Pierre Ramus - Die historische Entwicklung der Friedensidee und des Antimilitarismus (1908)
Vorbemerkungen
Das Problem des Antimilitarismus ist gegenwärtig in fast allen Kulturländern eine Frage der Sozialpolitik von aktueller Bedeutung geworden, und so rechtfertigen die nachfolgenden Zeilen schon allein durch diesen Umstand ihr Erscheinen in der Publikationsserie von Kultur und Fortschritt. Sowohl in ihrer Form, als auch in ihrer Konklusion ist die Darstellung original und versucht es, die historischen Leitfäden zu spinnen, welche zur modernsten Phase des Antimilitarismus geleiten, die denn auch konsequent konstatiert wird.
Konsequenz! Ich glaube, darin erschöpft sich überhaupt der Inhalt dieses Schriftchens, das einen kleinen Teil einer größeren Arbeit auf diesem Gebiete bildet. Wir sehen in der Gegenwart den Antimilitarismus so oft propagiert von einander sich widersprechenden und widerstreitenden Richtungen des öffentlichen Lebens, daß es wirklich not tut, sich zu orientieren und es deutlich klar zu stellen, welcher Geistesrichtung der Antimilitarismus logisch-konsequenterweise angehört; daß diejenigen, die ihn propagieren, sich selbst klar darüber sein sollen, wohin er sie führt und was eigentlich seine Quintessenz.
Der Antimilitarismus macht in unserer wildbewegten Zeit sozialer Stürme seine eigene Geschichte. An dieser sind wir als Mitlebende und Mitfühlende beteiligt. Aber es muß vor allem unsere Aufgabe sein, die verschiedenen Evolutionsstadien kennen zu lernen, die ihn in seiner heutigen Bedingtheit auftreten lassen, lassen mußten. Nur so werden wir unsere eigene Auffassung erkennen können, ganz einerlei wie unsere persönlichen Sympathien oder Antipathien sich zu diesem Problem stellen. Verständnis und Erkenntnis sind sowohl beim Freunde wie beim Gegner erwünscht, sie bieten Waffen der Kultur, und aus dem Boden dieses Volksgutes sprießt dann vielleicht jenes Kulturelement hervor, das die ideale Erfüllung aller Strebensziele des Antimilitarismus in sich birgt.
Frieden nach innen, wie nach außen !
Verlag und Verleger danke ich für die wissenschaftliche Objektivität ihres Urteils.
Wien, im März 1908. Der Verfasser
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Es ist Aufgabe dieser Ausführungen, eine historische Skizze der Friedensbewegung und des Antimilitarismus zu geben. Sie berühren den Militarismus nur insofern, als es unbedingt notwendig ist, um zu klaren Konklusionen inbezug auf den Antimilitarismus und die ihm zugrunde liegenden Prinzipien zu führen.
Schopenhauer sagt in einer Besprechung von Locke's, des englischen Philosophen, Verdienste folgendes: "Hier nun liegt das eminente Verdienst Locke's, der, um allem jenem dogmatischen Unwesen entgegenzuwirken, nach Untersuchung des Ursprungs der Begriffe drang, wodurch er auf das Anschauliche und die Erfahrung zurückführte". Aus eben diesem selben Grunde wollen wir den Antimilitarismus in seiner historischen Entwicklung an uns vorüber passieren lassen.
Es ist notwendig, alle jene Reformversuche und geistig-gedanklichen Bestrebungen, die historisch auf die Lahmlegung oder Überwältigung des Militarismus abzielten, Revue passieren zu lassen, damit wir zu erkennen vermögen, ob und inwiefern er — der Antimilitarismus — eine taktische Methode, eine Taktik irgend einer geistigen Schule sein, allein sein, und welcher er in dieser Hinsicht angehören kann; aus welcher er sich so recht eigentlich von selbst ergibt.
Man könnte vielleicht kurzweg behaupten, daß der Antimilitarismus eigentlich nur ein verkappter Ausdruck für Anarchismus sei, da letzterer selbstredend antimilitaristisch ist. Dieser Behauptung läßt sich beistimmen, jedoch auch gewichtiger Widerspruch gegen sie erheben. Wahr ist, daß der Antimilitarismus historisch und taktisch im Anarchismus ausläuft, wie wir in objektivster Weise es behaupten und beweisen werden; auch, daß es nur logisch, wenn die Anarchisten von ihrem Standpunkt aus die konsequentesten Antimilitaristen sind, alle übrigen Parteien dies schon deshalb nicht mit gleicher Einmütigkeit sein können, weil sie alle um die Besitzergreifung der Staatsgewalt ringen, die ja ureigentlich Militarismus ist. Aber andererseits muß konstatiert werden, daß der Antimilitarismus eine, wie wir sehen werden, ganz andere historische Entwicklung durchlief, als es der Anarchismus tat. Und so soll es die Aufgabe dieses Essays sein, die verschiedenen Anschauungen und Strebensziele antimilitaristischer Natur aus dem Schutte der Vergangenheit wenigstens teilweise auszugraben, zu untersuchen.
Wie und mit welchen Mitteln sie sich verwirklicht sehen wollten, die Möglichkeit einer solchen Verwirklichung ins Auge zu fassen. Es gilt, kurz gesagt, die verschiedenen philosophischen Grundgedanken, die dem Antimilitarismus bislang unterlagen, aufzuweisen und aus ihnen zu deduzieren, welche charakteristische Kennzeichen den Wesensinhalt des Antimilitarismus ergeben.
Der Antimilitarismus ist keine junge Bewegung. Richtet er sich heute vornehmlich wider die Institution des modernen Militarismus, in zweiter Linie wider den Krieg, so richtete er sich früher ganz insbesondere wider den Krieg als solchen, was schließlich auf so ziemlich dasselbe herausläuft. Aber sowohl die Friedensbewegung des Altertums, wie jene des Mittelalters und der Neuzeit besaßen gewisse geistige Stützpunkte, die wir vor allem kennen lernen müssen, um ihr Vorgehen und auch um ihre Erfolglosigkeit historisch würdigen zu können.
Die zwei geistigen Stützpunkte der Propaganda gegen den Militarismus oder den Krieg hießen in alter und neuer Zeit: erstens das Völkerrecht, zweitens das Staatenrecht. An diese beiden Begriffe, welche, wie wir sehen werden, die mannigfaltigsten Auslegungen erfahren haben, klammerten sich die Verkünder der Friedensidee, und in sehr hohem Grade sind sie es auch heute noch, die übermächtig die Bewegung gegen den Militarismus beherrschen.
Was bedeuten nun diese beiden Begriffe? Vorweg können wir das konstatieren, was die sogenannte Rechtsschule nicht zugeben wird, daß der Begriff des Völkerrechtes von jenem des Staatenrechtes, unserer Meinung gemäß, aufgehoben wird. Daß letztere eine Usurpation der sittlichen und traditionellen Gebräuche der Völker, meistens deren Vergewaltigung bildet. Und eben weil die Friedensschwärmer der Vergangenheit wie auch Gegenwart dies nicht begreifen, ist ihre ganze Arbeit eine Sysiphusarbeit und hat noch nie in der Geschichte irgendwo besondere Spuren des praktischen Erfolges aufzuweisen gehabt.
Kodifikation des Völkerrechtes, wie sie uns ein Jeremiah Bentham gegeben, das ist ein weit späterer Begriff. In seiner ganzen Ursprünglichkeit bedeutet das Völkerrecht jene Totalsumme von Prinzipien der Gegenseitigkeit, der Humanität, der Harmonie der Interessen und Solidarisierung derselben, welche den Angehörigen aller menschlichen Gesellschaften instinktiv heilig und als unverletzbar erscheinen. Das Völkerrecht ist nichts Geschriebenes, nichts Gekünsteltes, wenn wir es als natürliche Beziehungen zwischen den Völkern, von Volk zu Volk auffassen. In diesem Sinne ist es dasselbe Verhältnis, nur in vergrößerter Proportion, welches zwischen zwei einander vollständig gleichen — d. h. ökonomisch und sozial gleichgestellten — Menschen vorwaltet. Dieses Völkerrecht besitzt keinerlei Gewalt, es ist spontan, den sozialen Gefühlen der Menschen entfließend und verhält sich in seiner gegenseitigen Betätigung zu einander ungefähr so, wie es das folgende Weisheitsaphorisma ausdrückt: "Handle andern gegenüber so, wie Du Dich selbst behandelst, und wie Du wünschest, daß sie sich selbst behandeln sollen".
Dieses Völkerrecht, welches somit die ureigentliche Grundlage des autonomen Völkerlebens der freien Gemeinschaften der zukünftigen Anarchie bedeutet und bildet, wird durch den zweiten Begriff, jenen des Staatsrechtes vollständig verdrängt und aufgehoben. Das Staatenrecht, nicht das Völkerrecht ist heute maßgebend. Denn während letzteres nur den Geist und das Leben freiwaltender sozialer Instinkte ausdrückt, bedeutet ersteres die strengste Abgrenzung und gegenseitige Kräftemessung behufs Wahrung materieller Interessen, ist basiert a priori auf der Gewalt, welche stets als das letzte, entscheidende Wort in allen Staatszwistigkeiten gesprochen wird, da die Staaten den Frieden nur solange wahren, als keine wichtigen Interessen der eigenen Nation geschädigt werden und wenn das geschieht, jeder Staat sich den Anschein gibt, zu glauben, daß das absolute Recht auf seiner Seite gelegen sei.
Das Völkerrecht, also die gegenseitigen Pflichten und Rechte der Völker könnten nie durchbrochen werden von der Bestialität des Krieges, sie könnten sich höchstens, im natürlichen Ausgleich der moralischen Kräfteverhältnisse international dadurch durchsetzen, indem die eine Gruppe von autonomen Völkern sich gegen die andere abschlösse. So denken es sich innerhalb der Kulturgemeinschaft der Anarchie die Anhänger dieser Lehre. Eine Kriegführung wäre umso unmöglicher, als es ja stets des Staates bedarf, um überhaupt einen Militarismus zu etablieren, welcher unter Anleitung des Staates seine technische Produktion — Kanonen, Munition etc. — vor sich gehen läßt, als es des Staates bedarf, um die Disziplinierung und Eindrillung der Menschenmassen behufs der Kriegsführung zu vollführen; da die Anarchie jedoch die Abwesenheit des Staates, die staatenlose Gesellschaftsordnung bedeutet, müßte ein Krieg innerhalb einer von den Grundsätzen auch nur primitivsten Völkerrechtes geleiteten anarchistischen Kulturmenschheit eine absolute Unmöglichkeit sein.
Ganz anders ist es, wie wir schon ausgeführt haben, mit dem Staatenrecht. Dieses Recht ist nichts anderes als der temporäre Waffenstillstand bis zum nächsten Rechtszwist. Während eine Weiterführung, ein Weiterausbau des Völkerrechtes in der Tat eine Kultur- und Friedenstat ersten Ranges ist, da sie sich nur auf Grund der fortschreitenden Verneinung des Staates zu vollziehen vermag, ist die Vervollkommnung des Staatenrechtes nicht mehr noch weniger als die Erklärung des Krieges in Permanenz.
Die verschiedenen Ideenfolgerungen und geistigen Vorstöße auf beiden Gebieten müssen wir nun betrachten. Die fürchterlichen Aderlässe an Leben und Kultur, welche ein Krieg an allen Beteiligten verübt, brachten es mit sich, daß sowohl Staaten als Individuen zu allen Zeiten darnach trachteten, denselben entweder zu mildern oder vollständig zu beseitigen. Wir meinen hier nicht die sozialistischen Denker oder Bewegungen, welche ja prinzipiell antimilitaristisch, friedensfreundlich sind, sondern diejenigen Bestrebungen, welche prinzipiell und besonders nur dem Antimilitarismus zum Siege.
Als solchen finden wir ihn vornehmlich in dem ganz falschen Vorstoß nach der Richtung der Erweiterung des Staatsrechtes hin. Schon im Altertum finden wir solche Tendenzen des Antimilitarismus, wie sie sich ausdrücken in den verschiedenen Bündnissen und staatlichen Verträgen. Bis heute haben es die staatlichen Machtfaktoren und Repräsentanten nicht über diese Art des Antimilitarismus gebracht, wie uns die letzte Konferenz der Regierungen im Haag lehrte und bewies. Dieser Antimilitarismus ist mehr eine Präzisierung des Kriegsrechtes, als irgend eine Friedenstendenz.
Im Mittelalter war es die päpstliche Kirche, die die Tendenzen des Friedens aufnehmen wollte. Plötzlich erinnerte sie, so häufig die Verüberin bedauerlichster Glaubensverfolgung, sich an die Friedenspalme. Und wie so manches, was von Seite pfäffischer Religion und Kirche ausgeführt wird, häufig nur ein Spiel mit dem echten Volksglück bedeutet, so war es auch damals, als eine ganze Reihe von Päpsten sich als Schiedsrichter über Krieg und Frieden aufgeworfen sehen wollten. Ihnen handelte es sich nur um den Triumph der kirchlichen Gewalt über die weltliche der Fürsten oder des Staates schlechtweg. Lesen wir Gregor VII Ideengang in Brischar (Enzyklopädie der katholischen Theologie und Kirche) nach, so finden wir ja sofort, daß es sich um nichts handelte, als um den uns wohlbekannten Streit über die Oberhoheit und Herrschaft in weltlichen Dingen. Und in diesem Sinne der Demagogie müssen wir auch den sogenannten Treuga Dei (den Gottesfrieden, 1028-30) annehmen, welcher von dem Bischof von Aquitanien ausging und laut welchem ganz Frankreich einen unverbrüchlichen Frieden erklären sollte. Dieser "Gottesfrieden" war überdies von sehr kurzer Dauer, und das Interessanteste jener Periode bildet die Tatsache, daß sowohl der Kaiser wie die Päpste sich unentwegt damit brüsteten, die Schirmer des Weltfriedens zu sein.
Im Mittelalter war es vornehmlich ein Faktor, welcher vorbeugend gegenüber den Kriegsausbrüchen wirkte, soweit dieselben uns historisch als nicht stattgehabt bekannt sind. Es war dies die industriell-wirtschaftliche Städteorganisation des Hansabundes, von dem uns Herder ein solch glänzendes Bild entwarf. Von diesen Städtebündnissen eines noch ziemlich unabhängigen Bürgertums hing zum größten Teil das kriegerische Aufgebot ab, dessen die Fürsten und die Kaiser bedurften. Das internationale Element der wirtschaftlichen Interessen Vereinigung war es, welches natürlich sein Interessenmotiv des Friedens demjenigen des Herrschertums entgegensetzte.
Was wir bis jetzt gesehen haben, waren mehr oder weniger nationalistische Friedensbestrebungen. Aber man erkannte sehr bald, daß dieselben allerdings, selbst wenn ausgeführt, ungenügend wären. Der Gedanke an eine internationale Aktion erstand zuerst in dem Scholastiker Franz Suarez , der im Frankreich des 16. Jahrhunderts wirkte. Seine Hauptbedeutung liegt darin, daß er die Idee des Völkerrechtes begriff und an ihr anknüpfte. Als Grundlage der Menschheit erkannte er die Gleichberechtigung aller Völker an. Aber er irrte, wenn er, anstatt nun logisch zu folgern, wer es denn eigentlich sei, der störend in dieses Völkerrecht eingriff, nach einer Erweiterung der Rechtsbeziehungen der Völker auf Grundlage der Staaten trachtete.
Als nächsten finden wir den Humanisten Hugo de Groot, durch dessen Werk über "Kriegs- und Friedensrecht" die hauptsächlichsten Phasen des Problems klar beleuchtet wurden. Vielleicht ist dieses Werk gerade deshalb so durchsetzt von neuartigen Gedanken zugunsten des Friedens, weil sein Verfasser als geächteter Flüchtling sich einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe zu entziehen hatte. In Deutschland selbst wurden diese Gedanken, die in deutschen Gauen durch Kant ihren philosophischen Höhepunkt erreichten, damals durch Pufendorf etabliert, der in die Fußtapfen von de Groot trat.
Kaltenborn und der Freiherr v. Gagern wären als nächste zu nennen. Vornehmlich ist es wichtig, die Art der Auffassung des ersteren kennen zu lernen. Er zergliedert das Individuum in zwei Teile: es gibt für ihn ein subjektives und objektives Gefühl, das erstere bildet die Persönlichkeit des Menschen an und für sich, das letztere sind die Beziehungen, welche die Persönlichkeiten zu einander hegen, somit im abstrakten Sinn die Gemeinschaft. Kaltenborn behauptet ausdrücklich, daß der Staat nicht das Höchste im Gemeinwesen ist; der Staat sei nur eine Einheit in dem großen Ring der Völker- und Staatengemeinschaft, und dieses daraus hervorgehende Völkerrecht bildet die Macht über den einzelnen Staat, der sowohl das Recht des einzelnen Individuums achten, wie auch das aller — also das Völkerrecht — unangetastet belassen solle; für ihn wäre es wichtig, daß diese internationale Rechtsgemeinschaft der Völker irgend einOrgan konstituieren sollte, dementsprechend die Friedens- und Kriegsprobleme geregelt werden könnten, sebstredend zugunsten des ersteren.
"Die Pflege der internationalen Gemeinschaft als Aufgabe des Völkerrechtes" — sehr richtig erklärt Robert v. Mohl dies als die zweckdienlichste Methode der Förderung des Friedensgedankens. Mohl erblickt in der Unfähigkeit des Einzelnen, sich gegenüber der Gesamtheit, somit auch der Unmöglichkeit des Staates, sich gegenüber den Staaten zu behaupten, das treibende Motiv der Internationalisierung aller Rechtsfaktoren. So zerlegt er das Problem in folgende Teile: erstens handelt es sich um die Förderung staatlicher Zwecke, zweitens um jene gesellschaftlicher Natur, auf welche erst diejenigen des Individuums folgen. Hier beobachten wir einen ganz eminenten Fehlschluß, welcher Mohl in der Problemstellung unterlaufen. Die Reihenfolge der Notwendigkeit in der Förderung der Probleme, um welche es sich handelt, ist nämlich gerade umgekehrt. Mit der Förderung der Interessen des Einzelwesens ergibt sich die Hebung des Interessenniveaus Aller—und dann erhebt sich wieder das als ein dräuender Fels, dessen Beseitigung, wegen Gefährdung der vorgenannten Interessensphären, Mohl niemals logisch ins Auge fassen konnte, weil er zu befangen war in dem Irrwahn an die unumgängliche Notwendigkeit des Staates für das Völkerleben.
In allen diesen Vorkämpfern des Friedensgedankens können wir Männer erblicken, die. in klarer Erkenntnis der Entsetzlichkeit eines jeden Krieges, es wohl zu würdigen verstanden, was die völkerrechtlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Nationen für die Verhütung eines Krieges zu tun vermochten, aber in Ermangelung derjenigen Erkenntnis strandeten, die seit John Stuart Mill Allgemeingut des klarsehenden Teiles der Menschheit geworden : daß es nämlich einen großen Unterschied zwischen dem Wesen des Staates und jenem der Gesellschaft gibt. In allen, die wir bislang kennen gelernt haben, finden wir ein unbestimmtes, ungewisses Tappen und Schwanken, ja manchmal eine solche Identifizierung des Staates mit dem Völkerrecht, daß es ganz augenscheinlich ist, daß die betreffenden Denker dieses meinen, wenn sie von ihm, dem Staate, sprechen. Es ist dies ihr großer, verhängnisvoller Irrtum, an dem sie kranken und dem sie in historischer Betrachtung zum Opfer, weil überholt, fallen.
Gehen wir nun über zu jenen Bestrebungen, welche nicht nur auf eine Erweiterung des Völkerrechtes oder eine solche des Staatenrechtes abzielten, sondern einen unverbrüchlichen Völkerfrieden, den "ewigen Frieden" anztreben, so tritt uns als einer der ersten im Jahre 1713 der bekannte fransösische Abbe von St. Pierre, Charles Jerome Chastel. mit seinem „Plan für einen ewigen Frieden" entgegen. Seine Schrift hatte insofern Erfolg, als sie großes Aufsehen erregte, in alle lebenden Sprachen übersetzt wurde und selbst noch 80 Jahre später, in den Stürmen der großen Revolution, die Gemüter beeinflußte.
Als nächsten können wir den bahnbrechendsten der älteren neuzeitlichen Philosophen, Imanuel Kant, begrüßen, welcher einen wohl- und gründlich ausgearbeiteten, republikanischen Entwurf zugunsten des Weltfriedens verfaßte. Kant besaß den Edelmut des Geistes, das Problem scharf anzufassen; wie sehr er unter den üblichen falschen Vorstellungen litt, geht zum Beispiel aus folgendem Satz hervor, den er schreibt: "... Er (der Staat) ist eine Gesellschaft von Menschen, über die Niemand anders, als er selbst zu gebieten und zu disponieren hat."
Wenn wir auf den Kern dieses Satzes eingehen, sehen wir sofort, daß Kant unter dem Begriff des Staates denjenigen des gesellschaftlichen Verbandes auffaßte, was naturgemäß falsch ist, denn der Staat ist ein für sich bestehender, mit dem produktiven, geistigen und intimen Lebenswalten des Volkes nichts gemein habender Verband einzelner Individuen, die nur insofern mit dem Völkerleben in Verbindung gebracht werden können, als sie in das Leben und freiwaltende Tun des Volkes hemmend, gebietend und fordernd eingreifen und dasselbe mit mehr oder minderer Gewalt beeinflussen. So können wir denn sehr wohl annehmen, wie uns die gesamte Ethik Kants dies als positiv zu glauben, noch weit mehr berechtigt, daß der Philosoph mit seinem Satze: "Das Völkerrecht soll auf einem Föderalismus freier Staaten gegründet sein," eigentlich zu sagen vermeinte, dieses solle sich auf einem Föderalismus freier Volksgemeinschaften gründen.
Zwei außerordentlich bedeutende Vorkämpfer der Friedensideen und des grundsätzlichen Antimilitarismus sind die zwei Amerikaner William Lloyd Garrison und Elihu Burret. Ersterer ist bekannter als letzterer, diesem an Bedeutung auch in jeder Hinsicht überlegen. Für Garrison erweiterte sich das Problem des Antimilitarismus zu einem folgerichtigen der Antistaatlichkeit. Burret wieder kann von uns in bedingter Form als Vorläufer Tolstois aufgefaßt werden. In ihm können wir die mutvolle Autodidaktenkraft des Proletariers verehren. Ein Grobschmied von Beruf, war er schon als zwanzigjähriger Jüngling ein Vorkämpfer des Friedensgedankens, fußend auf den Lehren des reinen, von keinem kirchlichen Dogma getrübten Evangeliums. Wiewohl diese seine Religiosität manchen Gedanken nicht in voller Wehr- und Rüstungskraft hervortreten ließ, so sind die Schriften von Burret doch außerordentlich liebenswürdig und durchhaucht von einem humanen Geist echter Gesittung. Es ist schade, daß die meisten von uns die "Funken vom Amboß" oder die "Olivenblätter" nicht kennen. Wir gelangen nun zu jener Propaganda des Friedensgedankens, welche aus dem Bereiche einzelner Persönlichkeiten heraustritt und von größeren Massen getragen wird; den bedeutendsten Anstoß hierzu gaben Elihu Burrit durch sein europäisches Wirken, neben ihm Cobden, Swedenborg, der Graf Cellon, und es entstanden seit 1847 die internationalen Friedenskongresse.
Als diejenige Bewegung, welche es erkannte, wenigstens instinktiv fühlte, daß der Friedensgedanke Hand in Hand gehen müsse mit der nachdrücklichsten Bekämpfung der menschlichen Unfreiheit, daß der wahre, echte Friede nur im Wesen der Freiheit wurzelt, können wir die auch sonst historisch keineswegs unwichtige "Internationale Friedens- und Freiheitsliga" anführen, welche Liga jenen Satz von Kant, den wir oben zitierten, schon in unserem Sinne gebrauchte.
Allein auch sie schwankte zwischen ungeklärten Begriffen hin und her und kann höchstens als eine direkte Vorläuferin - der Wortlaut ihres Programms verstößt in keiner Weise gegen dasjenige der letzteren - der modernen Sozialdemokratie auf antimilitaristischem Gebiete betrachtet werden. Diese strebt durch die Eroberung der Staatsgewalt die Umwandlung des stehenden Heeres in eine Miliz um, ist somit nicht prinzipiell antimilitaristisch.
So sind wir denn zum Schlüsse dieser flüchtigen historischen Skizze gelangt, denn die Friedensbestrebungen unserer Tage sind uns ja bekannt. (Siehe Heft 37 u. 143 dies. Sammig. von A. H. Fried.) Uns verbleibt nur, ein kurzes Resüme zu ziehen, damit wir es klar und deutlich erkennen sollen, wo sie an Klarheit der Kampfesrichtung nachgeben, wo sie sich auf den Pfad totaler Unfähigkeit begeben und wo sie unfruchtbar in ihrem Streben sein mußten; endlich, wo wir es sind, die das Erbe antreten und den Antimilitarismus zu seinem logischen Endziel und praktischen Konklusionen geleiten.
Alle die vorgenannten Tendenzen des Antimilitarismus appellierten mehr oder minder an den Staat. Er sollte Frieden stiften, sie würden ihm dabei behülflich sein. Hier finden wir ihren verhängnisvollen Kniefall: sie begriffen den Staat nicht, sie sahen nicht klar genug das historische Wirken des Staates. In ihren gedanklichen Vorstellungen identifizierten sie den Staat mit der Gesellschaft; sahen das Gesellschaftsbild etwa so: auf der einen Seite den Staat, auf der anderen das Individuum; und dieses letztere müßte nur gründlich darüber nachsinnen, ein recht gutes Projekt entwerfen, damit der Staat es sofort und mit Freuden akzeptieren und vollbringen sollte! So dachten sie. Mit weit größerer Berechtigung als man es den großen Utopisten des Sozialismus unterstellt — welche in ihrem Auftreten stets die direkte, selbständige Betätigung empfahlen! —, solche zu sein, verdienen sie den Namen "Utopisten" — denn sie vermeinten, daß der Staat ihnen zur Realisation ihrer edlen Pläne behilflich sein würde. Sie wußten nicht, daß es eben der Staat selbst ist, zu dessen Lebenszweck es mit gehört: einzugreifen in das Leben des Individuums und in weiterem Umfange einzugreifen in das Leben der Gesellschaften; kurz, daß das Staatsrecht, richtiger: die Staatsmacht stets das Völkerrecht vernichtet — und nichts anderes bedeutet der Krieg als eine Vernichtung des Völkerrechtes zugunsten der herrschenden Gewalt.
Damit aber schließt diese utopistische Entwicklungsphase des Antimilitarismus. Die heutigen Nachzügler haben den Ernst, die ehrliche Überzeugungstreue der Vorläufer verloren. Sie durchschauen bereits den Irrtum der Vorläufer, doch sie wagen es nicht, angesichts der Macht des Staates, und im Hinblick auf die Bequemlichkeit ihrer Existenzen, die logisch gezogenen. Konklusionen laut zu verkünden. Erst mit dem Auftreten anarchistischer Lehren begann eine neue Phase des Antimilitarismus und in dieser Phase seiner Entwicklung wird er zur Taktik dieser Bewegung, die bekanntermaßen am konsequentesten die Verdrängung jeder militärischen Macht innerhalb des gesellschaftlichen Lebens anstrebt und, da eine jede Staatsorganisation ihre Grundlage nur mittels militärischer Macht zu stützen vermag, vor allem für die Verdrängung der öffentlichen Gewalt, für die Verminderung und Einschränkung der Machtbefugnisse des Staates eintritt. Mit dem Zusammenbruche des Staates bricht nach der Anschauung des die Herrschaftslosigkeit im politischen Leben erstrebenden Anarchismus der Militarismus zusammen; der Militarismus ohne Staat ist ihm eine soziale und technische Unmöglichkeit!
Verlag: Felix Dietrich, Gautzsch bei Leipzig, Kregelstraße 5.
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