gesellschaft, da diese ja ungeteilter Körper ist und sein will. Der allgemeine Krieg würde infolgedessen zu genau dem gleichen Ergebnis führen, wie die allgemeine Freundschaft: der Negation des primitiv-gesellschaftlichen Seins. Im Falle der Freundschaft aller mit allen würde die Gemeinschaft durch die Auflösung ihrer Unterschiedenheit, ihre Eigentümlichkeit als autonome Totalität verlieren. Im Fall des Krieges aller mit allen würde sie, durch den Einbruch gesellschaftlicher Teilung, ihren Charakter als homogene Einheit verlieren: die Primitive Gesellschaft ist in ihrem Sein ungeteilte Totalität. Sie kann nicht im universellen Frieden existieren, der sie ihrer Freiheit entfremdet, aber auch nicht im allgemeinen Krieg, der ihre Gleichheit in sich und untereinander aufhebt. Bei den Wilden ist es weder möglich, Freund von allen, noch Feind von allen zu sein.

Weil der Krieg, genauso wie der Tausch dem Wesen der primitiven Gesellschaft angehört, ist er eine ihrer Strukturen. Heisst das, dass das Primitiv-gesellschaftliche Sein eine Art Zusammensetzung aus zwei heterogenen Elementen ist - ein bisschen Krieg, ein bisschen Tausch - und dass das Ideal der primitiven Gesellschaft darin besteht, das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Bestandteilen aufrechtzuerhalten? Eine Art Mittelweg zwischen diesen entgegengesetzten, wenn nicht widersprüchlichen Faktoren zu suchen?

Darauf würden die Vorstellungen von Levi-Strauss hinauslaufen. Dass nämlich der Krieg und der Tausch sich auf der gleichen Ebene entwickeln und dass das eine immer die Grenze und die Infragestellung des anderen bedeutet. Von dieser Perspektive aus würde der allgemeine Tausch den Krieg und gleichzeitig die Primitive Gesellschaft eliminieren, wohingegen der allgemeine Krieg den Tausch mit dem gleichen Endeffekt unterdrücken würde. Das primitiv-gesellschaftliche Sein braucht also gleichzeitig den Krieg und den Tausch, um zugleich den zentralen Punkt der Autonomie und der Unteilbarkeit miteinander verbinden zu können Auf diese doppelte Erfordernis beziehen sich die Funktionen von Tausch und Krieg, die sich auf unterschiedlicher Ebene entfalten.

Da der Krieg aller gegen alle unmöglich ist, klassifiziert eine bestimmte Gemeinschaft die sie umgebenden Völker: die anderen werden sofort in Freunde und Feinde eingeteilt. Mit den ersten wird man versuchen Bündnisse zu schliessen, mit den zweiten wird man das Risiko eines Krieges eingehen - oder es sogar suchen. Man würde sich täuschen, wenn man nichts anderes im Gedächtnis behält als die Beschreibung einer ganz und gar allgemeinen und banalen Situation der primitiven Gesellschaft. Denn jetzt muss unbedingt nach dem Bündnis gefragt werden: warum braucht eine primitive Gemeinschaft Verbündete? Die Antwort liegt auf der Hand: weil sie Feinde hat. Um auf militärische Unterstützung von Verbündeten, ja nur auf ihre Neutralität verzichten zu können, müsste sie sich ihrer Kraft und eines wiederholbaren Sieges sehr sicher sein. Aber das ist niemals der Fall: eine Gemeinschaft stürzt sich nie in ein kriegerisches Abenteuer, ohne vorher ihre Verbündeten mit Festen und Einladungen zu umwerben. Das geschieht in dem Bewusstsein, dass das Bündnis zwar als haltbar vorausgesetzt werden kann, dass es aber beständig wieder erneuert werden muss, da Verrat immer möglich ist und auch des öfteren passiert. Daher kommen die Unbeständigkeit und die tückischen Neigungen der Wilden, die von den Reisenden oder Ethnologen beschrieben werden. Aber noch einmal sei betont: hier geht es nicht um eine Psychologie des Primitiven: die Unbeständigkeit bedeutet hier einfach nur, dass das Bündnis eben kein Vertrag ist, dass sein Bruch für die Wilden nicht einem Skandal gleichkommt und dass letztendlich eine gegebene Gesellschaft weder immer dieselben Verbündeten noch dieselben Feinde hat. Die mit dem Bündnis und dem Krieg verbundenen Ziele können sich ändern und die Gruppe B, die mit der Gruppe A gegen die Gruppe C verbündet ist, kann sich infolge zufälliger Ereignisse auf die Seite von C gegen A wenden. Die Erfahrungen auf dem "Schlachtfeld" zeigen unaufhörlich das Schauspiel solcher Überläufe, die immer begründet werden können. Was man festhalten muss, das ist die Anordnung des Ganzen - Teilung der Anderen in Verbündete und Feinde - und nicht den jeweils einzelnen Platz, den die einbezogenen Gemeinschaften einnehmen. Der nämlich unterliegt jeweiligen Schwankungen und Veränderungen.

Dieses begründete gegenseitige Misstrauen zeigt noch ein weiteres. Dass die Gemeinschaften nämlich nur mit Widerwillen in ein Bündnis eintreten, dass dieses kein Zweck sondern nur ein Mittel ist: ein Mittel um mit dem geringsten Risiko und den geringsten Unwegbarkeiten einen Zweck zu erreichen: das kriegerische Unternehmen. Ebensogut könnte man sagen, dass man sich in ein Bündnis fügt, weil es zu gefährlich wäre alleine militärische Operationen zu beginnen. Hieraus ergibt sich eine wesentliche Eigentümlichkeit in den Beziehungen zwischen den primitiven Gemeinschaften: der Krieg ist ihnen wichtiger als das Bündnis. Der Krieg als Institution bestimmt das Bündnis als taktisches. Denn für alle Gemeinschäften ist die Strategie unerbittlich die gleiche: auf ihr autonomes Sein zu beharren, sich als das zu erhalten was sie sind ungeteilte WIRs.

Es wurde schon festgestellt, dass der Krieg aufgrund Ihres politischen Unabhängigkeitswillens und ihrer ausschliessenden Vorherrschaft über ihr Territorium in der Funktionsweise primitiver Gesellschaften unmittelbar verankert ist: die primitive Gesellschaft ist der Ort des andauernden Kriegszustands. Man sieht jetzt, dass die Suche nach einem Bündnis vom stattfindenden Krieg abhängt: es gibt eine soziologische Priorität des Krieges über das Bündnis. Und hier beginnt das wahre Verhältnis zwischen Tausch und Krieg. Welche sozio-politischen Einheiten entsprechen dem Prinzip der Gegenseitigkeit, damit Tauschbeziehungen entstehen können? Eben diejenigen Gruppen, die im Bündniszusammenhang miteinander stehen; die Verbündeten sind auch Tauschpartner, der Wirkungsbereich des Tauschs deckt sich genau mit dem des Bündnisses. Das bedeutet wohlverstanden nicht, dass es keinen Tausch mehr gäbe, wenn es kein Bündnis geben würde: es würde dann innerhalb der autonomen Gemeinschaften stattfinden in der er niemals aufhört, er wäre dann also auf die Gemeinschaft begrenzt.

Man tauscht also mit den Verbündeten,es gibt Tausch, weil es Verbündete gibt. Es geht dabei nur um den Tausch von Gütern: es gibt zyklische Feste zu denen man sich gegenseitig einlädt und auf denen man Geschenke miteinander tauscht (ohne wirklich ökonomische Bedeutung, wiederholen wir es noch einmal) und auf denen vor allem Frauen getauscht werden. Wie Levi-Strauss schreibt:"...der Tausch von Vermögen ist nur der Ausdruck für ununterbrochene gegenseitige Schenkungen ... " (a.a.0., S. 79). Kurzum, die Wirklichkeit des Bündnisses macht vollständigen Tausch möglich, und der bezieht sich nicht nur auf Güter und Dienste, sondern auch auf Eheverhältnisse. Was bedeutet Frauentausch? Auf der Ebene der menschlichen Gesellschaft als solcher sichert er die Humanität dieser Gesellschaft, d.h. seine Nicht-Animalität. Er bedeutet, dass die menschliche Gesellschaft nicht in die natürliche Ordnung, sondern zur Ordnung der Kultur gehört: die menschliche Gesellschaft entfaltet sich im Universum der Regel und nicht in dem des unmittelbaren Bedürfnisses, in der Welt der Institution und nicht in der Welt des Instinkts. Der exogame Tausch der Frauen begründet die Gesellschaft als solche im Inzestverbot. Um Genau zu sein: hierbei handelt es sich nur insofern um Tausch, als er die menschliche Gesellschaft als nicht-animalische setzt. Hierbei handelt es sich nicht um einen Tausch im Rahmen des Bündnisnetzes zwischen den verschiedenen Gemeinschaften, der sich auf einer anderen Ebene entfaltet. Im Rahmen des Bündnisses erhält der Frauentausch eine Politische Bedeutung. Die Begründung ehelicher Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen ist ein Mittel, um das politische Bündnis zu festigen und zu stärken. Es ist ein Mittel, um den unvermeidlich existierenden Feinden unter den besten Bedingungen entgegentreten zu können. Bei denjenigen Verbündeten, die zugleich auch Verwandte sind, kann man mit mehr Beständigkeit in der kriegerischen Solidarität rechnen, obwohl auch die verwandtschaftlichen Bande keinesfalls eine endgültige Garantie für die Bündnistreue darstellen. Nach Levi-Strauss ist der Frauentausch der Endpunkt des "ununterbrochenen Prozesses gegenseitiger Geschenke". Es ist aber so, dass zwei Gruppen, wenn sie in Beziehung zueinander treten nicht unbedingt danach trachten Frauen auszutauschen: sie wollen viel eher ein politisch-militärisches Bündnis schliessen und der Frauentausch ist das beste Mittel dazu. Der eheliche Tausch ist geeignet dafür, er kann politische Bündnisse stärken, aber er kann sie niemals übertreffen - d.h. ersetzen: im Bündnis ist zugleich Tausch und Unterbrechung des Tauschs eingeschlossen, es ist seine Grenze, über die der Tausch nicht hinausgehen kann.

Levi-Strauss verwechselt Zweck und Mittel. Diese Verwirrung entsteht notwendigerweise dadurch, dass er in seiner Konzeption von Tausch zwei Ebenen miteinander verwechselt: Tausch als Gründungsakt der menschlichen Gesellschaft (Inzestverbot, Exogamie) und Tausch als Ausdruck und Mittel des politischen Bündnisses (die besseren Verbündeten sind sind die Verwandten). Letztendlich wird die Tauschtheorie von Levi-Strauss dadurch aufrechterhalten, dass sie der Primitiven Gesellschaft unterstellt , dass sie tauschen will, dass sie eine Gesellschaft-für-den-Tausch ist, dass sie um so besser funktioniert, je mehr sie tauscht. Wir haben aber gesehen, dass die primitive Gesellschaft sowohl auf der Ebene der Ökonomie (Ideal der Autarkie) als auch auf der Ebene der Politik (Wille zur Unabhängigkeit) Beständig dabei ist, eine Strategie zu entwickeln um den Tausch soweit wie möglich zu vermeiden: sie ist überhaupt keine Gesellschaft für den Tausch, sondern viel eher eine Gesellschaft gegen den Tausch. Und das wird am deutlichsten am Verbindungspunkt zwischen Frauentausch und Gewalt. Man weiss, dass der Frauenraub in allen primitiven Gesellschaften derjenige Kriegszweck ist, auf dem am meisten bestanden wird: man greift die Feinde an, um sich ihrer Frauen zu bemächtigen. Dabei ist es nicht so wichtig, ob der vorgeschobene Grund ein wirklicher oder nur ein Vorwand für Feindlichkeiten ist. Hier zeigt der Krieg am deutlichsten den grossen Widerspruch zwischen der primitiven Gemeinschaft und dem Tausch, auf den sie nur mit Widerwillen zurückgreift. Beim Frauentausch gewinnt eine Gruppe eine Anzahl von Frauen verliert, aber auch ebensoviele, während beim Krieg um die Frauen die siegreiche Gruppe eine Anzahl Frauen gewinnt ohne eine einzige von ihnen zu verlieren. Hierbei ist das Risiko beträchtlich (Verletzungen, Tod), der Gewinn aber ebenso: er ist total, die Frauen sind umsonst. Das unmittelbare Interesse der primitiven Gemeinschaften bevorzugt immer den Krieg vor dem Tausch: das aber würde einen Kriegszustand aller gegen alle bedeuten, dessen Unmöglichkeit wir schon gesehen haben. So wird der Krieg also im Rahmen von Bündnissen geführt, die den Tausch stiften. Man tauscht die Frauen aus einer Notwendigkeit heraus: da man ja Feinde hat muss man sich Verbündete schaffen und versuchen, sie zu Schwagern zu machen. Und umgekehrt: gibt es einen oder mehrere Gründe dafür, dass sich die Gruppe noch zusätzliche Ehefrauen verschaffen muss (eine Gleichgewichts störung innerhalb der sex - ratio zugunsten von Männern, Ausdehnung der Vielweiberei), dann versucht diese Gruppe, sich die fehlenden Frauen mit Gewalt zu verschaffen, durch den Krieg und nicht durch den Tausch, bei dem sie ja keine zusätzlich bekommen würde.

Fassen wir zusammen. Der Ansatz über die primitive Gesellschaft, der vom Tausch ausgeht, der die primitive Gesellschaft vollständig auf den Tausch beschränkt, täuscht sich an zwei verschiedenen aber miteinander zusammenhängenden Punkten. Zuerst nimmt er nicht zur Kenntnis - oder weigert sich, zur Kenntnis zu nehmen - dass die Primitiven Gesellschaften den Tausch keinesfalls erweitern wollen, sondern viel eher dahin tendieren, ihn in seiner Bedeutung zu reduzieren. Infolgedessen wird die wirkliche Tragweite der Gewalt unterschätzt, denn letztendlich führt das dazu, dass der Krieg ganz verschwindet und der Tausch absolute Priorität und Ausschliesslichkeit erlangt. Wir haben gesagt: sich über den Krieg zu irren ist gleichbedeutend mit dem Irrtum über die Gesellschaft.

Wenn Levi-Strauss glaubt, dass das Primitiv-gesellschaftliche Sein ein Sein-für-den-Tausch ist, dann muss er auch behaupten, dass die Primitive Gesellschaft eine Gesellschaft-gegen-den-Krieg ist: der Krieg ist der verfehlte Tausch. Sein Ansatz ist zwar in sich geschlossen aber falsch. Der Widerspruch liegt nicht innerhalb des Ansatzes, sondern der gesamte Ansatz steht in Widerspruch zur soziologischen Wirklichkeit, zur ethnographisch lesbaren Welt der primitiven Gesellschaft. Nicht der Tausch hat in ihr Priorität, sondern der Krieg, der in der Art und Weise des Funktionierens der primitiven Gesellschaft verankert ist. Der Krieg impliziert das Bündnis und das Bündnis zieht den Tausch, nach sich (hier ist der Tausch nicht als das unterschiedene Merkmal zwischen Mensch und Tier zu verstehen, sondern als das freie Spiel ihres politischen Seins, in dem sich die Gesellschaftlichkeit der primitiven Gesellschaft entfaltet). Der Tausch ist nur durch den Krieg zu verstehen und nicht umgekehrt. Der Krieg ist nicht das Ergebnis eines zufälligen Versagens des Tausch, sondern der Tausch ist ein taktisches Ergebnis des Krieges. Der Tausch ist nicht der Grund für das Nicht-Sein des Krieges wie Levi-Strauss denkt, sondern die Tatsache des Krieges, bestimmt die Existenz des Tauschs. Das immer bestehende Problem primitiver Gesellschaften ist nicht die Frage: mit wem wollen wir tauschen? Sondern: wie können wir unsere Unabhängigkeit aufrechterhalten? Für die Wilden ist der Tausch ganz einfach: er ist ein notwendiges Übel; solange er Verbündete schafft, soll er stattfinden, denn dadurch werden die Verbündeten zu Schwagern.

Hobbes hatte zu Unrecht der Primitiven Gesellschaft ihre Gesellschaftlichkeit abgesprochen. Er glaubte, dass der Krieg sie an der Entfalten behindern würde, weil er den Tausch verhindert. Unter Tausch verstand er nicht nur den Tausch von Gütern und Diensten, sondern insbesondere den Frauentausch, als Ausdruck für die Achtung der Exogamie im Rahmen des Inzestverbots. Sagt er nicht letztendlich damit, dass die amerikanischen Wilden auf "gleichsam tierische Art und Weise" leben und dadurch ihre Unterwerfung unter "natürliche Begierlichkeit" das Fehlen jeglicher sozialer Organisation zum Vorschein kommt (bei ihnen gibt es demnach kein Universum der Ordnung)? Aber aus dem Irrtum von Hobbes lässt sich noch keine Wahrheit für Levi-Strauss ableiten. Für letzteren ist die primitive Gesellschaft die Welt des Tauschs: diese Aussage beruht aber auf einer Verwechslung, einer Vermengung zweier verschiedener Arten von Tausch. Und zwar dem Tausch als Stifter der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen und als einer Beziehungsart zwischen zwei verschiedenen Gruppen. Des weiteren führt sein Ansatz dazu, dass der Krieg ihm aus den Fingern gleitet, dass er ihn in seinem Ansatz beseitigen muss, insofern er die Negation des Tauschs ist: existiert Krieg, gibt es keinen Tausch und wenn es keinen Tausch mehr gibt, gibt es keine Gesellschaft mehr, Sicherlich gehört Tausch zur menschlichen Gesellschaft: die menschliche Gesellschaft existiert, weil es Frauentausch gibt, weil es ein Inzest Verbot gibt. Aber diese Art Tausch hat nichts mit dieser sozio-politischen Tätigkeit zu tun, die man Krieg nennt und der Krieg seinerseits stellt den Tausch aus Achtung des Inzestverbots in keiner Weise in Frage. Er stellt aber demgegenüber in Frage, dass der Tausch als Gesamtheit der sozio-politischen Beziehungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften angesehen wird. Er stellt ihn genau deswegen in Frage, um ihn durch die Vermittlung des Bündnisses wieder neu zu gründen und institutionalisieren. Wenn Levi-Strauss diese beiden Ebenen verwechselt, auf denen Tausch stattfindet, dann stellt er den Krieg auf eine Ebene, auf der er nichts zu suchen hat und wo er folglich verschwinden muss: für ihn rückt sich das Prinzip der Gegenseitigkeit (was für den Tausch notwendig ist) in der Suche nach einem Bündnis aus, welches den Frauentausch ermöglicht und auch den Tausch, der zur Negation des Krieges führt. Diese Beschreibung der primitiv-gesellschaftlichen Wirklichkeit wäre durchaus zufriedenstellend, wenn es den Krieg nicht gäbe: aber man weiss, dass es ihn gibt, und man weiss auch dass er universal ist. Die ethnographische Wirklichkeit geht also den entgegengesetzten Weg: der Kriegszustand zwischen den Gruppen macht es nötig, dass Bündnisse zustandekommen, die ihrerseits zum Frauentausch herausfordern. Man kann also eine gelungene Analyse über Verwandtschaftsbeziehungen oder mythologische Systeme anfertigen, ohne eine umfassende theoretische Diskussion über die Gesellschaft zu führen.

Die Überprüfung der ethnographischen Fakten beweist die ausschliesslich politische Dimension der kriegerischen Tätigkeit. Sie hat weder mit zoologischen Eigentümlichkeiten der Menschen zu tun, noch mit einer lebensnotwendigen Konkurrenz zwischen den einzelnen Gemeinschaften, noch damit, dass der Tausch langsam die Gewalt zum Verschwinden bringt. Der Krieg behauptet sich in der primitiven Gesellschaft, insofern sie eine ist (er ist genauso universal wie sie), er ist eine Funktionsweise von ihr. Ihre eigene Natur begründet und bestimmt die Existenz und die Bedeutung des Krieges, den man irrtümlich für den Grund der extremen Zersplitterung zwischen den einzelnen Gruppen gehalten hat, der aber schon vorher als Möglichkeit im Primitiv-gesellschaftlichen Sein existiert. Für Jede örtlich gebundene Gruppe sind die Anderen Fremde: die Gestalt des Fremden verstärkt bei allen Gruppen ihre Identität als autonomes WIR. Das bedeutet dass andauernd Kriegszustand herrscht, da man zu diesen Fremden nur ein feindschaftliches Verhältnis hat, das leicht zu einem Krieg führen kann. Das bedeutet weiterhin, dass nicht der bewaffnete Konflikt, die Schlacht das wesentliche ist, sondern dass sie permanent möglich ist, dass sie jede Zeit ausbrechen kann. Es herrscht beständig Kriegszustand in dem Masse, in dem die gegenseitige Unterschiedenheit aller Gruppen untereinander aufrechterhalten wird. Der beständige Kriegszustand, die permanente Möglichkeit von Krieg mit den Fremden - das ist die Struktur der primitiven Gesellschaft. Dieser permanente Kriegszustand, der in mehr oder weniger regelmässigen Abständen und mit mehr oder weniger grosser Beteiligung der einzelnen Gemeinschaffen seinen Höhepunkt in einer Schlacht findet, im direkten Angriff; jetzt wird der Fremde zum Feind, und diese Gestalt des Feindes erzeugt ihrerseits die Gestalt des Verbündeten. Zwar herrscht permanenter Kriegszustand, aber die Wilden verbringen nicht ebenso viel Zeit, um auch Krieg zu führen.

Dem Krieg als Aussenpolitik der primitiven Gesellschaft entspricht eine Innenpolitik, ein unbeugsamer Konservatismus dieser Gesellschaften. Dieser Konservatismus drückt sich dadurch aus, dass sich die primitive Gemeinschaft unaufhörlich auf ein traditionelles Normensystem bezieht, auf das Gesetz der Ahnen, dem man immer Achtung erweisen muss, dem man keinerlei Veränderung antun kann. Die primitive Gesellschaft trachtet danach ihr Sein selbst zu erhalten; sie will in ihrem Sein beharren. Aber woraus besteht dieses Sein, was ist dieses Sein? Es ist ein ungeteiltes Sein. Der gesellschaftliche Körper ist homogen, die Gemeinschaft ist ein WIR. Der Konservatismus primitiver Gesellschaften sucht Neuerungen zu verhindern, er will, dass durch die Achtung des Gesetzes die Unteilbarkeit der Gemeinschaft aufrechterhalten wird, er versucht, die Erscheinung von Teilung in der Gesellschaft zu verhindern. Dieser Zielrichtung entspricht sowohl die ökonomische Ebene (Reichtum kann nicht akkumuliert werden) als auch die Ebene der Machtverhältnisse (der Häuptling ist nicht dazu da zu befehlen). Daraus besteht also die Innenpolitik der primitiven Gesellschaft: sich als ungeteiltes WIR zu erhalten als ungeteilte Totalität. Das bedeutet nun andererseits, dass dieser Beharrungswille auf ein ungeteiltes WIR alle Gemeinschaften gleichermassen erregt: die Position vom SELBST einer jeden Gemeinschaft schliesst schon Gegnerschaft, Feindschaft mit anderen ein, der Kriegszustand dauert genauso lange an und ist genauso dauerhaft wie die gegenseitige Aufrechterhaltung der Autonomie. So lange, bis sich eine von ihnen dazu als unfähig erweist und bis sich eine von den anderen zerstört wird. Die beiden Fähigkeiten: das strukturelle Feindschaftsverhältnis aufrechtzuerhalten und den kriegerischen Unternehmungen der anderen Widerstand zu leisten, kurz: die kriegerische Fähigkeit einer jeden Gemeinschaft ist die Voraussetzung ihrer Autonomie. Mit anderen Worten: der permanente Kriegszustand und der periodisch geführte Krieg erscheinen prinzipiell als die Mittel, um gesellschaftliche Veränderungen in primitiven Gesellschaften zu verhindern. Die Dauerhaftigkeit der primitiven Gesellschaft beruht also auf dem andauernden Kriegszustand, die erfolgreiche Politik nach innen (Aufrechterhaltung des ungeteilten und autonomen WIR) beruht auf dem Funktionieren der Politik nach aussen (Bündnisse schliessen zur Kriegsführung): der Krieg ist das Herz des primitiv-gesellschaftlichen Seins, er ist der Motor des gesellschaftlichen Lebens. Um sich als WIR denken zu können, mass die Gesellschaft zugleich ungeteilt (Eines) und unabhängig (Totalität) sein: die innere Ungeteiltheit und das äussere Gegenüber ergänzen sich, ein jedes ist die Bedingung des anderen. Wenn der Krieg aufhört, dann hört auch das Herz der primitiven Gesellschaft auf zu schlagen. Der Krieg ist ihr Fundament, das eigentliche Leben ihres Seins, er ist ihr Zweck: die primitive Gesellschaft ist Gesellschaft für den Krieg, sie ist im Wesen kriegerisch (10).

Die Zerstreuung der lokal gebundenen Gruppen, dieser Charakter der Primitiven Gesellschaft, der am unmittelbarsten wahrnehmbar ist ist also nicht Ursache, sondern Ergebnis des Krieges, sein spezifischer Zweck. Welche Funktion hat also der primitive Krieg? Er ist dazu da, diese Zerstreuung abzusichern, dauerhaft zu machen, die Zerstückelung und Atomisierung der einzelnen Gruppen abzusichern. Der Krieg bei den Primitiven Völkern ist die Arbeit einer zentrifugalen Logik, einer Logik der Trennung, die sich von Zeit zu Zeit im bewaffneten Konflikt entlädt (11). Der Krieg dient dazu, jeder Gemeinschaft ihre politische Unabhängigkeit zu erhalten. Solange es Krieg gibt, solange gibt es Autonomie: deswegen kann und darf er nicht aufhören, deswegen ist er permanent existent. Der Krieg ist die bevorzugte Existenzweise der primitiven Gesellschaft, insofern sie sich auf gleiche freie und unabhängige sozio-politische Einheiten verteilt: würden die Feinde nicht existieren, dann müsste man sie erfinden.

Die Logik der primitiven Gesellschaft ist also eine zentrifugale, eine Logik des Vielfältigen. Die Wilden streben nach der Vervielfältigung des Vielfältigen. Was hat diese Erhaltung der zentrifugalen Kraft nun für ein Ergebnis? Sie stellt der entgegengesetzten, der zentripedalen Kraft, der Logik des Einen, eine unüberwindbare Barriere, das mächtigste gesellschaftliche Hindernis entgegen. Weil sie eine Gesellschaft des Vielfältigen ist, kann die primitive Gesellschaft keine Gesellschaft des Einen sein: es gibt mehr Zerstreuung als Vereinheitlichung. Man sieht demzufolge, wie die gleiche unerbittliche Logik die Innen- und Aussenpolitik der primitiven Gesellschaft bestimmt. Die Gemeinschaft will einerseits in ihrer Ungeteiltheit verharren und verhindert deswegen, dass sich eine vereinheitlichende Instanz vom gesellschaftlichen Körper abtrennt - die Gestalt des befehlenden Häuptlings - und dass so eine soziale Trennung zwischen Herr und Untertan errichtet wird. Andererseits will die Gemeinschaft auf ihrem autonomen Sein beharren, d.h.: unter ihrem eigenen Gesetz bleiben . Sie verweigert also alles, was sie zur Unterwerfung unter ein aussenstehendes Gesetz führen würde, sie widersetzt sich der Tatsache, dass das vereinheitlichende Gesetz vom Aussenstehenden kommen müsste. Welche ist nun diese legale Macht, die alle Unterschiede vereinigt, indem sie sie unterdrückt? Die dadurch existiert, dass sie die Logik des Vielfältigen abschafft, indem sie sie durch die entgegengesetzte Logik der Vereinheitlichung ersetzt? Welches ist der andere Name für dieses Eine, das die primitive Gesellschaft in ihrem Innersten ablehnt? Das ist der Staat.

Wir wiederholen: Was ist der Staat? Er ist das vollendete Zeichen der Teilung der Gesellschaft, da er das von ihr abgetrennte Organ der politischen Macht ist: von diesem Zeitpunkt an ist die Gesellschaft geteilt zwischen denen, die die Macht ausüben, und denen die sie erleiden. Die Gesellschaft ist kein ungeteiltes WIR mehr, keine ungeteilte Totalität, sondern ein zerstückelter Körper, ein heterogen-gesellschaftliches Sein. Die gesellschaftliche Teilung, die Entstehung des Staates sind der Untergang der primitiven Gesellschaft. Um die Unterschiedenheit behaupten und leben zu können, muss sie ungeteilt sein. Ihr Wille, eine alle anderen ausschliessende Totalität zu sein, beruht auf der Ablehnung der gesellschaftlichen Teilung: um sich als ein das Andere ausschliessendes WIR denken zu können, muss dieses WIR ein homogen-gesellschaftlicher Körper sein. Die Zerstückelung nach aussen, die Unteilbarkeit nach innen - dies sind die beiden Gesichter einer Wirklichkeit, die beiden Seiten einer einzigen soziologischen Funktionsweise der gleichen gesellschaftlichen Logik. Um wirksam die Welt der Feinde angreifen zu können, muss die Gemeinschaft einig, homogen, ungeteilt sein.

Und umgekehrt braucht sie, um in der Ungeteiltheit existieren zu können, den Feind, auf dessen Gesicht sie das Bild ihres eigenen einheitlichen gesellschaftlichen Seins ablesen kann. Sozio-politische Autonomie und soziologische Unteilbarkeit bedingen sich geggenseitig. Die zentrifugale Logik der Zerbröselung ist die Verweigerung des vereinheitlichenden Einen. Das bedeutet, dass die primitiven Gesellschaften niemals grosse sozio-demographische Dimensionen erreichen können, da ihre Grundtendenz in Richtung Zerstreuung geht und nicht in Richtung Konzentration; in Richtung Atomisierung und nicht hin zur Zusammenfassung. Beobachtet man innerhalb einer primitiven Gesellschaft zentripedale Kräfte, die in Richtung Gross-Einheiten wirken und die Gesellschaft umschichten, dann bedeutet das, dass diese Gesellschaft im Begriff ist, ihre primitive Logik der zentrifugalen Kraft zu verlieren, dann bedeutet das, dass die Gesellschaft Totalität und Einheit verliert, dann heisst das, dass sie dabei ist keine primitive Gesellschaft mehr zu sein (12).

Die Ablehnung der Vereinheitlichung, die Ablehnung eines abgetrennten Einen bedeutet: Gesellschaft gegen den Staat. Jede primitive Gesellschaft will unter dem Zeichen ihres eigenen Gesetzes bleiben (Autonomie, politische Unabhängigkeit), welches gesellschaftliche Veränderungen ausschliesst (die Gesellschaft will das bleiben, was sie ist: ungeteiltes Sein). Die Ablehnung des Staates ist die Ablehnung der Exogamie, des Gesetzes von aussen; das bedeutet ganz einfach die Weigerung, sich zu unterwerfen, die in der Struktur der primitiven Gesellschaft schon als solche verankert ist. Nur Dummköpfe können glauben, dass man Entfremdung zuerst erleiden und durchstehen muss, um sie dann ablehnen zu können: die Ablehnung von Entfremdung (ökonomische und politische) gehört zum Sein dieser Gesellschaft, in ihr drückt sich ihr Konservatismus aus, ihr fest entschlossener Wille, ungeteiltes WIR zu bleiben. Das ist ein fest verankerter Wille und nicht nur das Ergebnis einer funktionierenden gesellschaftlichen Maschine: die Wilden wissen sehr wohl, dass Jede Veränderung ihres gesellschaftlichen Lebens (jede gesellschaftliche Neuerung) für sie nur den Verlust ihrer Freiheit zur Folge haben könnte.

Was ist nun die primitive Gesellschaft? Eine Vielfältigkeit verschiedener Gemeinschaften, die alle ein und derselben zentrifugalen Logik gehorchen. Welche Institution garantiert die Dauerhaftigkeit dieser Logik und drückt sie zugleich aus? Der Krieg. Er ist das Wahrhaftige in den Beziehungen zwischen den Gemeinschaften, das soziologische Hauptmittel, um die zentrifugale Kraft der Vereinheitlichung durchzusetzen und zu stärken. Die Kriegsmaschine ist der Motor für die Sozialmaschine, das primitiv-gesellschaftliche Sein beruht gänzlich auf dem Krieg, die primitive Gesellschaft kann ohne den Krieg nicht bestehen. Es gibt viel mehr Krieg als Vereinheitlichung. Der beste Feind des Staates ist der Krieg. Die primitive Gesellschaft ist eine Gesellschaft gegen den Staat, in dem Masse und solange sie eine Gesellschaft-für-den-Krieg ist.

Wir kommen hier erneut auf den Gedanken von Hobbes zurück. Mit einer nach ihm verloren gegangenen Klarheit vermochte es dieser englische Denker, die tiefliegende Verbindung zwischen Krieg und Staat zu enthüllen, das enge, nachbarschaftliche Verhältnis zwischen diesen beiden Polen aufzudecken. Er sah, dass Krieg und Staat sich widersprechende Ausdrücke sind, dass sie nicht miteinander existieren können, dass ein jeder von beiden die Negation des anderen beinhaltet: der Krieg verhindert den Staat, der Staat verhin dert den Krieg. Der enorme aber für einen Mann seiner Zeit fast unvermeidliche Irrtum bestand darin, dass er annahm, dass diejenige Gesellschaft, die auf dem Krieg aller gegen alle basiert, eben gerade deswegen keine Gesellschaft sei; dass also die Welt der Wilden keine gesellschaftliche Welt sei; dass infolgedessen die Institution Gesellschaft aus der Beendigung des Krieges hervorgeht, dass Gesellschaft durch die Erscheinung des Staates gebildet würde, dass der Staat eine anti-kriegerische Maschine par excellence sei. Nicht fähig, die Welt der Wilden als gesellschaftliche zu denken, hat Hobbes dennoch als erster gesehen dass man Krieg nicht ohne Staat denken kann, dass man sie in einer sich gegenseitig ausschliessenden Beziehung denken muss. Für ihn bildet sich das gesellschaftliche Band zwischen den Menschen dank dieser "allgemeinen Macht, die alle in Schach hält": durch den Staat der gegen den Krieg ist. Was antwortet ihm die Primitive Gesellschaft, in der der permanente Krieg stattfindet? Sie dreht den Ansatz von Hobbes um und verkündet, dass die Maschine der Zerstreuung gegen die Maschine der Vereinheitlichung funktioniert, sie sagt uns, dass der Krieg gegen den Staat arbeitet (13).

Anmerkungen:
1.) Thomas Hobbes, Leviathan, Ausgabe Sirey, S. 125
2.) M.R. Davie, La guerre dans les societes primitives, Payot 1931
3.) vgl. N.A. Chagnon, Yanomamö. The Fierce People, Holt, Rinehart and Winston, 1968
4.) D. R. Gross, Ñ Proteine Capture and Cultural deveolopement in the Amazon Basinì, in: American Anthropologist, Nr. 77, 1975, S. 526-549
5.) J. Lizot, der zwar über die Yanomami nicht Bedeutendes zu sagen hat, zeigt dennoch sehr deutlich, dass in den Werken von Gross und Harris eine grosse Ignoranz herrscht.
6.) vgl. M. Sahlins, Age de pierre, age d' abondance. L' Économie des societÉs primitives, Gallimard, 1976
7.) Naturkatastrophen (Trockenheit, Überschwemmungen, Erdbeben, Aussterben einer Tierart etc.) können lokale Mangelerscheinungen von Lebensmitteln nach sich ziehen. Aber sie müssen sehr lange andauern, um einen Konflikt heraufzubeschwören. Aber noch eine andere Situation kann eine Gesellschaft mit Mangel konfrontieren, für den aber die Natur nicht verantwortlich ist: kann die Verbindung zwischen einem absolut begrenzten Raum und einem absolut ansteigenden Bevölkerungswachstum zu einer sozialen Pathologie führen, die dann im Krieg endet? Das ist nicht eindeutig geklärt; dieses Problem muss von Spezialisten für Polynesien und Melanesien (Inseln, also begrenzte Räume) angegangen und geklärt werden.
8.) C. Levi-Strauss, ÑGuerre et commerce chez les Indiens de l' AmÉrique du Sud", in: Renaissance, Band 1, New York, 1943
9.) ders., Elementaires de la ParentÉ, in der ersten Ausgabe. (P. U. F ., 1949) S. 86, in der zweiten Ausgabe (Mouton, 1967) S. 78
10.) Erinnern wir uns hier mal nicht an die Diskussion der Abendländer über den primitiven Krieger, sondern an eine weniger beachtete aber aus der gleichen Logik stammende Diskussion: die der Inkas. Von den Stämmen, die sich an den Grenzen ihres Reiches aufhielten sagten die Inkas, dass diese Wilden immer im Kriegszustand wären: deswegen haben sie versucht, sie über den Weg der Eroberung in die pax inciana zu integrieren.
11.) Diese Logik betrifft nicht nur die Beziehungen innerhalb der Gemeinschaften, sondern die Art und Weise ihres Funktionierens als solche. In Süd-Amerika geht ein Teil des Volkes weit weg, um ein anderes Dorf zu gründen, wenn das Bevölkerungswachstum die für optimal gehaltene Marke überschreitet.
12.) Die Tupi-Guarani aus Süd-Amerika sind solch ein Fall, bei dem die Gesellschaft zerstört wurde, als die Neue Welt entdeckt wurde. Und zwar durch die zentripedalen Kräfte, durch eine Logik der Vereinheitlichung.
13.) Bei diesem archäologischen Versuch über die Gewalt stellen sich verschiedene ethnologische Probleme: welches Schicksal würde diejenigen primitiven Gesellschaften erwarten, die sich durch die Kriegsmaschine hinreissen lassen würden? Würde es nicht die Gefahr gesellschaftlicher Teilung heraufbeschwören, wenn man einer Gruppe - den Kriegern - Autonomie gewähren würde? Wie reagieren primitive Gesellschaften, wenn dieser Fall eintritt? Wesentliche Fragen, da sich hinter ihnen die übergreifende Frage verbirgt: unter welchen Bedingungen kann gesellschaftliche Teilung in der ungeteilten Gesellschaft entstehen? - Diese und andere Fragen müssen noch durch Untersuchungen beantwortet werden, dieser Text ist nur ein Anfang.

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/pierre-clastres-archaologie-der-gewalt


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email